Kurt König
Ich springe aus dem Taxi, renne, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zu meinem Apartment direkt unterm Dach hoch, sperre die Tür auf, werfe meinen schicken Louis-Vuitton-Koffer in die Ecke, wie ich meinen schicken Louis-Vuitton-Kofferimmer in die Ecke werfe, meinen immer auf die gleiche Weise gepackten schicken Louis-Vuitton-Koffer, zwei monochrome Hemden, zwei monochrome Krawatten, zwei monochrome Unterhosen, monochrome Socken, monochrome Unterhemden, und diesen Esoterik-Schrott über Erleuchtung, den mir Carlotta mit den Worten geschenkt hat, es würde mir bestimmt guttun, mich mal ein bisschen mit Spiritualität auseinanderzusetzen, meine spirituelle Ader zu entdecken, und den ich, auch wenn ich mit Carlotta, mit der mich mal ein Verhältnis, eine Affäre oder tatsächlich Liebe oder wie auch immer man das heute noch nennen kann oder will, verband, schon lange keinen Kontakt mehr habe, immer auf meine Geschäftsreisen mitnehme, keine Ahnung, warum, dann aber doch nie lese, nachts im Hotelzimmer, in Chicago, Lissabon oder neulich in diesem idiotischen Wiesbadener Hotel, in dem, wenn man das Zimmer betritt, auf einem Bildschirm plötzlich ein Kaminfeuer angeht, das wahlweise mit Panflötenmusik oder Harfenklängen oder sonstigem Entspannungsgedudel, das Carlotta, ich erinnere mich, ich erinnere mich, ich erinnere mich, bestimmt gefallen hätte, untermalt werden kann, und dann, jetzt und als wäre das Aufprallen meines schicken Louis-Vuitton-Koffers auf dem blitzblanken Parkett ein Stichwort oder Kommando gewesen, klingelt plötzlich, mein Festnetztelefon und ich denke schon, es ist Carlotta, Carlotta, Carlotta, aber es ist nicht Carlotta, sonder Kurt König, mein Nachbar, der nicht mein wirklicher Nachbar ist, aber mit mir in derselben Straße wohnt und den ich, nachdem er, ein Vertreter der bildungsfernen Schichten und des abgehängten Prekariats und ein echtes Berliner Original, mich mal beim Bäcker anquatschte und ich Idiot mich tatsächlich darauf einließ, keine Ahnung, warum, keine Ahnung, keine Ahnung, nun an der Backe habe und den ich, mir immer wieder, nachdem ich Idiot ihm auf sein Drängen hin idiotischerweise meine Festnetznummer gegeben hatte, nicht mehr loswerde, und der dann, jetzt, plötzlich und mit weinerlicher Stimme, sagt, dass ihm, dem, wie ich ja wüsste, das Glück im Arsch erfroren sei, das Wasser mal wieder bis zum Hals stehe und dass er sich, wenn nicht schnell etwas passiere, gleich an der Lampe aufhängen wolle, woraufhin ich, auch wenn es nicht das erste Mal ist, dass Kurt König anruft und sagt, dass ihm das Wasser mal wieder bis zum Hals stehe und dass er sich, wenn nicht schnell etwas passiere, gleich an der Lampe aufhängen wolle, mich breitschlagen lasse, mich mit ihm beim Bäcker zu treffen, zwecks Lagebesprechung. Und dann, jetzt, etwas später, sitze ich schon im türkische Café Harmonie in der Ystader Straße und warte, in meinem Latte Macchiato rührend, jetzt, und jetzt, und jetzt, auf Kurt König, der, obwohl gerade mal Anfang 40, aufgrund seiner Manie und seinen Depressionen schon Frührentner ist und sich seine magere Rente mit einem Scheißjob als Klomann beim Mauerparkflohmarkt aufpoliert, aber nie damit auskommt, es reicht, so jedenfalls Kurt König mit wässrig blauen Augen und Dackelblick, vorn und hinten nicht, was natürlich auch kein Wunder ist bei den ganzen Zigaretten, die