Klare Sicht
1.
»Einen schönen Tag, mein Schatz. Bis heute Abend«, verabschiedet sich Claudia, seine Frau. Hermann Berger umarmt sie, gibt ihr einen flüchtigen Kuss und begibt sich zu der ausladenden Ausfahrt der neuen Villa. Er schaut auf seine Uhr, es wird wieder knapp, in nur einer halben Stunde muss er im Büro bei der Besprechung sein. Der Weg von seinem Vorort, bis in die Stadt dauert normalerweise alleine schon fünfundvierzig Minuten. Sie würden schon auf ihn warten, schließlich ist er der Star der Rechtsanwaltkanzlei. Er steigt in seinen neuen nachtschwarzen Porsche ein, dreht den Schlüssel um und gibt Gas. Der vierhundert PS starke Motor heult auf und erschreckt eine getigerte Katze, die im Garten des Nachbarn in der Morgensonne döste.
Als er vom Armaturenbrett aufblickt, sieht er seine Frau die Stufen des Hauses heruntereilen. Sie winkt ihm zu und hält Etwas in der anderen Hand. Durch das Brüllen des Motors versteht er zwar ihre Worte nicht, erkennt aber die kleine hellbraune Papiertüte, die er fast jeden Morgen vergisst. Diese enthält sein Mittagsessen. Von Claudia liebevoll zubereitet, leider nach einem cholesterinarmen Rezept: keine Mayonnaise, keine Fleischprodukte und folglich auch keinen Geschmack. Sie macht sich sorgen um seine Gesundheit, dafür ist er ihr sehr dankbar. Doch diesen Fraß würde er nicht mal anfassen wenn der Tod persönlich ihn zwingen würde.
Er kurbelt das Fahrerfenster herunter, nimmt in gespielter Dankbarkeit die Tüte entgegen, küsst seine Frau zum wiederholten Mal und rast gewohnheitsgemäß rückwärts aus der weitläufigen Ausfahrt.
»Meinste wirklich wir soll´n diese Abkürzung nehmen?«, fragt der verängstigte junge Beifahrer, »wenn die Bullen uns erwischen, is´ bestimmt ´ne fette Strafe fällig. Von der Verzögerung mal ganz abgesehen.«
»Sei still. Schau nach vorne und lerne«, motzt der erfahrene Fahrer seinen Nebenan an. »Du hättest gestern Nacht nicht diesen beiden Schnepfen nachsteigen sollen, dann hätten wir nicht verschlafen. Hast du eine Ahnung wie hoch die Konventionalstrafe bei dieser Lieferung sein würde? Da reicht dein dreimonatiger Lohn bestimmt nicht aus.«
Er hatte gerade beschlossen ein Abkürzung durch die Vororte zu nehmen um sein Ziel zu erreichen. Auf diesem Weg würde er deutlich schneller vorankommen, als im Morgenstau auf der vielbefahrenen A3. Es ist nicht das erste Mal das ihm solche Abkürzungen eine Menge Euros gespart hatten.
Das erste Mal aber fährt er eine Ladung wie diese: einen Gefahrentankwagen, vollgepumpt mit explosivem Spezialtreibstoff.
Eine ohrenbetäubende Explosion erschüttert die Wenziger Straße. Die Druckwelle lässt sogar in Häusern mehrere Straßen weiter, die Glasscheiben bersten. Eine pechschwarze Rauchsäule hoch über dem sonst verschlafenem Örtchen kündet von der stattgefundenen Katastrophe.
2.
»Guten Morgen, Herr Berger.« Die feste Stimme des Chefarztes kommt von links, aus der Dunkelheit. »Wie geht es Ihnen heute?«
Ein leises Stöhnen ist die einzige Antwort.
»Nach dem gestrigen Vorfall sind Ihre Kopfschmerzen verständlich. Sei hatten unheimliches Glück gehabt, obwohl Sie sich inmitten des Infernos befanden, kamen Sie mit nur wenigen Schnitten und Brüchen davon.«, berichtet er trocken weiter.
