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Kulisse

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24.01.2004
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Kulisse

Ich sitze hier an meinem Schreibtisch und bringe diese Zeilen zu Papier. Warum ich das tue? Nun, wahrscheinlich um eine Tat zu rechtfertigen, für die es keine Rechtfertigung gibt. Da es aber in der menschlichen Natur liegt, die eigenen Handlungen in einem guten Licht dastehen zu lassen, oder sie wenigstens aus dem Schatten der Schande zu drängen, werde ich es dennoch versuchen.
Sie werden sich sicherlich fragen, was ich verbrochen habe. Während ich das hier schreibe, lautet die unspektakuläre Antwort: noch nichts. Erst wenn der letzte Punkt gesetzt und der Stift aus der Hand gelegt ist, werde ich die Pistole ergreifen, die neben mir auf dem Schreibtisch liegt.
Ja, lieber Leser, wie Sie wahrscheinlich bereits vermuten, werde ich einen Mord begehen.
Macht mich ein solches Verbrechen zu einem schlechten Menschen? Bin ich vielleicht böse?
Nun, es liegt an Ihnen, über diese Frage zu urteilen. Ich bitte aber zu bedenken, dass das Böse ein pures Produkt der Subjektivität ist. Böse ist, was man als böse bezeichnet. Gut und böse sind daher keine Konstanten, sondern vom Standpunkt des Betrachters abhängige Variablen.
Natürlich steht es Ihnen frei, mich dennoch zu verteufeln, doch betrachten Sie mich zunächst als das, was ich bin. Als Mensch.
Doch was für ein Mensch bin ich? Um diese Frage zu beantworten, werde ich mit Ihnen ein wenig im Geschichtsbuch meines Lebens blättern. Ich hoffe Sie verstehen, dass ich Ihnen nur die Bilder zeige und Sie nicht mit detaillierten Sachtexten langweile.
Ich wuchs als ältestes von drei Kindern in einem kleinen, beschaulichen Dorf auf. Mein Vater war Maurer, meine Mutter starb bei meiner Geburt. Ich kenne sie folglich nur in Form von Fotos und Erzählungen.
Mein Vater gab mir die Schuld an ihrem Tod, auch wenn er es nie offen sagte. Statt mit deutlichen Worten, bestrafte er mich mit subtiler Verachtung. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Anstatt mich an den Pranger zu stellen, legte mein Vater mir unsichtbare Daumenschrauben an, die er langsam enger drehte. Ich bin sicher, dass das Grinsen dieses sadistischen Bastards bei jeder Umdrehung breiter wurde.
Bitte entschuldigen sie meine Wortwahl, aber ich vermag nach Jahren der Erniedrigungen keinen anderen Ausdruck zu verwenden. Jahre, in denen meine Geschwister auf ein Podest gestellt wurden, während ich in ihrem Schatten im Staub kroch und gelegentlich den Grünspan von ihren stolzen Gesichtern kratzte.
Ja, lieber Leser, meine Kindheit war alles andere als angenehm. Durch die eigene Geburt für den Tod der Mutter verantwortlich, vom Vater mit Geringschätzung gestraft, neidvoll zu den sich im Licht väterlicher Anerkennung sonnenden Geschwistern aufblickend.
Es ist sicherlich nachvollziehbar, dass ich möglichst schnell von zu Hause fort wollte.
Gleich nachdem ich die Schule mit recht guten Noten abgeschlossen hatte, verließ ich meine Familie und zog in die Großstadt um zu studieren. In der Anonymität der Stadt versuchte ich krampfhaft, meine Vergangenheit zu vergessen. Ich drängte die Erinnerungen in eine dunkle Gasse, um sie dort im Staub sitzend verhungern zu lassen. Leider warfen mitfühlende Passanten den armen Geschöpfen ab und an aber ein Stück Brot vor die Füße, was sie nicht nur am Leben erhielt, sondern auch dafür sorgte, dass sie sich nach einem besonders großen Brocken erhoben und an meine Haustür klopften. Ja, lieber Leser, egal wie schnell man in Richtung Zukunft läuft, die Vergangenheit holt einen doch immer wieder ein.
