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Kleine Schwester
Kleine Schwester
„Ey Alter, deine Schwester kriegt Titten, soll sich mal 'n BH kaufen, is' ja voll porno!" Eugen lief rot an und gab Emre einen Stoß in die Seite.
„Halt's Maul, kümmer' dich um dein' eigenen Scheiß." Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, warf den Stummel auf den Boden und scharrte mit seiner Fußspitze etwas Sand darüber.
Der rissige Boden des kleinen Spielplatzes war von Kippen übersät, daneben lagen leere Chipstüten und Getränkekartons zwischen vertrockneten gelben Grashalmen.
Eugen fixierte seine elfjährige Schwester Evelyn, die seit einer halben Stunde unermüdlich auf dem im Boden eingelassenen Trampolin herumhüpfte. Emre hatte recht, durch das dünne, weiße Sommertop konnte man deutlich zwei knospende Hügel erkennen. Er musste dringend mit seiner Mutter reden.
"Evelyn, hau jetzt endlich ab, du sollst um acht zuhause sein!" rief er ihr barsch zu.
„Geht-doch-dich-nix-an“, keuchte Evelyn abgehackt und zeigte ihm den Mittelfinger, während sie weiter auf und ab hüpfte. Emre spuckte geräuschvoll eine Ladung Schleim auf den Boden.
„Mann ey, deine Schwester is' krass frech, die kleine Schlampe. Ich glaub' die braucht mal 'ne Tracht Prügel." Eugens Augen verengten sich zu Schlitzen und er stieß Emre mit der flachen Hand gegen die Schulter, so dass dieser zwei Schritte zurücktaumelte.
„Halt dich da raus du Spacko, und red' nicht so von meiner Schwester. Wir sind keine Scheißtürken, die ihre Frauen verhaun !"
Emre hob beschwichtigend die Hände. „Klar Mann, schon gut Alter, mein ja bloß, die hat kein Respekt, Alter." Er wusste, dass er sich mit Eugen, der den schwarzen Gürtel in Karate hatte, besser nicht anlegte.
Evelyn hatte die Szene grinsend beobachtet und sprang ungestört weiter. Eugen war mit zwei schnellen Schritten am Trampolin, packte sie am Unterarm und zog sie grob herunter.
"Aua, lass mich los!" Jammernd rieb sie sich das Handgelenk.
„Du verpisst dich jetzt sofort nach Hause, sonst leg' ich dich wirklich übers Knie", drohte Eugen mit finsterem Blick und Evelyn war so schlau zu gehorchen. „Was suchst du überhaupt hier?", rief er ihr hinterher. „Heute nicht bei deiner feinen Lara?" Sie blickte sich wütend um.
„Kann dir doch egal sein", rief sie über die Schulter und rannte davon.
Am nächsten Morgen gegen elf kam er frischgeduscht in die Küche. Sein Vater saß am Küchentisch und las die Tageszeitung. Ohne aufzublicken brummte er „So, ist der Herr auch schon wach. Soll das so weitergehen? Willst du dem Staat auf der Tasche liegen, wie deine nichtsnutzigen türkischen Kumpanen?" Als er keine Antwort bekam, blickte er irritiert auf.
Eugen stand mit dem Rücken zu ihm an der Spüle und schenkte sich den Rest Kaffee aus der Isolierkanne ein. "Hast du wenigstens die Bewerbung fertig, dass ich sie am Montag Herrn Schneider geben kann?"
„Ja, fast", log er und nippte an seinem Kaffee. Er schmeckte bitter und abgestanden. Er verzog das Gesicht und kippte den Inhalt seiner Tasse in die Spüle. Er hatte nicht die geringste Absicht, sich in der Baufirma zu bewerben, in der sich sein Vater seit vierzehn Jahren den Buckel krumm schuftete.
Ihm schwebte irgendwas mit Informatik vor, doch seine Noten in den Kernfächern ließen zu wünschen übrig, so dass er wahrscheinlich wenig Chancen auf einen Ausbildungsplatz hatte.
