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Lebensabriss
Es fiel mir schwer, mich auf das Spiel zu konzentrieren. Aber Michi ließ mir kaum Raum, meine Gedanken zu ordnen. Genau wie in dem Zimmer, überall die Schmutzwäsche verstreut, sah es in mir drinnen aus. Die Gaukelbilder in meinem Kopf passten nicht zusammen, wie die Socken an Michis Füßen. Einer grün, einer rot.
Schau, mein neues Matchbox-Auto!“ Er fuhr mir mit diesen Mini-Gummireifen quer über das Gesicht und rubbelte anschließend mit dem Vehikel an meinem Hinterkopf. Dabei verhedderten sich meine Haare mit der Achse. Als er mitbekam, dass sein funkelnagelneuer Bolide an meinem Kopf festsaß, fummelte er mit seinen Knubbelfingern an mir herum und versuchte ihn zu befreien.
„Aua!“ Er zog und zerrte und ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich konnte uns in dem Spiegel beobachten, der an der Wand gegenüberstand. Der war schon blind, aber noch lange nicht so, dass er nicht den hochroten Kopf meines jüngeren Halbbruders einfangen konnte, der das Nest auf meinem Kopf immer schlimmer machte. Vor lauter Anstrengung kaute er auf der Unterlippe.
„Ich geh Mama holen“, sagt er.
Durch die geschlossene Kinderzimmertüre drangen Schreie.
„Nein. Lass nur.“ Ich robbte auf allen Vieren über den Socken und Unterhosenberg zu dem Schreibtisch und kämpfte mich durch Zeichenpapier, Uhu und abgebrochenen Buntstiften zu der Kinderschere durch. Michi kauerte vor dem Bett, beobachtete mich und drehte eine seiner blonden Locken um den Zeigefinger.
„Was machst du?“
„Ich schneid’s runter.“
Michi schnappte seinen Teddy und presste ihn sich auf den Mund. Das Fell am Ohr des Bären war schon ganz verklebt und pampig von Spucke, Rotz und Himbeersaft.
Das Geschrei im Wohnzimmer wurde lauter.
Ich spürte das Gewicht des hängenden Spielzeugautos und ertastete es mit meiner linken Hand. Meine rechte verrenkte sich unnatürlich nach hinten und mit einem schnellen „Schnipp“ hielt ich ein Metallauto in einem grässlichen Gelbton in den Händen. Um meine Frisur war es nicht schade, seit meine Oma meinte, sie müsse mir die Haare selber schneiden, um Geld zu sparen.
Michi sah schnell zu der geschlossenen Tür und lief dann in meine Richtung. Seine Stirn runzelte sich und er schaute kummervoll auf das Haarbüschel, das sich hartnäckig um die Reifen schlängelte.
Plötzlich wurde die Kinderzimmertüre aufgerissen.
„Zieht auch an. Wir gehen!“, schrie mein Vater ins Zimmer. Mein Herz pumpte wie verrückt und ich hatte das Gefühl, das, wenn man nur genau hinsah, beobachten konnte, wie es gegen den Brustkorb pochte.
„Komm.“ Ich nahm Michi bei der Hand und wir gingen in das Vorzimmer. Das Schluchzen aus dem Wohnzimmer lenkte mich ab und mein Versuch, ihm die Schuhe zu binden, wollte mir einfach nicht gelingen. Unbeholfen nestelten meine Finger an den Schuhbändern herum. Vater stand neben mir, sah auf mich herab und schrie, dass ich mich beeilen solle. Aber je lauter er wurde, desto nervöser wurde ich und so stopfte ich die Bänder schnell in Michis Socken. Als ich ihn ansah, bemerkte ich, dass ihm Tränen die Wangen hinunter kullerten.
„Ich nehme Senta mit, sie beschützt uns“, sagte ich zu ihm. Die Schäferhündin musste ich unter der Bank hervorziehen, um die Leine, eine schwere Hundekette, anlegen zu können. Mein Vater packte mich beim Genick und schubste mich aus der Wohnung.
