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Kirschblütenfest

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11.07.2021
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Kirschblütenfest

“So macht es sich doch bezahlt, dass ich mir noch kurzentschlossen bei aldi ein E-Bike gekauft habe”, denke ich und sehe zufrieden die neidischen Blicke der Anderen, an denen ich auf der Kynaststraße, die nach der Sanierung vom Ostkreuz zu einem steilen Berg geworden ist, vorbeiziehe. Sonst muss ich hier immer absteigen und schieben, was peinlich ist.

Die junge Verkäuferin, die von unten bis oben tätowiert war - “Vielleicht steht ja ihr Typ darauf”, denke ich - nahm meinen Fünfhundertmarkschein, ohne mit der Wimper zu zucken an und gab mir einen Euro raus. “Was ist los? Ansonsten kratzen sie doch immer darauf rum” dachte ich. Einmal bei rewe wurde sogar der Verkaufsstellenleiter gerufen. Von diesen Scheinen, die meine eiserne Reserve bilden, hatte ich noch zwei im Strumpf zu stecken.

Nachdem ich die Fußgängerbrücke zum Treptower Park überquert habe, fahre ich unter der Unterführung von der Elsenbrücke durch. Hier haben sich zwei Männer wohnlich eingerichtet. Jeden Morgen, wenn ich vorbeifahre, sind sie noch in tiefen Schlaf versunken. Ich nehme mir vor, ihnen ab und zu etwas von dem Bäcker, bei dem ich mir morgens immer ein belegtes Brötchen hole, mitzubringen. Damit rette ich sie auch nicht, wie ich weiß, ist aber eine kleine Geste.

Am nächsten Tag lege ich eine Tüte mit Croissants vor ihr Lager. Es war heute Nacht sehr frisch. Leben die beiden überhaupt noch? Unter den Decken regt sich nichts. “Warum füllen sie nicht ein paar Papiere aus? Dann bekommen sie Hartz 4 und können sich auch eine Hütte leisten und brauchen nicht mehr hier zu pennen. Dann müssen sie aber auch zum Bewerbungstraining”, geht es mir durch den Kopf.

“Ich habe da was für sie”, hatte meine Bearbeiterin im Jobcenter zu mir gesagt und schob mir einen Flyer zu. Acht Wochen Bewerbungstraining las ich. Die Zahl Acht haute mich erst Mal um. Na ja, zum Glück war das noch ein paar Wochen hin, und man konnte das auf sich zukommen lassen.

Eigentlich sollte ich schon vor zwei Wochen zu diesem Bewerbungstraining kommen. Ich war aber an dem Morgen in so einem schlechten Zustand, dass ich anrief und um einen anderen Termin bat. Bei mir ging gar nichts mehr. Ich dachte schon an Totalverweigerung und rechnete mir aus, wieweit ich mit einer Kürzung kommen würde. “Können sie eigentlich auch alles streichen und wie lange?”, fragte ich mich. Es kam anders. Am anderen Ende der Leitung war man sogar froh darüber, denn es waren sowieso zu viele Teilnehmer geschickt worden und bestellte mich vierzehn Tage später.

In Kürze* wird der Flughafen “Willy Brandt” eröffnet. Die Zeitungen sind voll davon. Es wird stolz davon berichtet, dass Bosch oder war es Siemens eine völlig neuartige Entrauchungsanlage eingebaut hat. Ich bin skeptisch und denke bei mir: “Warum müssen sie alles immer verändern, was ich schon seit Ewigkeiten bewährt hat. Man baut ja auch keine dreibeinigen Stühle, weil man dafür weniger Material benötigt. In der Nähe von meinem Heimatdorf hatte man beim Autobahnbau auch eine Menge Material und Zeit eingespart. Dafür sackte die Fahrbahn nach einer Weile ab, es bildete sich ein Krater, und der Verkehr musste jahrelang umgeleitet werden.