»Wa-warum ist es hier so dun...«, versucht sein Patient zu sprechen. Muss aber aufgrund stechender Schmerzen in der Brustgegend abbrechen.
»Wie soeben erwähnt, hatten sie viel Glück bei diesem Unfall...«, der Arzt stockt. Nach einem kurzen Räuspern fährt er fort: »Doch leider konnten wir Ihr Augenlicht nicht mehr retten. Und... Ihre Frau liegt im Koma.«
Zwei Wochen verbringt Hermann Berger in der privaten Klinik auf dem Land. In der ersten Woche bekommt er fast täglich Besuch. Seine Arbeitskollegen, Freunde und Verwandte halten ihre Pflichtbesuche ab. Alle sprechen ihr Beileid über den Zustand seiner Frau aus und bieten gezwungen ihre Hilfe an. Doch in der darauffolgenden Woche werden die Visiten seltener und hören schließlich komplett auf. Er ist fast die ganze Zeit über alleine in seinem überdimensionierten Einzelzimmer. Hat unendlich viel Zeit um über seine Situation zu sinnieren, seinem vorherigen Leben nachzuweinen und in Selbstmitleid zu zerfließen.
Am fünfzehnten Tag kommt der Chefarzt erneut vorbei um eine weitere schlechte Nachricht zu verkünden: »Seien Sie jetzt stark, Herr Berger. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Frau gerade verstorben ist. Ich weiß, es ist zwar nur ein schwacher Trost, aber durch die starken Medikamente verspürte Sie keinerlei Schmerzen und ist friedlich von uns gegangen.«
Keine Reaktion. Hermann Berger befindet sich erneut in einem schockähnlichen Zustand.
»Es ist mit Sicherheit nicht der beste Zeitpunkt«, fährt der Arzt sachlich fort, »aber es gibt nun eine vielversprechende Möglichkeit Ihr Augenlicht wieder herzustellen. Ihre Frau hatte einen Organspendeausweis, wussten Sie das? Ihre Augäpfel sind unbeschädigt. Eine Transplantation zu Ihren Gunsten erscheint sehr vielversprechend.«
Die letzten Worte des Arztes nimmt Bergen nur ganz undeutlich wahr. Er muss gegen die aufkommenden Übelkeit kämpfen.
»Sie müssen Sich aber schnell entscheiden, leider ist die Haltbarkeiten der Transplantationsobjekte auf ein Minimum begrenzt«, beendet der Arzt das Gespräch.
3.
Drei weitere Wochen vergehen.
»Sind Sie bereit, Herr Berger?«, fragt eine unbekannte Stimme.
Hermann Berger nickt stumm.
»Ich bin Doktor Schalf. Doktor Hannes, unser Chefarzt, musste geschäftlich verreisen, deswegen überwache ich Ihre Rückführung ins Licht«, fährt die Stimme amüsiert über das eigene Wortspiel fort. »Schwester Ruth wird nun das Verband abnehmen. Machen Sie dann Ihre Augen ganz langsam auf und erschrecken Sie nicht über den stechenden Schmerz in den ersten Sekunden. Ihre neuen Augen brauchen etwas Zeit um sich an die ungewohnte Helligkeit zu gewöhnen.
Langsam, Stück für Stück, wird die Bandage abgewickelt. Mit jeder Kreisbewegung spürt Hermann Berger förmlich das abnehmende Gewicht um seine Augenpartie.
»So, nur noch die Wattepads«, kommentiert Doktor Schalf heiter das Vorgehen. »Voilá. Nun sind sie dran, Herr Hermann. Es ist Ihre Show.«
Vorsichtig öffnet Hermann Berger einen Spalt weit seine Augen. Wieder Erwarten wird er nicht vom grellen Licht geblendet, sondern blickt in ein schwaches samtblaues Leuchten.