„Dann sieh zu, dass du sie mir bis morgen Abend hinlegst, du bist sowieso schon viel zu spät dran, aber ich habe ein gutes Wort für dich eingelegt."
„Mhmm", grummelte er, „muss jetzt los." Er biss in einen weich gewordenen Doppelkeks, den er im Schrank gefunden hatte, schnappte sich seine Sporttasche und verließ eilig die Wohnung.
Am frühen Abend kehrte er gutgelaunt nach Hause zurück. Er war beim Wettkampf Zweiter geworden in seiner Altersklasse und der Trainer hatte ihn vor versammelter Mannschaft gelobt.
Im Treppenhaus hörte er Musik wummern und als er die Wohnungstüre aufschloss schlug ihm ohrenbetäubender Lärm entgegen. Er ließ die Sporttasche auf den Boden fallen und ging ins Wohnzimmer.
Evelyn saß auf dem Sofa, das Laptop auf dem Schoß. Im Hintergrund plärrte eine halbnackte Rihanna ihren neuesten Hit aus dem Fernseher. Genervt drückte er die Standby-Taste.
„Spinnst Du? Wo sind die Alten?" Sie blickte ihn aus rotgeränderten Augen an.
„Bei Tante Sveta."
„Und du, wieso bist du nicht bei Lara? Hast du geplärrt?"
„Lass mich, kümmer' dich um deinen eigenen Dreck."
„Hey, sei nicht immer so frech! Sag' halt was los ist, habt ihr Stress oder was?"
Obwohl er es nie zugeben würde, war Eugen ziemlich stolz auf seine kleine Schwester. Sie besuchte seit einem Jahr das Gymnasium und hatte "anständige" Freundinnen. Sie würde es mal zu etwas bringen.
„Hmm, vielleicht", druckste sie herum. Er ließ sich neben sie aufs Sofa fallen.
„Also?"
„Ihre Mutter will nicht mehr, dass ich komm'."
„Häh? Wieso, hast du was angestellt?" Evelyn schwieg, aus ihrem rechten Auge löste sich eine Träne und kullerte langsam die Wange hinunter.
Mit einer unbeholfenen Geste wischte er sie weg.
„Jemand hat Geld genommen, das für die Putzfrau war. Und sie denkt, dass ich es war."
Er blickte sie interessiert an.
„Und, warst du es?"
"Natürlich nicht", sagte sie entrüstet, "aber sie glaubt mir nicht. Und Lara ... ach Kacke!" Wütend fuhr sie sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang. „Kann doch jeder genommen haben, oder? Vielleicht hat die blöde Putzfrau ja auch gelogen! Wegen zwanzig Euro so ein Theater zu machen!"
„Und jetzt? Willst du dir das gefallen lassen?"
„Pfhh, was soll ich machen? Diese eingebildete Kuh ... am liebsten würde ich ihr einen Scheißhaufen vor die Türe legen!"
„Jetzt beruhig' dich mal." Er sah sie eindringlich an. „ Und mach' ja keinen Blödsinn. Ich kümmere mich darum."
„Ja, klar. Willst du sie verhauen, oder was", sagte sie und lächelte ihn durch einen Tränenschleier an.
„Ich überleg mir was."
Natürlich hatte er keine Ahnung, was er machen sollte. Mit Lara reden? Nein, auf so ein Kleinmädchenniveau wollte er sich nicht herablassen. Mit der Mutter reden? Sie konnte ihn sowieso nicht leiden und hielt ihn für einen russischen Proleten. Er würde einen anonymen Zettel in den Briefkasten werfen.
Aber da wäre wohl auch jedem klar, aus welcher Ecke dieser kam.
Er ging ins Bad und warf seine durchgeschwitzten Sportsachen in den Wäschekorb. Dann stellte er sich vor den Spiegel und richtete prüfend seine Justin-Bieber-Mähne. Auf der Ablage unter dem Spiegel stand das Haarspray seiner Mutter. Mit ein paar gezielten Sprühstößen gab er seiner Frisur den letzten Schliff.