Beim Bewerbungstraining fragen sie mich: “Was halten sie davon, wenn sie am Flughafen arbeiten? Dort werden jetzt jede Menge Leute gesucht.” Ich fühle wenig Begeisterung bei dem Gedanken, jeden Tag nach Schönefeld zu fahren. Nach einer Weile ist keine Rede mehr davon. Jetzt steht groß in den Zeitungen, dass die Flughafeneröffnung noch für viele Jahre auf Eis liegt. Die Entrauchungsanlage hat den Sicherheitstest nicht bestanden. Und das ist nicht das einzige Problem. Alles wird erst Mal abgeblasen, und Tegel bleibt offen. “Niemand hat vor, einen Flughafen zu errichten”, sagt Bushido im Fernsehen. Ich muss lachen, obwohl er mir noch nie geheuer war.

Ich fahre, bzw. werde von meinem E-bike gefahren, unter einer Kirschbaumallee durch. Auf einer Tafel lese ich, dass sie ein Geschenk der Japaner, wo die Kirschblüte jedes Jahr groß gefeiert wird, an Berlin war. An jedem Tag, an dem ich dort vorbeikomme, öffnen sich die Knospen ein bisschen mehr. Am Ende der acht Wochen sind alle Zweige mit roten Blüten übersäht. “Viel zu schön für die Welt”, denke ich jeden Morgen und fahre weiter in Richtung Bewerbungstraining.

Zum Glück stellte sich gleich zu Anfang heraus, dass es nicht so wild war. Die anderthalbstündige Einführungsveranstaltung war fast zu Ende, da klopfte es, und die Augen aller richteten sich zur Tür. Ein Nachzügler, ein Mann aus Jugoslawien, trat ein. Auf seiner Einladung hatte die falsche Uhrzeit gestanden. Danach konnten wir uns in dem weitläufigen Gebäude einen Raum suchen und dort vor dem Computer surfen. Zuerst sitze ich in der oberen Etage zwischen lauter Arabern, die alle Webseiten aus ihrer Heimat aufgerufen haben.

“Komm mit mir mit”, sagt Zoran, der nette junge Mann, der vorher neben mir saß, und der eigentlich mehr aussieht wie ein Junge. Er erinnerte mich vom Äußeren sehr an Geoffrey aus "Bitterer Honig", einem englischen Film, in dem es um Freundschaft geht. Er hat in einem der unteren Lehrräume einen ruhigen Platz gefunden. Zu uns stoßen nach und nach auch noch die anderen Bleichgesichter aus der Einführungsveranstaltung. Dabei sind ein Intellektuellentyp aus Kreuzberg, ein Student, mein neuer Freund Zoran und dann noch der Jugoslawe, auf dessen Einladung die falsche Uhrzeit stand, und der deshalb erst kurz vor Ende kam. Wir fünf hatten uns unter den ganzen dunkelhaarigen Männern aus dem arabischen Raum ganz verloren gefühlt. “Ist ja kein Wunder. Wir sind ja hier in Kreuzberg.” denke ich.

Auf dem Cottbuser Damm, den ich ein Stück entlangfahren musste, hatte ich auch das erste Mal verhüllte Frauen gesehen, die über dem Sehschlitz noch einen durchsichtigen Schleier trugen. So was kannte ich bis dahin nur aus Dokumentationen über Afghanistan. “Das ist ja gefährlich. Wie machen die das bloß auf der Straße?”, denke ich. Mir fällt ein, dass der Tierarzt aus unserem Dorf, der mit seiner Familie zu DDR Zeiten ein paar Jahre in Algerien gearbeitet hat, erzählt hat, dass dort öfter verschleierte Frauen unter ein Auto kamen, weil ihr Blickwinkel zu eingeschränkt war.