Michi nahm den Hund, stapfte hinter uns her, und ein paar Minuten später fanden wir uns in dem abgefuckten Kaffeehaus wieder. Rauchschwaden hingen in der Luft, es roch nach alten Erbrochenen, Aschenbechern und literweise verschütteten Bier. Eine Handvoll Männer und zwei Frauen saßen um den Tresen. Mein Vater bestellte sein übliches Getränk, das aus weißem Wein und Sprudelwasser besteht.
„Leg dich!“ Senta kauerte sich unter eine Bank. Sie sah mich an, als ob sie alles verstand und wusste. An der Bar fing Papa eine Unterhaltung mit einer der zwei Frauen an. Sie trug einen schwarzen Minirock und ich dachte, dass sie jünger war, als sie aussah. Aber was wusste ich schon?
Der Wirt klimperte mit Kleingeld und drückte mir ein paar Münzen in die Hand. Mit seinem Kinn deutete er in die Richtung des Zauberautomaten und zwinkerte. Michi bekam von mir eine Münze, den Rest stopfte ich in meine Hosentasche. Ein Geldstück nach dem anderen wanderte in den Computerautomaten, der aussah, wie ein kleiner Tisch mit Bildschirm. Nach unzähligen zerstörten UFOs griff ich in meiner Hosentasche ins Leere. Inzwischen bildete ich mir ein, dass die Musik immer lauter und es im Lokal immer dunkler wurde.
„Mir ist langweilig.“ Um meinen Halbbruder zu beschäftigen, nahm ich die Bierdeckel und versuchte damit, ein Kartenhaus mit ihm zu bauen. Aber die Untersetzer waren gewellt und aufgeweicht und unser Gebäude fiel in sich zusammen.
Mein Vater bestellte und redete und bestellte und redete. Ich beobachtete seine tätowierten Hände, wie er deutete, wenn er versuchte, etwas zu erzählen. Drei Punkte, unterhalb des Daumens. Eine nackte Frau auf der Innenseite des Unterarms. Einen Anker, irgendeinen Freiheitskämpfer an der Außenseite.
Keine Ahnung, wie viel Zeit bereits vergangen war, aber es dauert mir zu lange. In meiner Magengegend dehnte sich ein Ballon aus und ich verspürte Übelkeit.
„Papa, können wir bitte nach Hause gehen?“
„Gleich. Spielt noch, wir gehen gleich.“
Michi ließ den Kopf und die Schultern hängen und sah aus wie eine Marionette, die gerade keinen Auftritt hat.
Wir saßen uns an einen der leeren Tische und ich versuchte, mich zu konzentrieren und eine Geschichte zu erzählen.
Michi nahm einen Zahnstocher und pullte damit den Dreck aus der Ritze, wo zwei Tische aneinander standen.
„Ich bin müde.“
„Ja, ich auch.“
Ich überlegte, ob es klug wäre, noch mal den Vater darum zu bitten, gehen zu dürfen. Ich entschied, dass es wahrscheinlich nicht vernünftig aber notwendig wäre, denn ich hatte auf einmal das Gefühl, es keine Minute länger dort auszuhalten. Meinen ganzen Mut zusammen nehmend, schlurfte ich an die Bar. Meine Stimme klang so tattrig, als hätte eine alte Frau gesprochen. Die Knie fühlten sich weich an und sie konnten jeden Augenblick nachgeben.
Die Antwort meines Vaters fiel so aus wie zuvor, konträr zu seinem Verhalten. Er grinste mich an und tätschelte mir mit seiner riesigen Pranke den Hinterkopf, dort wo ein fünf Zentimeter langes Haarbüschel abstand. Plötzlich merkte ich, dass ich mich nicht mehr länger beherrschen konnte und lief auf die Toilette. Wimmern und Schluchzen entstanden in meiner Brust und drang an die Oberfläche. Die Tränen rannen und ich konnte überhaupt nichts an dieser Situation ändern. Die Frau in dem Mini betrat den Waschraum und sah mich traurig an. Unter ihren Augen klebte etwas schwarze Wimperntusche und als sie mich ansprach, glänzte der rote Lippenstift auf ihren Zähnen.