"Ciao", rief er Evelyn zu, als er am Wohnzimmer vorbei in den schäbigen Hausflur trat. Er zog die Wohnungstüre hinter sich zu und lief zwei Stockwerke nach unten.
In dem Mietshaus aus den frühen neunziger Jahren waren zum großen Teil Sozialwohnungen untergebracht. Er trat auf den Bürgersteig und wäre beinahe in einen frischen, hellbraunen Hundehaufen getreten. „Scheißköter“, entfuhr es ihm und schlechtgelaunt stapfte er erst einmal zum kleinen Spielplatz. Aber außer ein paar kopftuchtragenden Müttern mit lärmenden Kleinkindern war niemand da. Er schlenderte weiter zur großen Kreuzung und überquerte die Hauptstraße, die zum Marienplatz
führte.
Schon von weitem sah er Emre und Ömer vor dem neu eröffneten Burger King herumlungern.
„Ey, was geht", Ömer streckte ihm die Faust entgegen und Eugen "klopfte" mit seiner dagegen.
Emre zog geräuschvoll einen Rest Cola durch seinen Strohhalm und gab ihm dann auch die Faust zur Begrüßung. Sie wussten, dass Eugen den ansonsten üblichen Bruderkuss hasste und für schwul befand.
„Alles klar, Mann. Habt ihr schon was gegessen? Hab 'n Schweinehunger."
Ömer nickte und stieß mit seinem Fuß gegen die zerknüllte braune Papiertüte, die vor ihm am Boden lag.
„Cool, dann hol' ich mir jetzt auch was." Er wollte sich umdrehen, doch Emre hielt ihn am Ärmel fest.
„Alter, hast du Kohle? Brauchen noch was zum Saufen." Er nickte in Richtung Supermarkt. Eugen kramte in seiner hinteren Hosentasche und zog einen zerknitterten Zehner, einen Fünfer und ein paar Münzen heraus. Emre grabschte sich den Fünfer.
„Hey, das ist mein letztes Geld", protestierte er schwach, doch Emre zeigte ihm grinsend den Mittelfinger. Schulterzuckend drehte er sich um und ging Richtung Burger King, doch als er die Schlange an der Kasse sah, entschied er sich spontan für die Dönerbude nebenan.
Eineinhalb Stunden später, es war inzwischen schon dunkel geworden, hatte jeder von ihnen mindestens einen Liter Bier und eine Viertelflasche Vodka, den sie mit Cola gemixt hatten, intus. Sie saßen auf der Treppe und alle paar Minuten spuckte einer von ihnen eine Ladung Schleim auf den Boden.
„Ey Leute", sagte Eugen mit angeschlagener Stimme und stieß Ömer mit dem Ellenbogen in die Seite, "muss noch was erledigen, kommt ihr mit?" Da es nichts Besseres zu tun gab, folgten ihm Ömer und Emre die Treppe zur U-Bahn hinunter. Die Chance auf eine Fahrkartenkontrolle an einem Samstagabend gegen zehn Uhr war gleich null, so stiegen alle drei ohne Fahrschein in die U3 Richtung Nordstadt. Emre hatte angefangen ein paar Studenten und ihre Freundinnen anzupöbeln, und war kurz davor, in eine Schlägerei verwickelt zu werden, als die Haltestelle Pariser Friedhof kam. Eugen zog Ömer und Emre mit nach draußen.
„Scheißausländer!", brüllte einer der Typen ihnen hinterher.
„Wo gehn wir eigentlich hin", lallte Ömer, der sich heimlich den Rest aus der Wodkaflasche genehmigt hatte. Sie trotteten durch ein Wohngebiet mit schicken Altbau-Villen und modernen Einfamilienhäusern.
„Ja, Alter wo sind wir hier überhaupt?", maulte auch Emre.