Der Künstlertyp aus Kreuzberg, der Skulpturen schnitzt, berichtet, dass jedes Mal, wenn er für Ausstellungen Ankündigungen klebt, der “Kratzer” in Aktion tritt. Das ist ein verwirrter Mann, der alle Plakate von den Wänden kratzt und die Veranstalter in Angst und Schrecken versetzt. Warum, weiß er wohl selber nicht. Eines Tages sehe ich hier an der Plakatwand in der Revaler Straße ein dürres Männlein wild mit einem Messer an der Wand werkeln. “Das ist der “Kratzer”, denke ich. Scheinbar traut sich keiner, ihm auf die Finger zu kloppen.

Der Student unter uns ist ebenfalls in einer prekären Lage. Sein Studium hatte er geschmissen, und das Jobcenter zahlt ihm ständig sein Geld zu spät aus, weil er einen Nebenjob hat und jeden Monat neu die Abrechnung einreichen muss, was zu Verzögerungen führt. Auch diesen Monat hat er noch kein Geld bekommen, und musste seinen Vermieter um Aufschub bitten. “Hast du eine Freundin?”, frage ich ihn. “Nein”, antwortet er mir. Das hatte ich mir gedacht. Wenn es beruflich Probleme gibt, gibt es meist in der Liebe auch Schwierigkeiten.

Er scheint auch allein und nicht vom Glück begünstigt zu sein, aber sieht gar nicht, dass zwischen Zoran, mir, ihm, dem Kreuzberger Künstler und dem Jugoslawen, eine Freundschaft im Entstehen begriffen ist, obwohl wir fünf total unterschiedlich sind. Die Leute machen immer ein Heck-Meck um die Liebe. Ich habe mal irgendwo den Satz gelesen: “Was ist schon so besonderes an einem Gefühl, bei dem einem alle anderen Menschen gleichgültig sind?” Das ist eine genialer Spruch.
Der beste Film über die Freundschaft ist meiner Meinung nach "Es war einmal in Amerika". Wem bleibt nicht die Spucke weg, wenn sich rausstellt, dass der eine seinem besten Freund das Leben zerstört hat, eigentlich sollte er ja sogar draufgehen, und auch noch dessen Frau geheiratet hat.

Der Holzbildhauer zeigt mir Fotos von Skulpturen von ihm, die in einem Park in Kreuzberg stehen. Man sieht, dass er sehr begabt ist. Seine Arbeiten, große Objekte, erinnern an Stalaktiten oder Basaltgestein. Er erzählt, dass er in diesem Park einen Ein-Euro-Job hatte, im Winter, wo natürlich nicht viel Arbeit anfiel. Die anderen rauchten oder gingen in die Kneipe. Er langweilte sich und verfiel auf die Idee, aus den Kisten, die in einer Ecke gestapelt waren, etwas zu bauen. Seine Kollegen lachten über ihn, aber ließen ihn machen.

“Ich habe lange Zeit bei meiner Freundin in Irland gelebt”, erzählt er mir. Nachdem sie sich in einen Landsmann verliebte, und ihn verließ, kam er wieder in seine Heimatstadt Berlin zurück. “Wovon hast du denn in Irland gelebt?”, frage ich ihn. “Der einzige Konsum im Ort hat mir meine Sozialhilfe ausgezahlt.” Ich staune, dass so was geht.

Ich unterhalte mich mit dem Studenten. “Was sind das bloß für Leute, die morgens, in der Kälte immer an einem vorbeijoggen?“, frage ich. “Das sind die sogenannten kreativen Berufe”, erwidert er. Jeden Morgen, wenn ich missmutig und verfroren auf dem Fahrrad an ihnen vorbeifuhr, konnte ich darüber nur mit dem Kopf schütteln. “Ob ihnen das wirklich was bringt? Sie schlucken einen Haufen Abgase. Außerdem liest man jetzt auch soviel über Überfälle auf Jogger*innen”, dachte ich.

