Was ist neu

Lea

Mitglied
Beitritt
21.05.2003
Beiträge
4

Lea

Es schien ein unbarmherziger Winter zu werden. Er kam dieses ohne Vorwarnung, und hüllte uns in eisige Kälte. Über Warschau lag ein Nebel des Grauens und des Todes. Ich stand am Fenster des Schlafzimmers und schaute über die Dächer der Stadt. Ich liebte meine Stadt. Und ich liebte sie jetzt, auch wenn sie nun geteilt war.
Anja rief von unten, der Tee wäre fertig. Ich zog mir meine Uniform über, die mir inzwischen in Leib und Blut übergegangen war. Selbst wenn ich sie abends ausgezogen hatte, schien es mir, als wenn ich sie immer noch anhätte. Anja stand unten am Herd, und bereitete das Frühstück für unsere Kinder vor. Debora und Ruben. Meine Frau vermied in letzter Zeit den Blickkontakt mit mir. Sie wusste, wie sehr ich sie und die Kinder liebte, und alles nur für sie tat. Aber sie konnte den Verrat, den ich beging nicht verdrängen, nicht so wie ich. Der Tee und das Brot mit Marmelade, eine Selbstverständlichkeit, die für viele keine Selbstverständlichkeit mehr war, waren schnell verzehrt. Ich drückte Anja einen Kuss auf die Wange, und verließ das Haus. Draußen schlug mir der eisige Wind ins Gesicht. Ich war den ganzen Vormittag als Wache eingesetzt worden. Jurek stand schon an der Mauer, und wartete auf mich. Er war einen Kopf größer als ich, und sein dünnes, hageres Gesicht war von dem Wetter verzehrt. „Scheiß Kälte.“ begrüßte er mich. Ich kannte Jurek seit Kindertagen, und wir hatten uns beide für diesen Weg entschieden. Wir wollten überleben. Der Vormittag verging relativ schnell, wir absolvierten unsere Patrouille, holten uns ab und zu einen heißen Kaffee, und froren uns die Beine ab. Zwischendurch hörten wir, dass irgendwo Schüsse fielen. Wieder so ein Dummer, der versucht hatte auf die andere Seite zu gelangen. Eine dreiviertel Stunde später kamen wir an der Stelle vorbei, wo die Schüsse gefallen waren. Der Junge, den der Hunger nach Brot von zu Hause weggetrieben hatte, lag auf dem Bauch im Schnee. Er trug nur noch seine Unterwäsche. Die Schuhe, Hose, Mantel und das Hemd - falls er sie besessen hatte - hatten schon vor mehr als einer halben Ewigkeit den Besitzer gewechselt. Wenn man die Anziehsachen nicht selber brauchte, taugten sie immer noch als Tauschware. Kurz vor der Mittagspause lotsen wir noch einen Karren mit Leichen auf die andere Seite. Die nackten, abgemagerten Glieder streckten sich hilflos in alle Himmelsrichtungen. Gott sei Dank lenkte die Mittagspause von trüben Gedanken ab, und der verlockende Geruch von dampfendem Eintopf ließ einen schnell das Übel vergessen, das wir am Vormittag gesehen hatten.
Am Nachmittag wurden wir zum Umschlagplatz1) beordert. Da wir uns gerade am Krasinskis Platz befanden, und nicht um das Ghetto herum laufen wollten, beschlossen wir die Franciskanska Strasse und die Zamenhof Strasse durchs Ghetto zu nehmen. Am Umschlagplatz warteten pünktlich die Züge. Die Ukrainer2) hatten die Laderampen schon aufgestellt, und mit der heutigen Deportation begonnen. Jurek und ich sollten dafür sorgen, dass die Juden ohne Probleme verladen wurden. Eine Frau hielt ihr Baby fest an die Brust gedrückt. „Wohin bringen sie uns?“ fragte sie eine Blauen3), der sie unsanft vor sich herschubste. „Warum sagen sie uns denn nicht, wohin sie uns bringen?“ Der Blaue fletschte die Zähne „Das hat dich nicht zu interessieren, jüdische Hure.“ Sie verschwand in dem Wagon. „Lassen sie mich los!“ Die Stimme kannte ich. „Sie sollen mich loslassen!“ „Aber Dr. Korczak4), sie sind doch befreit, sie sollen nicht mit.“ Dr. Korczak stand in Mitten seiner Kinder. Die vielen, kleinen Kinderköpfen waren kaum zum zählen, es waren über 150. „Ich gehe mit!“ Korczak blitzte den Blauen böse an, der mit dem Kopf schüttelte „Wenn sie mich daran hindern wollen, dann erschießen sie mich. Erschießen sie mich, jetzt und hier. Vor den Kindern.“ zischte er. Der Blaue ließ ihn los, und Dr. Korczak stieg in das stickige Innere des Wagons. „Wohin fahren wir, Onkel Janusz?“ fragte ihn ein kleiner Junge. Der Doktor kam nicht dazu zu antworten. Eine Mutter fing an zu schreien „Lea, Lea! Wo ist Lea?“ Es entstand ein Tumult auf der Rampe. „Ruhe!“ ein Ukrainer unterbrach das Chaos. „Hier geht schon keiner verloren. Schließt die Türen!“ Noch ehe jemand Einspruch erheben konnte, wurden die Wagontüren geschlossen. „Der nächste Zug nach Treblinka kommt bestimmt.“ sagte er und schnäuzte in sein vornehmes Taschentuch, dass den Namen Clara Gretchow eingestickt hatte. „Los, du und du.“ Das war an uns gerichtet. „Sucht die kleine Judengöre. Der letzte Zug fährt heute um 16.30h.“ Jurek nickte, wir kannten die Familie und das gesuchte Mädchen, und verließen den Umschlagplatz.
