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Leben

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17.08.2004
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Leben

Leben

Der Regen tropfte still und sachte gegen das Fenster, aus dem er hinaussah. Vor wenigen Minuten noch standen Menschen hier und sahen zu Boden. Sie blickten auf die kühle Erde, die das Grab nun bedeckte und nahmen noch Abschied. Dann hatte es begonnen, leise zu regnen und einer nach dem anderen waren sie mit ihren Autos und mit ihrer Trauer verschwunden und in die beginnende Dämmerung gefahren. Nur er war bis zum Schluss geblieben. Er blieb immer bis zum Schluss. Dann aber war auch seine Zeit des Abschieds gekommen. Er warf noch einen letzten Blick, drehte sich um und ging zurück in seine kleine Hütte.

Jeden Tag musste er Abschied nehmen. Von so vielen Menschen, die ihr Leben aushauchten und die ihm ihre Körper hinterließen. Jeden einzelnen Tag des Jahres stand er früh auf, holte seine Schaufel und hob irgendwo ein Grab aus. Manchmal, aber nur selten, fragte er sich, wie er das machen könne, wie er all die Gesichter und die Geister der Menschen um sich herum ertragen könne – all das Leiden, all die Hoffnungslosigkeit in den Augen all derer, die er kommen, stehen und wieder gehen sah.

Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen über den Gemeindefriedhof, bis auch sie sich in ihr Grab senkte um die Welt in Finsternis zu hüllen. Wenigstens kommt sie morgen, so Gott will, wieder zurück, dachte er bei sich und lachte leise. Er wischte seine Schaufel mit einem Tuch ab und hängte sie über den kleinen Ofen, den man ihm vor kurzem gewährt hatte.

Sein kleines Radio spielte die letzten Klänge einer Melodie, an die er sich erinnern konnte. Er spürte genau, wie er diese Melodie, diese stillen und schmerzvollen Klänge sein Herz berührten. Für einen kurzen Augenblick stand eine Erinnerung ganz nahe vor ihm, doch dann hatte seine Hand schon den Knopf zum Ausschalten gefunden und ihn gedreht. Die letzten Töne verschoben sich zu einer verzerrten Tonlage, die einem schreienden Gemüt entronnen zu sein schienen, und verstummten schließlich.

Er säuberte seine schweren Arbeitsschuhe und zog sich seinen Mantel an. Sein Rücken schmerzte und die Arbeit hatte sichtbare Spuren an seinen Händen hinterlassen, seine Finger zeugten vom täglichen Schaufeln. Er blickte sie fragend an, ob er mit jedem Menschen, den er zu Grabe trug auch ein Stück von sich selber beigegeben hatte. Noch bevor seine Hände die Möglichkeit hatten zu antworten, verbarg er sie in den Manteltaschen.

Als die Dunkelheit nun endgültig hereingebrochen war, machte er sich auf in die Stadt. Nie nahm er den Bus oder die Bahn, immer lief er den weiten Weg. Ihm war es wohl, jeden Tag diese Strecke zurücklegen, war sie doch für ihn eine Zeit der Entspannung und des Vergessens. Es war sein Leben.

Langsam schritt er den Bürgersteig entlang und blickte sorgsam um sich. All die Kleinigkeiten, die in einer Stadt geschehen, fielen ihm Tag für Tag ins Auge; ein überquellender Mülleimer am Straßenrand, aus dem der Wind einen Fetzen Papier stahl und sanft mit sich trug während Menschen auf den Bürgersteig entlang hasteten, das leise Zwitschern eines Vogels, inmitten hupender und sich bedrängender Autos.

Am Bahnhof machte er stets Halt. Jeden Tag kaufte er sich einen Becher Kaffee, den er im Stehen trank, während er auf die vier Gleise blickte, die seit der Renovierung und Umgestaltung des Hauptbahnhofs stillgelegt worden waren und nun vereinsamten. Die rostenden Stahlriesen waren von Moos und Schlingpflanzen überzogen. Wie Mahnmale eines schrecklichen Ereignisses standen sie im Halbdunkel. Doch nicht diese kalten Stahlträger hielten seinen Blick im Bann, sondern die kleinen roten Blüten der Schlingpflanzen. Züge donnerten rasant vorbei.