Zu uns gesellt sich auch noch ein junger Türke. Er ist noch nicht lange in Freiheit. “Meine Frau hat mich im Abschiebeknast geheiratet”, erzählt er. “Was wäre passiert, wenn sie dich abgeschoben hätten?”, frage ich ihn. “Dann hätte ich in der Türkei in die Armee gemusst.” Fünf Jahre hatte er abgemacht. “Solche langen Haftstrafen geben sie nicht von ungefähr”, geht es mir durch den Kopf. Er wirkt offen und gutmütig, muss aber noch eine andere Seite besitzen. “Hoffentlich bekommt er die Biege und gerät nicht irgendwann in eine der Schießereien zwischen Clanmitgliedern, von denen die Zeitungen oft berichten”, denke ich.

Er hat aber gute Vorsätze. “Seit ich verheiratet bin, habe ich ganz schön zugenommen”, sagt er zu mir. Ich erwidere: “Bei uns im Dorf sind die jungen Männer, die geheiratet haben, auch immer dick geworden." Als Kind habe ich mich darüber gewundert, dass sie, die ich vorher als gutaussehende, schlanke Burschen kannte, jedes Mal, wenn sie zu Besuch kamen und mit Frau und Kind aus dem Auto stiegen, immer ein bisschen mehr zugenommen hatten.

“Hüzün, sagt dir das was?”, frage ich ihn. Ich hatte gerade in einem Zeitungsartikel davon gelesen. “Es heißt Hüsun”, verbessert er mich, wobei er das z wie ein s ausspricht. “Na klar kenne ich das”, erwidert er mir. “Das sagen wir Türken, wenn uns die Melancholie gepackt hat.” Aus dem Tonfall, in dem er das sagt, kann man herauslesen, dass er schon öfter Hüzün hatte, besonders oft wohl in den fünf Jahren, die er hinter den Mauern der Kasematten verbrachte.

"Gestern war ich bei einem Konzert." erzählt er. "Rapmusik?", frage ich. "Ein Sänger namens Haftbefehl soll ja da die Charts anführen." "Kein Rap, türkische Musik", erwidert er mir. "Ich kenne eigentlich gar keine türkische Musik", fällt mir auf.
Es geht mal wieder ein Femizid durch die Presse. Ein Bruder hat seine Schwester umgebracht, weil sie einen Freund hatte. "Was hättest du gemacht, wenn das deine Schwester gewesen wäre?", fragen zwei deutsche Frauen ihn. Er antwortet: "Na ja, vielleicht hätte ich sie nicht gleich umgebracht, aber...". Vorher hatte er mir noch erzählt, dass er, bevor er geheiratet hat, öfter Freundinnen gehabt hat.

Jemand zeigt mir eine Website, auf der man die neuesten Kinofilme sehen kann. Ist natürlich illegal. So sehe ich endlich mal “Kriegerin”, einen Film über den man zur Zeit viel spricht. Es ist schon eigenartig, dass es in dem besten Film über aufmüpfige Frauen seit langem ausgerechnet um Skin-Mädchen geht.

Irgendwie kann ich mich mit Marisa, die auch vom Dorf kommt und allein bei ihrer Mutter aufgewachsen ist, identifizieren. Natürlich nicht mit der Naziideologie. Schon bei einem Film über Beate Zschäpe fiel mir auf, dass wir uns beide eigentlich nicht so viel nehmen. Besonders die Szene in der Küche, wo sie und ihre Mutter sich beschimpfen und fast prügeln, kam mir sehr vertraut vor.

Auch in der Freundin von Marisa, dem Neuzugang Svenja, erkannte ich mich wieder. Um bei den Skins aufgenommen zu werden, täuschte sie einem von ihnen eine Zuneigung vor, die sie gar nicht fühlte. So ähnlich hatte ich es auch gemacht, um bei den Bluesern in Berlin Anschluss zu finden, woran mir sehr viel lag. Natürlich nahm derjenige mir das ziemlich übel. Das ist wohl eine Vorgehensweise, die viele Mädchen anwenden oder anwenden müssen. Um zu den, meist männlich dominierten, Gruppen Zugang zu finden und in ihre Aktivitäten mit eingebunden zu werden, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig.

Mädchen, die in rein matriarchalischen Strukturen aufgewachsen sind, zieht es wohl später in Jungscliquen. Damit will man das Vakuum Vater ausfüllen. Auch ich hatte mal zwei Freunde nebeneinander, die Uwe hießen, beide langhaarige Hippies. Auch ich war immer wunschlos glücklich, wenn ich mit einem Haufen Typen durch die Gegend ziehen konnte. Vielleicht sind sowohl die “Kriegerin”, Beate Zschäpe und ich, jede auf unsere Art gescheitert.

“Kennst du das Flughafenfeld Tempelhof? Es ist nicht weit von hier.” Ich folge meinem neuen Kumpel Zoran, der übrigens slowenische Wurzeln hat. Ich hatte mich erst verhört und Slowakei verstanden. Von Slowenien, ein Staat des ehemaligen Jugoslawiens, hatte ich noch nie etwas gehört. Man lernt nie aus.

Zoran hat es nicht einfach. Er lebt mit seiner alkoholkranken Mutter zusammen und hat wohl so was ähnliches wie eine Lernbehinderung. In seine Schule in Kreuzberg gingen viele arabische und türkische Jugendliche, die natürlich deutlich anders aussahen und zusammenhielten.

“Kennst du das Willy Brandt Haus. Dort habe ich als Kind immer gespielt.” Ich, die eigentlich mit Kreuzberg nichts im Sinn hatte, hatte dieses Gebäude zufällig während eines Projekts kennengelernt, als ich Fotos von der Wilhelmstraße, die ganz in der Nähe war, machen musste. Als ich den rostigen Würfel sah, klingelte es bei mir. Da war doch was mit SPD Leitzentrale. Davon hatte ich in der zitty gelesen.

Auf dem Columbiadamm kommen wir an einer riesigen Moschee vorbei, über die ich auch schon was gehört hatte. Ich wundere mich, dass am Vormittag so viele junge Männer auf dem Gelände sind.

Wir werden in der Hasenheide von Drogenhändlern bestürmt. Zu einem, der sichtbar ist, gehören scheinbar noch immer mindestens zehn, die sich im Gebüsch versteckt halten. Weiter hinten wird alles für die Neukölner Maientage aufgebaut, einem jährlichen Volksfest. Zoran und ich sehen dabei zu, wie die riesigen Karussells mit Kränen zusammengesetzt werden.

Endlich erblicken wir das Flughafenfeld Tempelhof. Bei mir ist es Liebe auf den ersten Blick. So eine riesengroße, weite, freie Fläche. Und das in Berlin. Ich hatte schon viel davon gelesen, aber so genial hätte ich mir das nicht vorgestellt. Vorhin, bei Karstadt am Hermannplatz, der nicht weit weg ist, hatte mich fast eine Panikattacke überkommen, weil mir hier alles einfach zu dicht gedrängt war. Mit dem Fahrrad kam man weder auf der Straße noch auf dem Bürgersteig voran. Und jetzt dieses Labsal für die Seele. Meine Nerven klinken sich gleich wieder ein und von Panik keine Spur mehr.

Zu Panikattacken neige ich übrigens erst, seit ich vor ein paar Jahren bei einer Party mal, ohne es zu wissen, Kuchen mit was drin gegessen habe. Ich glaub, ich brauche hier nicht näher zu erläutern, was das war. Ich wunderte mich über das Hungergefühl und aß noch ein Stück Kuchen. Danach wäre ich fast gestorben. Auch wenn es ich komisch anhört, ich dachte sogar, ich bin schon tot.

