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Letztverwertung
Er kam nicht aus der Hölle. Schon gar nicht aus dem Himmel. Er kam einfach durch den Wald.
Verborgen zwischen dichtem Buschwerk blieb Mark am Rande der Anhöhe stehen. Vor ihm fiel der Boden jäh ab, fing sich erst viele Meter tiefer wieder in einer saftigen Wiese. Mark ließ seinen Blick über das Gras wandern, hin zu dem Geviert voller Stände und Menschen.
Es war Sonntag.
Trödelmarkt.
Ein Festival des Tands, eine Zusammenkunft der trivialen Art.
Die einen brachten ihren Plunder, die anderen ihre Wühltischmentalität und ein wenig Geld. Und Mark...
Du bringst es nicht.
Seltsam, wie häufig er diesen Spruch in den letzten Monaten gehört hatte. Als hätte jemand das alte Schulhofspiel wiederaufleben lassen und ihm unbemerkt einen beschriebenen Zettel auf den Rücken geklebt, auf dem stets Dinge gestanden hatten wie „Klassenarsch“ oder „Meine Mutter lutscht ihn mir“, und die hohntriefend von allen Umstehenden vorgelesen wurden – nur, daß er damals noch auf der lachenden Seite gestanden hatte.
Du bringst es einfach nicht mehr!
Doch hier irrten die kalten Gelehrten der geistlos repetierten Worte. Mark brachte sehr wohl etwas. Dreieinhalb schwarze Kilo, verborgen in einem Rucksack, den er locker über seine linke Schulter gehängt hatte.
Beinahe andächtig streifte er den Trageriemen ab und zog den Reißverschluß auf. Die kleinen Stahlzähne klafften auseinander wie ein obszön grinsendes Maul. Mark griff in den dunklen Schlund und umfaßte die MP5.
Präzise deutsche Wertarbeit, von Polizei und Militär in mehr als fünfzig Ländern verwendet. Ein wenig Phantasie, Internetforen und vier Telefonate hatten Mark genügt, die geheimnisvollen dunklen Kanäle taghell zu erleuchten und in den Besitz der Waffe zu gelangen. Verglichen mit Stinger-Raketen und vollbesetzten Passagierflugzeugen das reine Kinderspiel.
Behutsam schob er einige Zweige auseinander und legte sich bäuchlings auf den Boden. Die Erde war trotz der warmen Maisonne unangenehm kühl und feucht, aber es war nicht die Zeit für Zimperlichkeiten.
Von hier oben konnte er die unter ihm liegende Ebene ungehindert einsehen. Knapp fünfzig Meter waren es bis zu dem grasbewachsenen Karree, auf dem Dutzende Verkäufer in betont lässiger Pose ihren Ramsch der Letztverwertung zuzuführen gedachten. Einige hundert Trödelbegeisterte quetschten sich durch die Gassen aus Freßbuden, Verkaufsständen und Decken.
Hinter dem Platz standen in langen Reihen die Karossen der Meute, von denen aus ein wegähnlicher, lehmiger Streifen zu einer fernen Schnellstraße führte.
Ideale Verhältnisse.
Mit einem Ruck zog er die Schulterstütze aus dem Schaft und legte die Waffe an, eine stählerne Erektion von achtzig Zentimetern.
Das Zielfernrohr zoomte die Gestalten heran, wie sie in der unbeschwerten Muße des Augenblicks trödelten und feilschten und sich mit fetttriefenden Würstchen die hungrigen Mägen vollstopften. Unter der Markise eines Bücherstandes blätterte ein Mann in einem dicken Schinken.
Vielleicht Krieg und Frieden? dachte Mark und lächelte. Krieg!
Er legte die beidseitigen Sicherungshebel um und stellte die Waffe auf 3-Schuß-Feuerstoß ein.
Der Mann da unten sprach mit dem Verkäufer. Sie wurden sich offenkundig einig. Geld und Buch wechselten den Besitzer. Der Lesefreund packte seinen Erwerb in einen hellen Leinenbeutel und schlenderte weiter.
Mark folgte seinem Weg, bis ein junges Pärchen den Mann verdeckte. Sie standen inmitten der Flanierenden und sahen sich an. Eine fast schon kitschige Szene, die ihn aus einem unerfindlichen Grund an Susi und Strolch erinnerte, es fehlte nur die weichgekochte Spaghetti, die wie ein teigiges Kollier vor ihren weichgekochten Herzen baumelte. Der blonde Strolch sagte etwas zu seiner Liebsten. Ihre Gesichter strahlten, als hätten sie sich soeben das Ja-Wort gegeben.
...bis daß der Tod euch scheidet...
Marks rechter Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Nur noch den Druckpunkt überwinden, und dann... aus die Maus!
Am unteren Rand des Zielfernrohrs huschte ein heller Fleck vorbei. Mark senkte die Mündung um einige Millimeter und erfaßte den blonden Schopf eines kleinen Mädchens auf ihrem Dreirad. Die Kleine strampelte so eifrig, als gelte es, die Tour de Trödel zu gewinnen. Sie drehte sich um und lachte jemanden an. Mark nahm die Person ins Visier. Ein Mann, wohl ihr Vater, blickte mit einem ausdruckslosen Gesicht auf das Mädchen hinunter, wie eine lebendig gewordene Porzellanpuppe einschläferndster Mimik, die es häufig auf Trödelmärkten zu kaufen gab.
„Verdammte Erwachsene!“ zischte Mark in den moosigen Boden. „Laß dir bloß nie den Spaß verderben, Kleine. Scheiß auf die Erwachsenen.“
Sein Zeigefinger schnellte um den Abzug wie der Schnappriegel eines Bügelschlosses. Der integrierte Aluminiumschalldämpfer machte die drei Stahlmantelgeschosse Kaliber 0.09 für die Trödler unhörbar.
Als wäre er über eine Unebenheit des Bodens gestolpert, zuckte der Vater zusammen. Für einen Sekundenbruchteil riß er erstaunt die Augen auf, dann sackte er mit verzerrtem Gesicht auf die Knie und preßte seine Hand auf das rechte Schultergelenk, das ihm zwei der Kugeln zerschmettert hatten.
Die dritte Kugel durchschlug den Hals einer korpulenten Frau, die hinter dem Mann gerade in einen Backfisch hatte beißen wollen.
„Scheiße!“
Mark senkte den Lauf, zielte auf den Kopf des Vaters und drückte ab. In dreifacher Ausfertigung erreichte den Mann der vollständige Entzug seiner Erziehungsberechtigung.
Langsam ließ Mark die Waffe sinken. Der Panoramablick erlaubte ihm auf bessere Weise, das Geschehen zu beobachten. Als hätte man einen Stein ins Wasser geworfen, breitete sich die Panik aus. Leute schrien, rannten hierhin, rannten dorthin, und wußten doch nicht, was sie tun sollten. Einige warfen sich hinter vermeintliche Deckungen, die nichs anderes waren als goldene Präsentierteller.
Mark hob die Waffe wieder an. Eine junge Frau kniete hinter einer hölzernen Biertheke und preßte die Hände auf die Wangen, als hätte sie schlimme Zahnschmerzen.
Armes Ding, du hast die falsche Entscheidung getroffen.
Mark schoß ihr in den Rücken. Die Frau fiel um wie ein Sack.
Er suchte den Platz nach Polizisten ab. Sie waren irgendwo dort, so sicher wie die Furien im Sommerschlußverkauf. Nur trugen sie keine geblümten Kleider, sondern Uniformen. Und Waffen. Das, was er begehrte.
Da, da war einer. In gebückter Haltung schlich er durch die Gänge, sah sich immer wieder um, fuchtelte nervös mit der Pistole in der Luft wie ein honigbestrichener Nudist in einem Bienenschwarm.
Mark konzentrierte sich und zerschoß dem Polizisten den Dienstsitz seiner Mütze. Die Sauerei auf dem Büchertisch gleich nebenan tat ihm leid. Er mochte Bücher. Aber es ging nicht anders.
Ein zweiter Grüner kam dazu und erbrach sich neben der Leiche seines Kollegen. Das verschaffte Mark etwas Luft. Noch war es nicht soweit.
Einige Besucher rannten zu ihren Autos. Er schätzte die Entfernung. Ben Johnson hatte die Strecke unter zehn Sekunden geschafft, getragen von muskulösen Beinen und einem anabolen Steroid namens Stanozol. Mark war nicht gedopet, aber er würde die Distanz zum Ziel schneller überwinden. Viel schneller.
Er erwischte einen Mann in Bermuda-Shorts, der gerade in einen Audi steigen wollte. Ein schlechter Schuß. Der linke Ellenbogen war Matsch, aber dem Kerl gelang es dennoch, sich hinter das Steuer zu werfen.
Die zweite Salve zertrümmerte die Heckscheibe. Drei Kugeln in die Karosserie. Der Typ war gut, er bekam den Wagen gestartet – gottverdammt, was müssen seine Hände jetzt zittern –, zog ihn aus der Parklücke und beschleunigte. Die Frau mit dem Kinderwagen sah er zu spät.
Mark sprang auf und starrte hinunter. Alles, nur kein Kind. Er riß das Zielfernrohr vor sein Auge. Der Wagen war fort. Wenn die Frau keine bis an die Grenze des Grotesken gelenkige Gliederpuppe war, dann war sie jetzt tot. Und der zerbeulte Kinderwagen... leer. In der Nähe stand ein junger Mann, der ein kreischendes Baby auf dem Arm hielt. Er stierte mit geweiteten Augen auf die verunstaltete Leiche. Aber das Kind lebte...
Mark holte tief Luft. Zeit, Schluß zu machen. Er war nicht so gut, wie er gedacht hatte. Die Sache geriet außer Kontrolle, früher als erwartet.
Er nahm den zweiten Polizisten ins Visier und feuerte ihm zwei Salven vor die Füße.
„Komm schon, Junge, sieh her! Mach schon!“
Aus der Deckung eines Imbißstandes heraus suchte der Beamte nach der Herkunft der Geschosse. Sein Blick wanderte zu dem Hügel herüber, glitt den Hang hinauf...
„Warm... ja, wärmer, verdammt... noch wärmer...“
Mark schwenkte die Arme und brüllte aus Leibeskräften. Er genoß dieses unwiderstehliche Gefühl des Triumphes, diesen Augenblick der Macht über all die Kreaturen da unten, die so waren wie die, die er haßte.
Verkehrsplaner, die die neue Schnellstraße in die Nähe seines Hauses verlegt hatten. Autofahrer, unachtsam, getrieben von der Hektik ihres Daseins, gleich im halben Dutzend den Abschied bringend, ein mörderisches Schleifen mehr als hundert Meter weit. Polizisten, die den zerschundenen Körper seiner Tochter auf dem Asphalt markierten, eine alptraumhafte Kreideskizze, notdürftig dahergezittertes Relikt eines jungen Lebens. Gutachter, die den bereiften Henkern die Absolution erteilten. Richter, die zustimmend nickten, die unter ihren Roben allen menschlichen Anstand erstickten und ihre Urteilsfindung Gesetzestexten überließen, die ihnen der Gefallene selbst diktiert haben mußte.
Und zwischen all diesen Monstren, wie sie ihn ansahen mit ihren gütigen, traurigen Augen und ihm immerwährend versicherten, mit Stimmen wie von Engeln, wie tragisch dieser Unfall doch gewesen sei und daß niemand daran die Schuld trüge, am allerwenigsten er selbst... zwischen all diesen Monstren stand Mark, das letzte Lachen noch in den Ohren, bevor die Kleine ungeachtet seiner Schreie auf die Fahrbahn lief, und da waren die Vorwürfe seiner Frau, der apathische Wahnsinn, der sie zunehmend umfing, ihr kaltsteifer Köper nach den Schlaftabletten... und da war das Begräbnis vor zwei Monaten, nur Wochen nach dem ersten.
Und niemand sollte die Schuld daran tragen. Als wäre Jesu zurückgekehrt am Tag des Jüngsten Gerichts und hätte selbst den größten Sündern vergeben.
Aber heute war Mark in Revision gegangen.
Sollen sie deinen Namen heiligen, aber erst, wenn das hier erledigt ist.
Der Polizist hob seine Pistole. Mark tat es ihm gleich. Ohne Anreiz, ohne das Gefühl lebenswahrender Notwehr würde der Bastard da unten nicht abdrücken. Durch das Visier sah Mark dessen Gesicht. Ein jungenhaftes Antlitz, blaß und schweißüberströmt. Wie mochte sich dieser Junge auf einem Photo machen, frisch gekämmt und rasiert, mit ernstem Blick unter der kiloschweren Schlagzeile:
Ich erschoß den Amokläufer!
Das war ihr Spiel. Sie nannten es immer Amok, und doch war es oftmals nichts weiter als ein schuldbefreiendes Synonym für das Aufbegehren gegen ihre selbstpostulierte Unfehlbarkeit.
Mark hatte nichts mehr zu verlieren, sie schon. Unbequeme Fragen, Diskussionen. Kein Urteil im abgedunkelten judikativen Kämmerlein. Öffentlichkeit. Wenn auch nur für ein paar Tage. Das zumindest war er seinen Lieben schuldig.
Der Polizist hatte Ladehemmung. Oder Gewissensbisse. Er drückte einfach nicht ab. Eine Salve in die Blechwand des Imbißstandes motivierte den Unentschlossenen nachdrücklich.
Die erste Kugel schlug nahe der Grasnabe ein.
„Mach schon!“ schrie Mark.
Der Schall des ersten Schusses war noch nicht verklungen, als die zweite Kugel seine Hüfte streifte. Ein erträglicher Schmerz – kaum, daß er seinem Hirn signalisiert wurde, da löschte auch schon eine dritte Kugel eben dort alle Empfindungen aus.
Welch einzigartiges Geschenk...