er ununterbrochen raucht, und dem ganzen Schnaps, nicht die billigsten Marken, den er ständig trinkt, und den ganzen Pornos, die sich Kurt König, wie er mir erfrischend unverblümt einmal beichtete, immer wieder reinzieht, und die Miete muss schließlich auch noch bezahlt werden, die ganzen Stromkosten, die ganzen Nebenkosten, die ganzen sonstigen Lebenshaltungskosten und auch die ganzen Geldstrafen wegen den ganzen Schlägereien, in die Kurt König, der, was vermutlich mit seiner Depression zusammenhängt, leicht reizbar ist, immer wieder gerät, Kurt König, die arme Sau, denke ich, in meinem Latte Macchiato rührend, jetzt, und jetzt, und jetzt, aber Kurt König ist natürlich nicht nur eine arme Sau, sondern auch ein schlauer Hund, der ganz genau spürt, dass ich ein naiver Trottel bin, der sich, warum auch immer, warum auch immer, warum auch immer, denke ich, in meinem Latte Macchiato rührend, in meinem Latte Macchiato, immer wieder bereit dafür ist, sich von ihm ein Ohr abkauen zu lassen und ihm einen Kaffee auszugeben und sich von ihm nach seinen tränenerstickt hervorgebrachten Hilferufen und Ankündigungen, sich, weil ihm nun mal, wie ich wisse, das Glück im Arsch erfroren sei und ihm das Wasser wieder mal bis zum Hals stehe, gleich an der Lampe aufhängen zu wollen, wieder anpumpen zu lassen, und sich von ihm in aller Öffentlichkeit, beispielsweise Aysche gegenüber, der bildschönen und blutjungen Bedienung des Bäckereicafés Harmonie, als seine allerbeste Pumpstation anpreisen lässt und ihm immer wieder aus der Patsche hilft, in der er natürlich immer wieder landet, weil ich natürlich nicht Kurt Königs einzige Pumpstation bin, es nämlich schier unzählige andere Pumpstationen gibt, und so ein fataler Pumpkreislauf entsteht, weil er, Kurt König, wie er mir, mich mit seinen wässrig blauen Augen samt Hundeblick ansehend, freimütig gestand, seine Schulden bei einer alten Pumpstation immer nur zurückzahlen kann, indem er eine neue Pumpstation anzapft, ein teuflisches System, das natürlich immer wieder zusammenbricht, woraufhin auch Kurt König zusammenbricht und mich, die Mutter aller Pumpstationen, wie er mich manchmal nennt, anruft und sagt, dass er sich an der Lampe aufhängen wolle, woraufhin ich natürlich jedesmal einschreite und Kurt König rette, wie ich ihn natürlich diesmal wieder retten werde. Ich werde Kurt König wieder retten. Sage ich mir. Ich werde Kurt König diesmal nicht mehr retten. Sage ich mir. Ich werde Kurt König nur noch ein einziges Mal retten. Sage ich mir. In meinem Latte Macchiato rührend. Jetzt. Und jetzt. Und jetzt. Und denke dann, jetzt. in diesem magischen Moment, in dem Aysche mich, wie ich es mir jedenfalls einbilde, anlächelt, dass Kurt Königs Pumpkreislauf endlich und endgültig gestoppt werden, Kurt König ein für allemal gerettet werden muss, und beschließe, dass ich, wenn Kurt König auf einer Papierserviette des türkischen Bäckereicafés Harmonie einen Vertrag unterschreibt, in dem festgehalten ist, dass er, Kurt König, mich und auch sonst niemand jemals wieder als Pumpstation benutzen wird, alle seine Schulden übernehmen und sogar noch was drauflegen werde. Ich rühre in meinem Latte Macchiato. Jetzt. Und jetzt. Und jetzt. Und warte auf Kurt König. Aber Kurt König kommt nicht. Kurt König hat sich, wie ich von Ayshe Wochen später erfahren werde, tatsächlich an seiner Lampe aufgehängt.