„Schhhh." Eugen legte den Finger an die Lippen. Er war vor einem schmucken, neurenovierten Einfamilienhaus im Bungalowstil stehengeblieben. Im Haus war es dunkel. Entweder schliefen schon alle, oder es war niemand zuhause. Es gab eine Doppelgarage und ein Carport, unter dem ein schwarz glänzendes BMW-Cabriolet stand.
Er bedeutete den beiden anderen, sich mit ihm unter den Bauzaun am Nachbargrundstück zu ducken. Das Haus darauf war komplett eingerüstet.
„Hier wohnt die Freundin von meiner Schwester", flüsterte er, „und ihre Alte, die braucht mal 'n Denkzettel."
Er hatte die ganze Fahrt über seine Gedanken gewälzt, aber er wusste immer noch nicht, was er eigentlich vorhatte. Am liebsten würde er klingeln, und die Kuh zur Rede stellen. Aber womöglich würde sie gleich noch die Bullen rufen.
Ömer war aufgestanden und spähte über den Zaun. "Drecksbonzen", sagte er verächtlich und zog ein silberglänzendes Klappmesser aus der Tasche. „Wir schlitzen das scheiß Cabrioverdeck auf."
„Jetzt wart' mal Alter.“ Eugen zog ihn leicht erschrocken an der Hose. „Die haben bestimmt überall Kameras und Bewegungsmelder in ihrem scheiß Hof. Ich hab' kein' Bock auf Jugendknast."
"Wir können zum Auto robben und einen dicken, fetten Kratzer in die Scheiß Lackierung machen."
„Moment mal kurz“, überlegte Eugen fieberhaft. Es sollte nichts zu Krasses sein, denn er wollte auf keinen Fall Schwierigkeiten mit der Polizei.
Sein Blick fiel auf einen rostigen Nagel, der aus dem Bretterzaun ragte. Er packte ihn mit Daumen und Zeigefinger und drehte und zog solange, bis er den Metallstift in der Hand hielt. Er hielt ihn prüfend gegen das fahle Licht der Straßenlaterne. Der verrostete Kopf war ziemlich groß und der Stift ungefähr drei Zentimeter lang. "Ich hab eine bessere Idee. Such' mal ein' großen Stein."
Emre schlüpfte durch eine Lücke im Zaun auf das Baustellengrundstück und kehrte kurz darauf mit einem handtellergroßen, runden Kieselstein zurück.
„ Oh Mann ey, willst du ein Fenster einwerfen? Das ist viel zu laut, bis wir hier weg sind, ha'm die schon lang die Scheiß Bullen geholt."
"Jetzt haltet einfach mal 's Maul."
Eugen atmete tief ein, sein Herz klopfte bis zum Hals. Er nahm den Nagel zwischen die Lippen und ging auf die Knie. In der rechten Hand hielt er den Stein. Er krabbelte auf allen Vieren bis zum Hof und kroch dann, wie ein Vietkong, auf Ellenbogen und Knien zum linken Hinterreifen des BMW's.
Er wartete kurz, ob irgendwo ein Licht anging, doch es blieb alles dunkel und ruhig. Auf dem Bauch liegend nahm er den Nagel zwischen Daumen und Zeigefinger, setzte ihn in eine Rille im Reifenprofil und klopfte vorsichtig mit dem Stein dagegen.
Es war schwieriger als gedacht, denn der Nagel war ziemlich stumpf und die Reifen schienen ziemlich neu zu sein. Auf seiner Stirn sammelten sich feine Schweißperlen.
„Fuck, ist das anstrengend“, stieß er keuchend hervor und musste einen Augenblick innehalten, um seinen Kopf auf dem gepflasterten Boden abzulegen.
Im Hintergrund hörte er Emre kichern. Er setzte erneut an und hieb mit einem gezielten Schlag auf den Nagel. Es gab ein ploppendes Geräusch und der Nagel versank bis zum Kopf im Profil des Reifens.
Erleichtert, dass der Reifen nicht sofort explodiert war, atmete er aus und robbte dann denselben Weg zurück zum Gehsteig.
Er setzte sich auf und lehnte sich einen Augenblick erschöpft gegen den Bauzaun. Emre und Ömer hatten sich eine Kippe angesteckt.