“Erlkönig hat mir ein Leids getan”, ging mir ausgerechnet ein Goethezitat im Kopf rum, als ich langsam spürte, wie mir die Sinne schwanden. Merkwürdigerweise sah ich ein Haus aus unserm Dorf vor mir, in dem meine Kinderfrau wohnte. Das war auf dem Heimweg auf der Warschauer Straße, einer sogenannten Partymeile. Um mich herum feierten junge Touristen. Vor gar nicht langer Zeit ist im Berghain eine junge Frau an Extasy gestorben. Schuld daran tragen wohl auch die Leute aus dem Club, die zu spät die Rettung riefen, weil sie Ärger befürchteten.

Ich kam mehr tot als lebendig zu Hause an. Ich hoffte auf den Zeitfaktor, da ich aus “Die Kinder vom Bahnhof Zoo” wusste, dass die Wirkung von Drogen immer nur eine gewisse Zeit anhält. Selber hatte ich noch nie mit solchen Substanzen Erfahrungen gemacht. Nach einer Weile ging es mir halbwegs besser. Aber um Psychopharmaka kam ich nicht herum.

Ein paar Monate musste ich Tabletten schlucken. Damals hatte ich ja vor der Bratpfanne auf dem Herd Angst. Im Internet lernte ich Leidensgefährten kennen. Als ich die Tabletten langsam ausschleichen sollte, wachte ich eines Nachts auf und wollte unbedingt von der Brücke springen. Es kann hilfreich sein, alberne Sätze wie z.B. "Der Mond ist schon voll, ich will es auch sein" in solchen Situationen endlos im Kopf zu wiederholen, hatte ich gelesen.

Jetzt habe ich einen abartigen Hass gegen sogenannte “weiche” Drogen, und mir läuft jedes Mal ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich Joints rieche. Ich bin auch gegen die Cannabislegalisierung. Mein Freund, der gläubig ist, sagt: “Gott hat dir eine Prüfung geschickt.” Vielleicht hat er recht. Durch solche Aktionen verliert man jegliche Vorurteile gegen andere.

Ich bin der Meinung, dass eine Vielzahl der Depressionen und Psychosen auf diese Stoffe, die so verharmlost werden, zurückgeht. Ich habe mal gehört, wie Wim Wenders erzählt hat, dass er schon drei Mal eine Nahtoderfahrung hatte. Das dritte Mal habe ich vergessen, aber das erste Mal war, als er als Kind in den Fluss fiel, und das zweite Mal wachte er, nachdem er unwissentlich Haschkekse gegessen hatte, auf der Intensivstation auf und fand sich an Schläuchen und Apparaten angeschlossen wieder.

Zoran und ich kommen mit einem jungen Mann ins Gespräch, der dort seine Drachen steigen lässt. “Möchtet ihr auch mal ziehen?”, fragt er und hält mir seinen Joint hin. Da ist er an die Richtige geraten. “Nein danke”, erwidere ich frostig. “Stell dir vor”, sagt er zu mir. “Zuerst habe ich gegen die Abwicklung des Flughafens demonstriert, und jetzt demonstriere ich gegen die Bebauung.” “Was stört dich denn an ein paar Häusern und Bäumen?” frage ich ihn. “Dadurch wird die Thermik verändert, und die Drachen fliegen nicht mehr so gut.” Ich muss ihm recht geben. Als ich mal im Sommer unter der sengenden Sonne auf dem Tempelhofer Flugfeld war, wehte dort ein frisches Lüftchen, und es war sehr angenehm, obwohl weit und breit kein schattiges Plätzchen war. Da wurde mir klar, was er mit Thermik meinte.

Scheinbar bin ich mit meiner Liebe zu Tempelhof nicht allein, denn die Berliner haben sich gegen eine Bebauung entschieden. Ich bin natürlich auch zur Abstimmung gegangen.