Wir gingen als erstes zum Krankenhaus, dass ironischerweise die Deutschen eingerichtet hatten. Wir wussten, dass der Widerstand das Krankenhaus gerne benutzte, um Juden zu retten, die für die Deportation gedacht waren. Ein weißer Kittel zum Schichtwechsel reichte oft schon. Oft nahmen die Krankenschwester auch Kinder und gaben sie für die ihren aus. Wir wussten das, und schwiegen. Natürlich nicht umsonst. Im Krankenhaus wusste heute natürlich niemand von irgendwas. Ich war müde, die Deportationen waren immer anstrengend. Jurek ging es genauso. „Weißt du,“ sagte er, als wir auf der Nalewki Strasse entlang gingen „wenn uns gleich ein Mädchen entgegenkommt, dann nehmen wir das, egal ob’s die Richtige ist oder nicht.“ Ich nickte. Ich wollte nur noch nach Hause ins Bett. Langsam und schwerfällig trabten wir die Strasse entlang, bis wir plötzlich Gekreische und Gebrülle hörten.
Um die Ecke sahen wir die Schweinerei. Eine jüdische Familie war wohl für die heutige Deportation ausgewählt worden, und hatte versucht, sich zu verstecken. Die Deutschen schätzten so etwas ganz und gar nicht. Einer der SS-Männer prügelte auf die am Boden liegende Frau ein. Ein anderer stand lachend an die Mauer gelehnt. Zu seinen Füßen lag der Vater, auf dem Bauch. Daneben ein Junge. Ich konnte nicht sagen, wie alt er war, man hatte ihm ins Gesicht geschossen. Die Mutter hörte auf zu wimmern. Ich schaute Jurek an, ihm standen Tränen in den Augen. „Jurek, was ist? Reiß dich zusammen.“ „Recht hast du. Verdammt. Sind sie doch selber schuld.“ Der SS-Mann, der sich gerade noch an die Wand gelehnt hatte, sah zu uns herüber. „Hey, ihr. Was macht ihr hier?“ „Wir suchen eine kleine Judengöre.“ rief Jurek. „So?“ er lächelte auf eine komische Art und Weise, die mir Gänsehaut bereitete, und ging einen Schritt auf uns zu. „Judenpack.“ sagte er halblaut „Verdammtes Judenpack. Die verraten auch jeden und alles, wenn es sich nur auszahlt. Ein Mädchen sucht ihr, ja?“ Jurek runzelte die Stirn „Ja.“ „Sag deinen Namen.“ lallte er. „Der ist betrunken.“ sagte ich zu Jurek auf polnisch. „Hey, ihr Ratten!“ schimpfte er zu uns rüber „Deinen Namen will ich wissen.“ „Jurek Dawidowicz.“ Die beiden lachten komisch „Gut, Juräk Dawidowitsch. Sag Hallo zu deinem Gott!” Er riss sein Gewehr hoch und feuerte. Ich stolperte vor Schreck, und fiel hin. Jurek hingegen hatte aus einem Reflex heraus seine Pistole gezogen, und feuerte ebenfalls. Der Deutsche war betrunken, und hatte so niemanden getroffen. Jurek war nüchtern, und hätte selbst im betrunkenen Zustand einen Vogel vom nächsten Baum holen können. Und Jurek traf. Der SS-Mann wankte, fasste sich an den Bauch, und schaute erst verwundert auf Jurek, starrte dann ins Leere. Er fiel wie ein Stein, und stand nicht mehr auf. Der Andere schaute erst genauso erstaunt wie sein Kollege, dann verzog sich sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze. Er stürmte auf Jurek zu „Du Schwein, du dreckiges Judenschwein!“. Wie ein Besessener schlug er Jurek den Bolzen seines Gewehrs in Gesicht, wieder und immer wieder. Jurek, überrumpelt, ging zu Boden. Er versuchte sich zu wehren, doch gegen die blanke Wut des Deutschen war er hilflos. Sein Kopf zerbarst unter den Schlägen des Deutschen, der laut schnaufte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf den Mann, der gerade meinen Freund erschlug. Plötzlich hielt er inne, und sah mich an. Er atmete schwer, und das Blut seines Opfers tropfte ihm vom Gesicht. Ich war unfähig mich zu rühren, und versuchte nach Luft zu schnappen. Er stank nach Alkohol, und der Geruch wurde immer stärker, desto näher er mir kam. „Ihr habt meinen Freund umgebracht..“ lallte er schwerfällig. Plötzlich huschte ein Schatten hinter ihm hin und her.