„Los", er stemmte sich mit beiden Händen hoch, „lasst uns abhauen."
„Eugen, Eugen." Er schlug benommen die Augen auf. Evelyn stand im Halbdunkel neben seinem Bett und rüttelte ihn unsanft an der Schulter.
„Was soll das?" Er drehte sich stöhnend zur Wand.
„Wach jetzt endlich auf!" Sie stieß ihm einen spitzen Finger zwischen die Schulterblätter.
Entnervt fuhr er hoch, "Mann, jetzt lass mich verdammt noch mal!" Sein Kopf fühlte sich an wie in Watte. Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. "Wie spät ist es überhaupt?"
„Halb zehn, aber ich muss dir was erzählen."
„Bist du bescheuert? Hau ab!" Er ließ sich rückwärts aufs Kopfkissen fallen und schloss wieder die Augen.
„Laras Mama hatte einen schlimmen Unfall“, brabbelte sie los, "heute morgen, als sie nach Heidelberg fahren wollte. Das Auto hat sich überschlagen und sie liegt im Krankenhaus." Ein leiser Schluchzer entfuhr ihrer Kehle.
Er stützte sich auf die Ellenbogen und sah sie entgeistert an.
„Wie? Was redest du da?"
„Ja, Lara hat grade angerufen und sie wissen nicht, ob sie überhaupt wieder aufwacht", sie schniefte laut, „und ich hab gestern so Scheiße über sie geredet und hab mir gewünscht, dass ihr was passiert, und, und", ihre Stimme wurde weinerlich, „ich hab das Geld doch genommen."
„Was?" er packte sie am Handgelenk und sah ihr in die Augen. „Was meinst du?" Ein eiskalter Schauer lief seinen Rücken hinunter.
„Ich wollte Lara so gerne die neue CD von Bruno Mars kaufen“, schluchzte sie, „und da lag dieser Geldhaufen, über zweihundert Euro! Warum muss diese beknackte Putze auch so genau nachzählen."
Sie schlug die Hände vors Gesicht.
In seinem Kopf drehte sich alles, das Blut rauschte in seinen Ohren. Er schwang die Beine aus dem Bett und stand abrupt auf. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen.
Er stieg in seine Jeanshose, die noch am Fußboden neben seinem Bett lag und zog sich ein Sweatshirt über. Er musste sofort noch einmal zu Laras Haus.
Wenn die Polizei den Nagel im Reifen fand, war er geliefert, wahrscheinlich nahmen sie bereits Fingerabdrücke. Evelyn saß wie benommen auf der Bettkante.
„Gib mir deinen Fahrradschlüssel", er packte sie am Arm und zog sie auf die Beine.
„Warum?" Sie sah in verständnislos an.
„Mein Reifen ist platt und ich hab was vergessen. Bei Emre. Gestern Abend. Komm jetzt." Er zog sie am Arm aus dem Zimmer.
„Aua, Eugen! Lass mich los", sie entriss ihren Arm und sah in beleidigt an. „Spinnst du? Ich geb' dir nicht mein Fahrrad, du machst es nur kaputt. Geh' doch zu Fuß."
„Jetzt hör mal zu", er packte sie mit einer Hand am Kinn und zog ihr Gesicht ganz nahe zu sich heran. „Du holst jetzt sofort den Schlüssel, oder ich erzähl den Alten die Geschichte mit der Kohle", flüsterte er mit drohender Stimme.
Sie stieß ihn mit beiden Händen weg. „Iiih, du stinkst!" Sie drehte sich um und holte den Schlüssel aus ihrer Jackentasche. „Hier", sie ließ ihn vor seinen Augen hin und her baumeln, „und wehe ich sehe einen Kratzer."
Er riss ihr den Schlüssel aus den Fingern und schlug die Wohnungstüre hinter sich zu.
Seine Hände zitterten so stark, dass er kaum den Schlüssel in das Kettenschloss bekam. Endlich hatte er es geschafft. Er riss die Kette weg und ließ sie neben dem Fahrradständer auf den Boden fallen. Er schwang sich auf den Sattel, der natürlich viel zu niedrig für ihn war und trat in die Pedale.
Wie ein Geisteskranker raste er quer über den Marienplatz, wo er beinahe einen Kinderwagen über den Haufen fuhr. Die Mutter rief ihm wüste Beschimpfungen hinterher, doch er fuhr blindlings weiter, auf die große Hauptverkehrsstraße, die zur Nordstadt führte.
Es ging ungefähr zwei Kilometer bergauf und er musste im Stehen treten, denn seine Oberschenkel brannten wegen des niedrigen Sattels wie Feuer. Die Reifen waren auch ziemlich platt und der Schweiß lief ihm in Strömen den Rücken hinunter.
Seine Gedanken überschlugen sich. Die Zigarettenkippen am Bauzaun, womöglich gab es doch eine Kamera, konnte man Fingerabdrücke von einem Stein nehmen?
Keuchend erreichte er die letzte Kurve vor Laras Straße. In seinem Mund hatte er einen widerlichen Eisengeschmack. Er spuckte aus.
Er sah bereits mehrere Einsatzwagen mit Blaulicht vor der Türe stehen, doch als er mit hämmerndem Herzen in die August-Bebel-Straße einbog, war weit und breit kein Polizeiauto zu sehen.
Erleichtert atmete er auf. Er stieg vom Fahrrad und schob es den blank gefegten Gehsteig entlang. Das Haus lag hinten links. Die Gegend war wie ausgestorben an diesem Sonntag Morgen und die meisten Häuser hatten meterhohe Hecken entlang der Straße, so dass er sich relativ unbeobachtet fühlte.
Hundert Meter vor der Einfahrt blieb er stehen. Er lehnte das Rad gegen den Bauzaun. Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Langsam ging er zu der Stelle, wo sie gestern Abend gelauert hatten.
Diese Idioten, hatten mehrere Kippen und sogar eine zerdrückte Bierdose liegen gelassen. Sicherheitshalber hob er alles auf und stopfte es in die Känguruhtasche seines Sweatshirts. Er atmete noch einmal tief ein und ging dann direkt auf die Einfahrt zu.
Für einen Augenblick setzte sein Herzschlag aus. Er traute seinen Augen nicht. Das schwarze BMW-Cabrio stand unversehrt an derselben Stelle wie gestern. Der linke Hinterreifen war platt.
Seine Knie wurden weich, und er musste sich einen Augenblick an der Mauer festhalten. Sie war mit einem anderen Auto gefahren. Er war nicht Schuld an dem Unfall.
Plötzlich musste er würgen. Er schlug sich die Hand vor den Mund und rannte auf die Straße. Er erbrach sich dreimal in den Rinnstein. Seine Augen tränten und mit dem Handrücken wischte er sich den Mund ab. Die Knie gaben nach und er ließ sich auf den Rand des Bürgersteigs sinken.
Nach fünf Minuten hatte er sich soweit beruhigt, dass er nicht mehr so stark zitterte und aufstehen konnte. Er ging zu seinem Rad und fing an zu schieben, er war zu schwach, um auf den Sattel zu steigen.
Er bemerkte das Taxi erst, als es direkt neben ihm anhielt. Eine Scheibe wurde heruntergelassen. „Eugen?"
Lara streckte ihren Kopf aus dem hinteren Fenster. Neben ihr saß ein grauhaariger Mann und telefonierte. „Was machst du hier?"
„Ich, ich wollte hören, wie es deiner Mutter geht", stammelte er. „Evelyn macht sich Sorgen."
„Echt?“ Sie lächelte. „Eigentlich ist es gar nicht so schlimm. Mama ist vorhin aufgewacht, sie hat ein paar Rippenbrüche und eine Gehirnerschütterung. Aber sie darf bald wieder nach Hause. Sag Evelyn einen Gruß."
„Mach ich", sagte Eugen und hob kurz die Hand, als das Taxi weiter fuhr.