„Wieso weinst du? Willst du nach Hause?“
Ich nickte nur und einen bescheuerten Moment lang hoffte ich, dass sie uns helfen würde. Sie nahm mich in den Arm und ihre Duftwolke drang in meine Nase. Eine Mischung aus Alkohol, Zigaretten und Veilchen. Michi tauchte hinter ihr auf. Mit seinen Patschhänden versuchte er, meine Wangen abzutrocknen.
„Nicht weinen.“
Aber das er sich Sorgen um mich machte, brachte mich nur noch mehr zum Heulen. Langsam gingen wir über die grünstichigen Fliesen hinaus und über den dunkelbraunen, mit grauen Dreckspuren überzogenen Teppich, zurück in die verrauchte Bude. Die Frau hatte noch immer einen Arm um mich gelegt und Michi hielt sich an meinem rechten Bein fest, als wir zur Bar stolperten.
Mein Vater spendierte gerade fremden Leuten ein Getränk und meinte zum Wirt, er solle „anschreiben“, als meine Stiefmutter in die Spelunke kam. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn ich dachte ehrlich, sie würde uns abholen.
Doch sie schrie, ging auf meinen Vater zu, riss ihm sein Glas aus der Hand und leerte ihm den Rest des Weines ins Gesicht. Er griff ihre Hand und schleuderte sie weg, das Glas fiel ihr aus der Hand und krachte klirrend gegen die Theke. Scharenweise ergossen sich kleine Splitter auf dem braunen Teppich.
Sie glitzerten im schalen Licht wie kleine Diamanten.
Der Wirt kam hervor und zerrte die beiden aus dem Lokal. Endlich löste sich meine Starre und ich schnappte Michi, die Leine, und rief meine Hündin. Wir folgten meinem Vater und meiner Stiefmutter hinaus auf die Gasse. Der frische Wind wehte um meine Nase. Es war bereits stockdunkel und roch nach Nebel.
Der Supermarkt war gerade am Zusperren und viele Hausfrauen verließen hastig mit riesigen Einkaufssäcken das Geschäft. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, als mein Vater die Hundekette aus meiner Hand riss. Automatisch zuckte ich zusammen, denn ich dachte, dass ich jetzt etwas abbekommen würde. Aber er ging zu meiner Stiefmutter und schlug mit der Kette auf sie ein. Er holte aus und sie zischte, wie die Peitsche, die in seinem Schlafzimmer hing. Immer und immer wieder. Sein Mund verzerrte sich und seine Adern traten an Hals und Schläfe hervor. Die Menschen liefen vorbei, schauten und tuschelten, aber es half uns niemand.
Als Michi zu schreien anfing, drückte ich sein Gesicht in meine Jacke, sodass er nichts mehr sehen konnte, und führte ihn weg. Nachdem wir so zweimal um eine Ecke bogen, merkte ich, dass meine Schäferhündin weg war und Michi nur mehr einen Schuh anhatte. Das war meine Schuld, weil ich ihn nicht richtig zubinden konnte.
„Ich muss dich tragen.“
Michi stieg auf eine Parkbank und hüpfte mir auf den Rücken. So wankten wir herum und ich suchte nach Senta. Meine Stimme war brüchig, weit entfernt und ich hatte eine Scheißangst, dass ich sie nicht finden würde, aber wenigstens hörte Michi auf, zu heulen. Er trat mir mit seinem schuhlosen Fuß in die Seite und spielte, dass ich sein Pferd bin.
Verloren stand ich an einer Kreuzung und mein Blick schweifte auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort sah ich meine Hündin. Sie blieb ruhig sitzen und wartete auf mich. Erleichtert strich ich über ihre Samtohren und hielt sie an ihrem Flohhalsband fest. Ich wusste nicht, wohin wir nun gehen sollten und ärgerte mich, dass ich alle Münzen in den bescheuerten Automaten geworfen hatte, so konnte ich nicht mal Mama anrufen.
Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte vollgestopft und weil mir nichts weiter einfiel, ging ich mit dem Kleinen am Rücken und meinem Hund an der Seite wieder zu der Wohnung meines Vaters. Ich hatte die Hoffnung, dass er vielleicht nicht zu Hause wäre oder bereits schläft und nur meine Stiefmutter öffnet. Ich klopfte leicht an der Wohnungstüre. Als sich nichts tat, drückte ich kurz die Klingel. Trotzdem schrillte diese viel zu laut.
„Ist Mama nicht zu Hause?“ Michi hatte ich inzwischen auf der Türmatte abgesetzt. Er gähnte und seine Lider hingen auf Halbmast.
„Doch, ich höre Schritte.“
Die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt und ich atmete tief durch, denn meine Stiefmutter lugte hervor. Ihre aufgeplatzte Lippe hatte bereits eine leichte Kruste, und als sie Michi aufhob und hinein trug, sah ich die Blutergüsse auf ihrem Unterarm.
„Ist Papa da?“
„Nein. Er ist noch weggegangen. Ihr geht am besten gleich schlafen.“
„Darf Senta ins Zimmer?“
Meine Stiefmutter nickte und schickte uns Zähne putzen. Michi zog seinen Pyjama, mit den bunten Autos darauf, an und schlüpfte in sein Bett. Ich lag am Boden auf der Matratze und meine Hündin lag neben mir, mit ihrem Kopf auf meinem Bauch. Später in der Nacht wurde ich wach, weil es im Wohnzimmer klopfte und knallte. Michi schlief neben mir und ich deckte ihn mit meiner Decke zu.
Am Morgen saßen wir bei einem Butterbrot, als das Telefon läutete.
„Du sollst gleich runter kommen, deine Mutter wartet gleich unten an der Ecke im Auto auf dich“, sagte meine Stiefmutter, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte.
Michi sah mich nicht an. Schon den ganzen Morgen sprach er nur mehr mit seinem Teddy und das Kinderzimmer war für mich verbotene Zone.
Aber als ich bei der Tür stand und gehen wollte, kam er doch und klammerte sich wieder an mein Bin.
„Warum gehst du?“
„Weil ich nach Hause muss.“
„Kann ich mitgehen?“
„Ich weiß nicht.“
Meine Stiefmutter pflückte Michi von mir runter: „Dein Vater schläft noch. Wir sehen uns. Machs gut.“
„Okay. Tschüss.“
Mit Senta an der Leine, verließ ich so schnell ich konnte, die Wohnung und stieg in den Aufzug, der mich fünfzehn Stockwerke nach unten brachte. Der blaue Golf meines Stiefvaters stand an der Ecke, meine Mutter am Beifahrersitz. Ich ließ meine Hündin auf die Rücksitzbank und setzte mich daneben. Als wir losfuhren, war ich so erleichtert, dass ich zum Weinen anfing, wie ein Schlosshund. Verwundert stellte ich fest, dass überhaupt noch Tränen in mir waren. Meine Mutter beugte sich nach hinten und fragte, was los sei. Nicht sicher, ob ich alles erzählen sollte, entschied ich mich lieber für eine Kurzversion, mehr brachte ich auch nicht über die Lippen.
„Du musst nicht mehr zum Papa, wenn du nicht magst.“
„Aber was ist dann mit Michi?“
„Ich weiß nicht. Du kannst es dir ja noch überlegen. Aber wenn du nicht mehr hingehen willst, dann ruf ihn an und sag es ihm.“
In der Nacht konnte ich kaum schlafen. Immer wieder wurde ich wach und dachte an Michi und was mit ihm passieren würde, wenn ich die Besuche einstelle. Trotzdem hatte ich tief in mir ein starkes Gefühl, dass ich kaputt gehe, wenn ich den Schritt der Ablösung nicht schaffen würde. Mein ganzer Körper zitterte, obwohl mir nicht kalt war. Ich zog mir die Decke über den Kopf, so wie ich es immer mache. Nur ein kleines Luftloch zum Atmen brauchte ich. Wie ein Sturm wütete es in mir. Wie schlecht bin ich, wenn ich ihn dort zurücklasse? Aber am Morgen stand meine Entscheidung fest.
Ich nahm den Hörer und wählte die Nummer meines Vaters.