Ermutigt vom schmerzlosen Start, öffnet er seine Augen komplett und schaut verwirrt um sich. Das weiche bläuliche Licht erhellt weiterhin die Dunkelheit um ihn herum. Als sich seine Augen an den ungewohnten Anblick gewöhnen, erkennt er schemenhafte Details seiner Umgebung. Er identifiziert die grauen, trügerischen Umrisse seines Patientenzimmers samt Mobiliar. Links neben ihm und weiter vorne, gelehnt an einer Tischzeile, kann er zwei gespenstige unwirkliche Gestalten erkennen. Er blinzelt ein paar Mal mit den Augen um den diffusen Nebeleffekt zu vertreiben, doch die Sicht ändert sich nicht.
»Gibt es ein Problem?«, fragt der Schemen am Tisch, »Beschreiben Sie mir bitte was Sie sehen?«
Hermann Berger schildert Doktor Schalf seine Wahrnehmung.
»In der Anfangszeit kommt es oft zu Schattenbildungen«, erkennt dieser das Problem. »Doch für das blaue Leuchten habe ich keinerlei Erklärung. Möglicherweise hat sich einer der Sehnerven nicht verbunden und verfälscht Ihr Farbspektrum. Momentan können wir leider nur abwarten und die Entwicklung der nächsten Tage beobachten. Verlieren Sie nicht die Hoffnung.«
4.
Doch auch während den folgenden Tagen bessert sich nichts. Im Gegenteil: Bergers Augen spielen ihm immer mehr Streiche. Zögernd aber bestimmt, schleichen sich in den letzten Stunden immer mehr schattenhafte Formen in seine farbarme Welt. Manche sind noch unförmige Schemen, andere wiederum lassen schon die klaren Umrisse humanoider Wesen erkennen. Allen diesen Erscheinungen ist aber eines gemeinsam: im Gegensatz zu den realen Gestalten wie den Ärzten und Krankenschwestern, deren Umrisse in grauer Farbe erscheinen, leuchten die Halluzinationen gelb. Die Einen schwach, die Anderen stärker. Bei den ersten Erscheinungen hält Hermann Berger sie noch für anwesende Menschen und versucht mit ihnen zu reden, doch als diese nicht reagieren, ziellos durch den Raum wandern, in den Wänden verschwinden, an der gegenüberliegenden Seite wieder auftauchen, steht es für Berger fest: hier geht es nicht mit rechten Dingen zu. Aus Angst für verrückt erklärt zu werden, traut er sich nicht seine Erlebnisse den Pflegerinnen oder den Ärzten mitzuteilen. Also wartet er verhemmt auf eine Besserung.
Inzwischen ist die Anzahl der Geister – wie Berger sie nun endgültig benennt – auf etliche Dutzende gestiegen. Sie füllen sein riesiges Zimmer nun komplett aus, schreiten durch die anderen anwesenden Erscheinungen wie Hologramme. Einige sind inzwischen so deutlich zu erkennen, dass Hermann Berger nun ganz genau ihre Gesichter erkennen kann. Er hört zwar nicht was sie reden, merkt aber an der Haltung und Mimik der Meisten, dass diese betten, bitten oder flehen. Doch keiner beachtet Bergers Anwesenheit.
Außer vielleicht einem Schatten. Dieser fällt Berger gerade jetzt erst richtig auf. Zwar spürte er schon länger, dass sich etwas auf dem Stuhl links von seinem Kopfende befindet, doch aufgrund der zahlreichen Erscheinungen maß er der ruhenden Gestalt neben sich bis geradeeben keinen Wert bei.
Ruhend, schießt ihm die Auffälligkeit durch den Kopf. Der Schemen neben ihm ist der einzige, der sich die ganze Zeit über bewegungslos verhalten hatte.
Er blickt zur Seite und schaut sich das Trugbild genauer an. Noch ist es nicht fassbar, aber je länger er hin sieht, desto mehr Details kristallisieren sich aus dem gelben Schein, desto deutlicher wird die Anwesenheit – das Gesicht ihm zugewandt.
Plötzlich, Berger schnappt erschrocken nach Luft, erkennt er ganz deutlich eine Person vor sich. Jemanden, der ihm einmal sehr nahe stand. Er erfasst das blonde Haar, die vollen Lippen, die formschöne Nase, bloß an der Stelle der Augen klaffen nur schwarze leere Löcher. Löcher die ihn anklagend anstarren.