Der heiße Kaffee belebte zunächst seine schwieligen, kalten Finger, bevor er, die Kehle hinabrinnend, vom Bauch aus eine wohlige Wärme ausstrahlte. Menschen, die hektisch aus der Haupthalle des Bahnhofs strömten, schlugen die Krägen ihre Mäntel hoch und liefen frierend durch den Regen.

Als er den Becher geleert hatte, warf er ihn in den nächsten Mülleimer und machte sich wieder auf den Heimweg zu seinem Friedhof. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, stets nur auf den belebtesten Hauptstraßen zu gehen und alle Nebengässchen zu meiden. Hier fühlte er sich geborgen und sicher, hier war er nicht von Tod und Leid umgeben. Hier war das Leben. Sein Leben. Die Lichter und Geräusche verschmolzen in seinem Kopf, verwandelten sich in drehende Blumen und verflogen wieder. Er reihte sich ein in die Woge der Menschen und ließ sich treiben. Aus einer Bar hörte er ein Lied, das er schon kannte als er noch ein kleiner Junge war. Er blieb stehen und schloss seine Augen. Leise summte er die Melodie mit und spürte die Menschen, die rechts und links an ihm vorbei drangen.

 

Eine atmosphärisch sehr dichte Beschreibung: Einsamkeit, das Motive von Tod und Verfall im Abschalten des Radios, den überwucherten Gleisen. Das ist m.E. sehr gelungen, doch fehlt es der Geschichte noch an einer Begebenheit, es muß ja nicht gleich eine unerhörte sein. Könnte dem Alten, den Du entwirfst, nicht noch etwas widerfahren? Könnte nicht noch irgendetwas anders sein, ein neuer Gedanke kommen?

Drei technische Anmerkungen:

Wenigstens kommt sie morgen, so Gott will, wieder zurück, dachte er bei sich und lachte leise.

Der Satz wirkt ein wenig unbeholfen, er geht in jede Richtung einen Schritt. Soll das die Bedeutung sein?

Er blickte sie fragend an, ob er mit jedem Menschen, den er zu Grabe trug auch ein Stück von sich selber beigegeben hatte.

Das "ob" macht in dieser syntaktischen Struktur keinen Sinn. Auch finde ich den Schluß des Satzes ein wenig plump. Läßt sich der sehr interessante Gedanke nicht ein wenig kunstvoller, impliziter vielleicht, ausführen?

und lief die Strecke zurück

Vermutlich meinst Du 'gehen', denn 'laufen' heißt in der Hochsprache 'rennen'.

 

Erstmal danke für die Kritik - die Fehler werde ich überarbeiten.

Die Intention des Textes war folgende:
Ein Totengräber erkennt als einziger (aber nur ausserhalb seiner Hütte) das "Leben", während alle anderen Menschen kein Auge mehr für das "Leben" haben.

Ich versuchte das an mehreren Beispielen klar zu machen:
Das Radio in der Hütte wird abgedreht (Anfang) aber das Lied in der Bar (Ende) singt/summt er mit.
Ihm wird vom Kaffee warm, während alle Menschen aufgrund der Kälte die Mäntelkrägen hochschlagen.

(noch mehr Beispiele ...)
Vielleicht habe ich das nicht deutlich genug ausgedrückt.

 

hi malachy!
ich finde auch, dass du schön beschreibst, gute metaphern verwendest und dein stil gefällt mir!
doch muss auch ich sagen, dass ich deine geschichte gelsenen habe, ohne deine intention zu erkennen...ich habe mir etwas anderes dabei gedacht, aber ist es schlimm, wenn sich jeder ein bisschen ein eigenes bild macht?
eine hübsche kg jedenfalls!
liebe grüße,
frotte

 

@ Frotte: Ganz im Gegenteil - ich freue mich, wenn man sogar mehr drin sieht, als ich beschreiben wollte. :)

Schreib mir doch mal, was du wichtig an der Geschichte findest.

 

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