Am letzten Tag schreibt mir unser Dozent einen neuen Lebenslauf und eine neue Bewerbung. Den Lebenslauf rollt er von vorne nach hinten auf, so dass er mit dem heutigen Datum anfängt. Das ist jetzt angeblich modern. Er hat in seinem Word Lehrgang gut aufgepasst und erstellt eine kunstvoll verschnörkelte Kopfzeile. Bei diesen Computerkursen ging mir immer alles in ein Ohr rein und aus dem andern wieder raus. Irgendwelche Spitzfindigkeiten, außer den Basics, hatte ich schlagartig vergessen.

In der Zeitung lese ich, dass jemand beim Drachensteigenlassen von einer Windböe erfasst und in die Höhe gehoben wurde. Ehe er abtrieb, gelang es ihm seinen Gurt durchzuschneiden, und er fiel aus einigen Metern Höhe auf das Tempelhofer Feld und brach sich einiges. Aber wer weiß, wo es ihn noch hin geweht hätte.

Zoran und ich hatten uns gar nicht richtig verabschiedet, da er am letzten Tag einen Termin beim Jobcenter hatte. Als ich an dem Abend den Fernseher anstellte, lief ausgerechnet "Bitterer Honig", den sie sonst alle hundert Jahre mal zeigen.

*Der BER wurde erst 2020 eröffnet, ein paar Jahre danach.

 

Hallo HK,
ich war mir nicht sicher, ob man rewe und aldi nicht doch klein schreiben kann. Ich habe das schon oft so gelesen. Du wunderst Dich, dass ich damals, 2012, das Tempelhofer Feld das erste Mal gesehen habe. Es ist aber auch erst 2010 eröffnet worden, und der nächste Weg ist das auch nicht für mich. Kreuzberg und Friedrichshain wurden zwar bei der Bezirksfusion vereinigt, aber eigentlich habe ich mit Kreuzberg nichts zu tun. Ich habe bloß in der zitty (habe ich auch oft kleingeschrieben gelesen) viel von dem Tempelhofer Flughafenfeld gelesen, hat mich aber eigentlich überhaupt nicht interessiert, bis ich es selbst kennengelernt habe und überwältigt war.
Ich werde den Text noch rechtschreibungsmäßig etwas korrigieren.
Gruß Frieda

 

Hallo @Frieda Kreuz,

Hier nur ein knapper Kommentar; hatte schon einen ausführlicheren geschrieben, aber das verdammte System hat den irgendwie ins Nirwana verschwinden lassen, und nochmal alles zu schreiben ist mir ehrlich gesagt zu doof. Im Kern gings darum, dass deine Texte oft wie Tagebucheinträge aus dem Alltag wirken, mit nur einem blassroten Faden und ohne echten Höhepunkt. In jedem Absatz reißt du die Geschichte eines interessanten Charakters an, führs sie aber nicht oder nur lapidar mit ein paar Nebensätzen zu Ende. Leider frustriert mich das. Du machst den Leser erst scharf, lässt dann aber jedes Mal die Luft raus. So habe ich leider ziemlich schnell vom Lesen zum Überfliegen gewechselt. Dabei steckt in jedem der angebrochenen Geschichten Potenzial.
Nix für ungut,
MD

 

Hallo @MorningDew,
danke für Deinen Kommentar. Ich verstehe schon, dass vielen bei der Geschichte vielleicht eine fließende Handlung fehlt. Aber bei diesem Bewerbungstraining habe ich die anderen auch nur oberflächlich kennengelernt und die meisten auch danach nicht mehr gesehen. Ich wollte bloß eine bestimmte Atmosphäre erschaffen: ein paar Wochen vor Ostern, die Natur erwacht (Kirschblüte) - war übrigens wirklich zu dieser Zeit, die beiden Obdachlosen, die unter der Brücke gepennt haben, an denen ich jeden Tag vorbeigeradelte, was mir zu denken gab - entspricht auch der Realität, genau wie alles andere. Dann die Leute, die aus verschiedenen Schichten kamen und verschiedene Nationalitäten hatten und wahrscheinlich die Möglichkeit einer Freundschaft, die sich am Entwickeln war, gar nicht wahrnahmen. Natürlich waren wir alle in prekären Lagen: Studium geschmissen, Knasterfahrung, Drogenerfahrung usw. Aber eigentlich war das eine interessante Zeit, hätte ich zu Anfang gar nicht vermutet. Gerade weil wir alle so unterschiedlich waren. Und außerdem habe ich das Flugfeld Tempelhof kennen- und liebengelernt, von dem ich vorher bloß was aus der Zeitung wusste.
Einen schönen Karfreitag wünscht Frieda

 
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Hallo @Frieda Kreuz,

überrascht mich wenig, dass deine Geschichten - oder sollte ich besser sagen: Berichte? - massiven autobiografischen Hintergrund haben. Damit ist auch nix verkehrt. Aber wenn ich dich richtig verstehe, ist alles, was du schreibst, auch eins zu eins so passiert. Dann sind das also wirklich Tagebucheinträge, aber eben nicht mehr. Ich sage nicht, dass alle Texte in diesem Forum fiktional sein oder immer einer bestimmten Struktur entsprechen müssen. Gott bewahre! Aber es wird hier doch erwartet, dass du als Autorin den Leser einen bestimmten Pfad entlang führst. Wo lang dieser verläuft oder ob er ein bestimmtes Ziel hat, lasse ich mal offen. Aber du solltest zumindest den Weg kennen, den du dem Leser zeigen möchtest. Ich habe bei dir aber den Eindruck, dass du beliebig durch die Gegend mäanderst. Ist wie der Unterschied zwischen einer geführten Stadttour für Touristen und jemandem, der in der selben Stadt für die eine Erledigung hierhin und für eine andere dorthin fährt und dabei zufällig mal in Sichtweite eines Wahrzeichens kommt. Die Leser sind Touristen in deiner Erzählwelt. Was meinst du wohl, wem von beiden sie lieber folgen?

Aber bei diesem Bewerbungstraining habe ich die anderen auch nur oberflächlich kennengelernt und die meisten auch danach nicht mehr gesehen.
Niemand erwartet doch, dass alles, was du schreibst, genauso geschehen sein muss. Ist schließlich ein Forum für fiktive Texte! Solche Alltagsbegegnungen können doch wunderbar als Inspiration für erdachte Protagonisten dienen, durch deren Augen du dem Leser wie durch eine Lupe eine bestimmte Gefühlswelt vermitteln kannst. Kannst ja trotzdem nah an der Realität bleiben. Schließlich sagte jemand mal: "Kunst ist eine Lüge, die die Wahrheit erzählt." ;-)
Ich wollte bloß eine bestimmte Atmosphäre erschaffen: ein paar Wochen vor Ostern, die Natur erwacht
Wäre ja ein guter Grund, eine Geschichte zu schreiben (schöne Naturbeschreibungen kann ich sogar ohne große Handlung genießen), aber warum legst du deine Schwerpunkte dann auf die Einzelpersonen, statt mehr auf Beschreibungen der Umwelt? Verfehlt das Ziel m.E.

VG
MD

 

Hallo @MorningDew ,
das Problem ist, dass mir Naturbeschreibungen nicht liegen. Ich wollte eigentlich mehr über die Jahreszeit schreiben, habe es aber absolut nicht hingekriegt. Bei mir müssen immer Menschen dabei sein. Außerdem gibt es über Kirschblüten schon massig Gedichte und Erzählungen von Leuten, die das besser können als ich. Wenn einem das poetische nicht liegt, sollte man es besser sein lassen, als es mit Gewalt zu versuchen. Das ist damals dachte, diese blühenden Bäume sind zu schöne für Berlin, muss reichen, denn so war es wirklich.
Gruß Frieda

 

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