Ich versuchte mich rückwärts von dem Deutschen zu entfernen, der sich immer noch zu überlegen schien, ob und wie er mich töten wolle. Er ließ sich nach hinten fallen, und saß mir nun gegenüber. Er starrte mich an, die Augen zusammengekniffen. Er nuschelte etwas auf Deutsch, was ich nicht verstand. Seine rechte Hand glitt, fast unmerklich, an seiner rechten Seite entlang. Langsam öffnete er den Halfter, und zog gemächlich seine Waffe. Er verzog seine Mundwinkel. „Du scheiß beschissener Pole. Ist das der Dank?“ grölte er mir entgegen. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. „Ist das der Dank?“ Dann sah ich sie. Ihre großen, dunklen Augen waren auf den Deutschen gerichtet. Sie kniete sich leise nieder, und ihre kleinen, dünnen Finger glitten über die am Boden liegenden Steine, bis sie einen fand, der ihren Ansprüchen genügte. Ihr Mund war halb geöffnet, während sie den Stein, der viel zu schwer erschien, langsam und lautlos aufhob. Der Deutsche hatte sie nicht gesehen, zielte immer noch mit einem abgrundtiefen Grinsen auf mich. „Du hast nichts zu sagen, was Jude? Ich habe nichts anderes erwartet..“ Er entsicherte die Waffe, und im gleichen Moment schnellte sie nach oben, hob den Stein über ihren Kopf, und ließ ihn auf den Deutschen niedersausen. Ein Schwall Blut kam ihr entgegen, mit solcher Wucht hatte sie den Stein auf ihn geschlagen. Sie kniff die Augen fest zusammen, als es auf sie spritzte. Sie ließ den Stein fallen, und stand völlig entkräftet hinter dem Deutschen, der nach vorne weggesackt war. Ihre Lippen zitterten, und sie ballte ihre Fäuste fest zusammen. Ich spürte, wie eine Welle der Übelkeit und des Ekels über mich kam, und krabbelte auf allen Vieren von der Stelle weg, an dem die beiden Toten lagen. Ich übergab mich solange, bis ich nur noch Galle spuckte. Ich schnappte nach Luft, und versuchte verzweifelt, mich aufzurappeln. Als ich meinen Blick wieder auf die Stelle richtete, stand sie immer noch da. Langsam stand ich auf, wischte mir mit dem Ärmel über den Mund, und ging auf sie zu. Sie schaute mich mit ihren großen Augen an. Ihre Haare hingen ihr im Gesicht, und eine Träne floss ihr langsam die linke Wange entlang. Ich streckte die Hand nach ihr aus „Wir haben dich gesucht, Lea.“ Sie stieg über den Leichnam des Deutschen und ergriff meine Hand. „Wo soll ich dich denn nun bloß hinbringen?“ fragte ich hilflos, und ich wusste in diesem Moment nicht genau, an wen ich die Frage richtete. „Nach Hause,“ hauchte sie „nach Hause.“ Ich schloss die Augen. Das hier würde Konsequenzen haben.
Ich nahm sie auf den Arm, und wankte die Franciskanka Strasse entlang. Vier Blaue kamen mir entgegen. „Was ist los?“ fragte der Kommandant. Ich drückte das Gesicht der Kleinen fest an meine Schulter. „Ein Überfall. Zwei Deutsche und einer vom jüdischen Ordnungsdienst sind tot.“ Der Kommandant schnalzte mit der Zunge „Wer war dafür verantwortlich?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich welche von der ZOB5). Ich kannte sie nicht.“ „Und das,“ er zeigte auf Lea „wer ist das?“ „Meine Tochter. Debora. Ich war mit ihr beim Krankenhaus, und gerade auf dem Weg nach Hause.“ Er nickte. „Gut, wir übernehmen das.“ Ich ging an ihnen vorbei. Zum Umschlagplatz konnte ich sie nicht bringen. Ins Heim ebenfalls nicht, denn Dr. Korczak war schon auf dem Weg nach Treblinka, oder nach Trawniki6). Und ich? Wo sollte ich hin? Die Deutschen waren nicht dumm, sie würden sehen, was wirklich passiert war. Ich hatte meinen besten Freund verloren. Und meine Lebensversicherung. Die Uniform, die ich trug, war nichts mehr wert. Ich hatte umsonst mein Volk verraten, mich selbst verraten. Ich spürte wieder, wie mir übel wurde, und setzte die Kleine ab. Ihr Gesicht war immer noch von Blutsprenkeln übersät. „Komm,“ sagte ich „ich bring dich erst mal zu mir.“ Ich nahm sie an der Hand, die sie bereitwillig ergriff, und wir gingen schnellen Schrittes nach Hause.
Debora und Ruben waren in der Schule, und Anja war entsetzt, als sie uns sah. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie Lea mit in die Küche, zog ihr die Sachen aus, und wusch ihr das Gesicht. „Geh und hol mir ein paar Sachen von Debora. Das müsste ihr passen.“ Ich eilte ins Kinderzimmer, und holte die Sachen. Lea ließ alles widerstandslos über sich ergehen. Anja machte ihre eine Brotschnitte, und zog mich dann in den Flur „Du weißt, dass ich dich liebe,“ flüsterte sie „und ich weiß, dass du alles nur für uns getan hast. Ich will gar nicht wissen, was du alles getan hast, und was heute passiert ist, ich will nur wissen, ob du weißt, was du jetzt tun willst.“ Ich senkte den Blick. Sie küsste mich auf die Stirn, und ging wieder in die Küche. Ich schaute den beiden noch ein paar Minuten zu, dann nahm ich meinen Mantel, und verließ das Haus.
Eine halbe Stunde später saß ich in einem ZOB-Versteck im Bürstenmacherviertel Mordechaj Anielewicz und Yitzhak Zuckermann gegenüber.