Zunächst hatte ich aber einen recht beachtlichen Vorsprung. Ich war ein fleißiger Student und fand Freunde, mit denen ich eine Wohngemeinschaft gründete. Meinen Lebensunterhalt bestritt ich mit Gelegenheitsjobs, die zwar häufig nicht mehr waren, als modrige Holzplanken, mich aber dennoch über Wasser hielten.
Ich genoss die Studienzeit. Zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich die Bedeutung von Freundschaft und Anerkennung. Mein in den Jahren zuvor zerstörtes Selbstwertgefühl baute sich Stück für Stück wieder auf, doch leider war die Konstruktion nicht sonderlich stabil. Auf mich wirkte sie damals wie ein Bollwerk, eine die Jahrtausende überdauernde Festung, die allen Feinden trotzen würde. Doch heute weiß ich, dass der Bau nur eine Fassade aus dünnem Sperrholz war, eine Kulisse, die zwar täuschend echt aussah, doch beim leisesten Windhauch zusammenbrechen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Wind kommen würde. Und der Wind kam.
Nach dem Studium hatte ich das Gefühl, vollkommen glücklich zu sein. Ich wurde Redakteur bei einer großen Tageszeitung und heiratete kurz darauf eine attraktive und intelligente Frau.
Ich liebte sie mehr als alle andere und bemerkte nicht, dass sie nicht nur den Sturm der Leidenschaft in meinem Herzen entfachte, sondern auch den Wind, der an der Kulisse meines Selbstwertgefühls zu rütteln begann.
Meine Frau war ein sehr zurückhaltender Mensch, schüchtern und introvertiert. Ich dagegen stand auf dem höchsten Turm meiner Sperrholzfestung und regierte mit eiserner Hand. Ja, lieber Leser, ich unterdrückte sie, wo ich nur konnte und erhob mich zum Herrscher über ihr Leben. Ich fühlte mich mächtig, so mächtig, wie sich mein Vater gefühlt haben musste, doch in Wirklichkeit war ich unsicher und eifersüchtig. Unsicher, weil ich im Grunde meines Herzens nicht verstand, warum sich eine solche Frau mit einem Kerl wie mir abgab. Diese Unsicherheit führte zu brennender Eifersucht, die Eifersucht führte zu Kontrolle. Meine Frau machte keinen Schritt, ohne das ich hinter ihr stand. Was mit Liebe begann, entwickelte sich zur Katastrophe. Trotz allem hielt unsere Ehe fast zehn Jahre.
Sie werden sich sicherlich fragen, warum meine Frau so lange bei mir blieb, obwohl sie gute Gründe hatte, mich zu verlassen. Nun, aus Geld geschmiedete Ketten können mitunter sehr stabil sein. Meine Frau hatte keine Ausbildung und konzentrierte sich auf die Arbeit als Hausfrau. Sie war voller Angst, nach einer Scheidung mittellos im Armenhaus zu landen.
Ich hielt es deshalb für völlig ausgeschlossen, dass sie mich irgendwann verlassen könnte und bemerkte nicht, dass das Schiff unserer Ehe langsam aber unaufhaltsam sank. Während ich im Maschinenraum noch Kohlen ins Feuer schaufelte, lief der Kapelle auf dem Deck bereits das Wasser in die Trompeten.
Die Hauptschuld am endgültigen Untergang trug jedoch ein anderer. An dieser Stelle betritt endlich die eigentliche Hauptfigur die Bühne. Vorhang auf für das Opfer. Applaus für Lars Hoffmann. Ja, lieber Leser, es ist an der Zeit, Ihnen die Person vorzustellen, die ich ermorden werde.
Er war ein guter Freund von mir. Nein, nicht nur ein guter, Lars war definitiv mein bester, obwohl er mich seltsamerweise ein wenig an meinen Vater erinnerte. Lars ging in unserem Haus ein und aus. Am Anfang kam er recht selten, dann wurden seine Besuche häufiger, bis er schließlich fast bei uns wohnte. Meine Frau mochte Lars Hoffmann nicht, sie verabscheute ihn geradezu.
Er war ein stiller Typ, der niemandem lange in die Augen sehen konnte. Vielleicht lag es an seiner Schüchternheit, vielleicht befürchtete er, jemand konnte den Wahnsinn in seinen Augen bemerken, vielleicht auch beides. Ja, lieber Leser, er war kein angenehmer Mensch.
Lars neigte zu spontanen Gewaltausbrüchen. Er war wie der Revolver beim Russisch-Roulette, man hatte in seiner Nähe stets die kalte Mündung an der Schläfe und hoffte, dass keine Kugel in der Kammer war. Wenn doch, so war es für den Betroffenen nicht sehr angenehm.
Meine Frau bekam einen seiner Gewaltausbrüche am eigenen Leibe zu spüren. Sie hatte im Laufe der Jahre einen regelrechten Hass auf ihn entwickelt und so kam es eines Abends zum unvermeidlichen Streit. Meine Frau kochte vor Wut und schrie Lars an, er solle schleunigst das Haus verlassen. Dieser saß mit einem Glas Whiskey in der Hand auf der Couch und starrte auf den Fußboden, als wäre im Muster des Teppichs die Formel für ewiges Leben verborgen. Ihn schien es nicht zu interessieren, dass meine eigentlich so zurückhaltende Frau wie eine Furie vor ihm stand und Gift spuckte. Doch seine augenscheinliche Ruhe täuschte. Ohne den Blick vom Boden abzuwenden stellte Lars das Whiskeyglas auf den Tisch, sprang unvermittelt auf und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht.
Meine Frau verließ mich noch am selben Abend und nahm nichts mit, außer einer gebrochenen Nase. Sie reichte kurz darauf die Scheidung ein, da sie wusste, dass ich Lars trotz dieses Ereignisses nicht einfach fortschicken konnte, zu eng war die Verbindung zwischen uns. Meine Frau zog die aus ihrer Sicht einzig richtige Konsequenz und verschwand. Das Schiff war gesunken, die Kulisse fiel endgültig.
Die Beziehung zwischen Lars und mir wurde enger denn je. Er klebte an mir wie eine Klette, begleitete mich sogar in mein Büro bei der Zeitung.
Unter seinem Einfluss stürzten meine beruflichen Leistungen in den Keller, brachen sich dabei das Genick und begannen langsam zu verwesen. Als mein Chef den üblen Gestank wahrnahm und mich in sein Büro zitierte, rastete Lars aus und schlug ihn mit einem Regenschirm. Unnötig zu erwähnen, dass ich nicht mehr bei der Zeitung arbeite.
An dieser Stelle endet die kurze Geschichtsstunde. Vielleicht verstehen sie jetzt, warum ich Lars Hoffmann töten werde. Ich habe erkannt, dass er nie ein Freund war, sondern mein ärgster Feind. Ihn zu töten ist die einzige Möglichkeit für mich, endlich frei zu sein. Ich kann nicht mehr aus dem Haus gehen, ohne dass er bei mir ist. Wenn ich esse, isst er mit mir, wenn ich schlafe, schläft er ebenfalls in meinem Bett. Selbst jetzt steht er hinter meinem Stuhl und sieht mir über die Schulter.
Lars war der Mann hinter der Kulisse. Er beschränkte sich zunächst darauf, ab und zu durchs Bild zu laufen, doch irgendwann fand er Gefallen, daran, auf der Bühne zu stehen. Die Kulisse konnte ihn nicht mehr verstecken, er wurde langsam aber sicher zum Hauptdarsteller. Als die Konstruktion in sich zusammenstürzte, trat er endgültig ins Rampenlicht.
Meine Vergangenheit hat mich letztendlich eingeholt. Die Erinnerungen sind nicht in der dunklen Gasse verhungert, sie leben in Lars Hoffmann, sie leben in mir, denn ich bin er.
Ja, lieber Leser, es wird sie wahrscheinlich nicht überraschen, dass mein Name Lars Hoffmann ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und verabschiede mich, denn es ist Zeit, die Bühne zu verlassen. Der letzte Vorhang ist gefallen.

 

Hallo MrPotato

erstmal herzlich Willkommen auf kg.de.
Gespannt hab ich deine Geschichte gelesen. Durch deinen flüssigen Schreibstil wurde mir keine Sekunde zu lange. Den Spannungsbogen langsam gespannt und am Schluss abgeschoßen. So sollte sich eine schöne Geschichte lesen lassen. Das Thema fand ich auch sehr interessant, durch den schizophrenen Zustand des Prot. der bis zum Ende nicht durchschaubar war.
Hab sie gerne gelesen

Morpheus

 

Hallo Morpheus

Vielen Dank für deine Kritik. Freut mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat!

 

hey Mr Potato,

mein erster eindruck über deine kg: verdammt cool!!

pia

 

Hallo MrPotato,

kennst du den Anfang von "Spiderman"? Eine Stimme aus dem Off sagt: "Ihr wollt wissen wer ich bin? Ihr wollt es wirklich wissen?"

Das hat mich sehr beeindruckt, als ich es gesehen habe, weil eine enorme Spannung aufgebaut wird. Deshalb habe ich mir vorgenommen, das zum Anfang einer meiner Geschichten zu machen. Jetzt lasse ich das aber lieber, weil du es hier viel besser gemacht hast. Die Ansprache des Lesers wirkt sehr intensiv, und der Text, der dann folgt, wird dem Anfang voll gerecht.

Großartig.

Beste Grüße
knagorny

 

Hi knagorny!

Vielen Dank für deine nette Kritik. Spiderman habe ich leider nicht gesehen, werde ich bestimmt aber irgendwann nachholen.

Deshalb habe ich mir vorgenommen, das zum Anfang einer meiner Geschichten zu machen. Jetzt lasse ich das aber lieber, weil du es hier viel besser gemacht hast.

Ach, sooo gut ist meine Geschichte doch auch wieder nicht, dass sie alles mit ähnlicher Thematik automatisch in den Schatten stellt.

Nochmal an alle: Vielen Dank fürs Lesen und für eure Kritiken!!

 

Hey MrPotato!
*wink* Noch ne kritik mit verspätung...
Mir hat die Geschichte super gut gefallen! Dein Prot hat so eine eiskalte Art sein Leben zu schildern, und wie er den Leser anspricht ist genau richtig find ich, nicht zu aufdringlich und extrem neugierig machend.
Das Ende hat mich überrascht, klasse! Und dass du immer wieder das Bild von der Bühne/Kulisse/Darstellern bringst zieht sich so als Faden durhc die Geschichte...*schwärm* also das war's auch schon

LG
Peanutmonster :shy:

 

Vielen Dank für deine Kritik! Ich hoffe, in Kürze mal Zeit zu finden, meine zweite Geschichte zu vollenden...

 

Hi MrPotato,
du wolltest Kritiken,,,dann sollst du noch eine bekommen: ;)
Schlicht ist deine Geschichte und eben so eindrucksvoll. Am Anfang dachte ich nur, dass es wieder so eine klassische Selbstmordgeschichte wird. Ja – ich dachte schon bei Beginn an Selbstmord, nur nicht in dieser Art. Aber es ist eben keine klassische geworden.
Gefallen hat mir besonders deine Sprache. Nicht sonderlich bildreich, aber gute und ideenreiche Sätze!

Grüße...
morti

 

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