Heute frage ich mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn Lea damals am Umschlagplatz gewesen wäre, wo sie hingehört hätte. Wenn wir sie nicht hätten suchen müssen. Wenn wir nicht auf die Deutschen gestoßen wären. Und wenn Lea mir nicht das Leben gerettet hätte. Ich frage mich, ob ich dann je wieder in einen Spiegel gucken könnte, ohne mich übergeben zu müssen.

Erläuterungen
1.) Umschlagplatz: der Umschlagplatz lag nördlich vom Warschauer Ghetto und war die Zugverbindung des Ghettos zu den Arbeits- und Konzentrationslagern.
2.) Ukrainer: von der SS und der Wehrmacht rekrutierte Ukrainer, größtenteils sehr brutal.
3.) Blaue: polnische, nicht jüdische, Polizei
4.) Dr. Janusz Korczak führte das Waisenhaus des Warschauer Ghettos, und ging mit seinen 200 Kindern zum Umschlagplatz. Er starb 1942 in Treblinka
5.) ZOB: (Zydowska Organizaga Bojowa) die jüdische Kampforganisation, unter der Führung von M. Anielewicz. Die ZOB hat Deportationen verhindert, einen regen (Waffen-)Schmuggel über die Grenze betrieben, Attentate auf die Besetzer ausgeführt, Exekutionen an Kollaborateure und Verräter vorgenommen u.a.
6.) Trawniki: Arbeits- und Konzentrationslager in der Nähe Lublins, errichtet für die Juden des Warschauer Ghettos. Im Winter 43 wurden alle Gefangenen erschossen.

 

Hi anna,

es ist immer schwierig, wenn man am Ende einer Kurzgeschichte erläuterungen geben muß. Wenn Du sie für wichtig erachtest, sollten sie in die Story einfließen. Dabei solltest Du aber darauf achten, dass Du Dich nicht in Ausscheifungen verlierst.

Außerdem denke ich, dass gerade am Anfang ein paar Absätze nicht schaden könnten. ;) Vor allem in den Dialogen solltest Du immer eine neue Zeile beginnen, wenn der Sprecher wechselt.


Gruß
Jörg

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom