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Licht

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29.01.2004
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Licht

Licht

Die Jalousien waren zu und legten die scheußlichen Möbel des Wohnzimmers in Dunkelheit. Der Tisch vor dem Sofa war türkis gestreift, darauf lag eine gelbe Häkeldecke mit goldenen Kerzenständern. An der Wand hing eine Kuckucksuhr, die nicht zur hellblauen Tapete passte, und die Tapete passte nicht zu den milch-weißen Vorhängen. Auf dem Sofa saß ein kugeliger Mann, der die Hände auf seinen Knien hielt und mürrisch in das Dunkel hineingrummelte; bis auf eine weiße Unterhose war er nackt.

Auf der anderen Seite der Jalousien pustete der Westwind den Gestank aus dem Industriegebiet durch den kleinen Garten. Unter der rostigen Kinderschaukel sammelte sich Herbstlaub in der Pfütze, das von den großen Ahornbäumen entlang der Schiene herabwirbelte. Auf dem Gehweg vor der Pforte rollte ein Joghurtbecher vorbei. Es war ein ganz normaler Vorgarten mit schlecht gemähtem Rasen und einem Briefkasten, der so schäbig war, wie alle Briefkästen in dieser Straße.

Der Mann auf dem Sofa war fast immer vergnügt, doch im Moment war er sauer, eine kleine Zornesfalte zog sich von der Nase bis zum Rand der Glatze. Kenny, seine Frau, war trotz Wochenende noch einmal ins Büro gefahren. „Nimm ja nicht die Binde ab, Gustave. Du kannst noch nicht mit Licht umgehen.“, hatte sie ihn in ihrer penetranten Art ermahnt, „Die Welt ist gefährlich für jemanden, der sein Leben lang blind gewesen ist, und der so ungeschickte Finger hat wie Du.“

Dreiundfünfzig Jahre hatte Gustave versucht sich vorzustellen, was Licht war. „Was ist bunt?“ fragte er immer, „Was ist Licht?“. Die meisten nahmen sich gerne Zeit für den gemütlichen Mann, wenn er diese Frage stellte und mit seinen Knopfaugen ein wenig an ihnen vorbeisah. „Licht ist bunt“, sagten die einen, „Licht selbst kann man nicht sehen“ meinten die anderen. Nur Kenny sagte, das könnte er sowieso nicht verstehen. Seit es die neue Operation gab, redete er stundenlang mit Carol und Annie, seinen beiden Töchtern, über das Licht und die Farben, wenn sie zu Besuch waren. Am liebsten hätte er sich Licht wie schnelle Luft vorgestellt, aber Carol sagte, das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Nur den Unterschied, den konnte sie ihm auch nicht erklären.

Seit zwei Stunden grummelte er vor sich hin und ärgerte sich über Kenny. Er wollte unbedingt allein sein, wenn er zum ersten Mal etwas sah. „Sei nicht töricht, Gustave, bitte!“, hatte sie ihn schrill gewarnt. Um ganz sicherzugehen, hatte sie wieder einmal seine Kleider versteckt und in seine Unterhose zurückgelassen. „Na bitte! So kannst Du nicht nach draußen, selbst wenn Du auf dumme Gedanken kommst. Denke dran, Licht ist nicht so schnell wie der Schall! Um vier bin ich wieder da.“

Trotzig hatte Gustave gewartet bis sie aus der Haustür war und hatte dann den Krankenhausgeruch der vielen Salben und Pillen im Schlafzimmer hinter sich gelassen, saß nun auf dem Sofa im Wohnzimmer, hörte dem Ticken der Kuckucksuhr zu und zählte die Minuten bis vier. Eben war es halb vier geworden.

Auch die Ärzte hatten gesagt, dass man am Anfang vorsichtig sein muss. Aber er wollte nicht, dass andere dabei sind, wenn er die Binde abnimmt, vor allem nicht Kenny. „In der Times steht ein Artikel darüber, dass gerade neulich wieder einer sich schwer verletzt hat, gleich nach der Operation“. Ständig schrillte Kennys Stimme um ihn herum wie zehn Telefone.

Als Kind hatten ihn seine Eltern nie aufgeklärt, Blinde treffen sich ja nicht mit Mädchen. Er hatte sich eines Nachts wahnsinnig erschrocken, als er seine erste Erektion bekam. Heute hatte er Angst davor, dass er sich genau so erschrecken würde, wenn er die Binde abnahm, und deshalb wollte um alles in der Welt alleine sein. Er krallte seine Hände in die Knie. Eigentlich gefiel ihm seine Welt ganz gut, wie sie war.

Er begann, die Augenbinde abzuwickeln. Gustave kannte den Raum genau, in dem er saß, jedes Kante in seinem Wohnzimmer hatte er tausendmal gefühlt und gerochen. Er wusste immer genau, wie weit er von der Tür oder dem Sofa entfernt war, und es überraschte ihn nie, von wo das Telefon klingelte.

Für den größten Moment seines Lebens war er ins Wohnzimmer gegangen, denn in allen anderen Zimmern gab es Spiegel, und vor denen hatte er Angst. „Ein Spiegel ist ein Fenster“, hatten seine Töchter gesagt, „das das ganze Zimmer wiederholt, und wenn man ihn bewegt, bewegt sich der Raum darin auch“. „Warte nur, im Spiegel wirst Du sehen“, hatte Kenny gesagt, als sich wieder einmal über ihre ständig zupfenden Fingerspitzen beschwert hatte, „warum es so wichtig ist, sich die Haare zu kämmen, selbst wenn man nur noch so wenige hat wie Du!“ Seither war ihm die kalte, glatte Fläche im Schlafzimmer und in der Küche unheimlich, er wollte sich nicht im Spiegel sehen.

Die Binde war ab. Langsam öffnete er seine Augenlider, an denen noch Reste von der stinkenden Salbe klebten, und die dunklen Konturen des Wohnzimmers erschienen vor ihm.

Er starrte lange in die Umrisse, die er vor sich ahnte. War das schon das Sehen, oder bildete er es sich nur ein? Er wusste, dass das Zimmer dunkel war, und dass er eigentlich nicht viel sehen konnte. Als er ängstlich nach oben blickte, zuckte ein Schmerz durch seine Augäpfel. Eigentlich hätte er die Binde erst übermorgen abnehmen dürfen. Oben an der Zimmerdecke erahnte er im Dunkeln einen schwachen Fleck. War das die Lampe? Das einzige Möbel im Zimmer, das er nie angefasst hatte? Tat es wirklich weh, wenn man hineinsah?

Dreiundfünfzig Jahre hatte man ihm erklärt, was Licht ist, aber verstanden hatte er es nie so ganz. Licht ist eine Welle, die aus kleinen Partikeln besteht, die man aber nicht auf der Haut spürt. Licht breitet sich mit 16,91 Metern pro Sekunde aus, etwas mehr als 60 km/h, vierzehn mal langsamer als Schall, und 190.000 mal langsamer als Strom.

Als er fünfzehn war hatten ihn seine Eltern einmal bei einem Gewitter mit auf das Feld hinter dem Hof genommen, um ihm einen Blitz zu zeigen. Er hatte furchtbare Angst, denn er war noch nie bei Regen draußen gewesen – bei Regen konnte er keine Geräusche hören.

Als der Blitz einschlug, donnerte es, als wäre eine Bombe auf dem Feld eingeschlagen. Dann kam eine lange Stille, in der der Regen auf die drei herabprasselte, und endlich sagten seine Mutter und sein Vater „ah!“, als sie den Blitz sahen. Seine Mutter beschrieb ihm alles ganz genau.

Der Blitz hatte genau einen halben Kilometer vor ihnen eingeschlagen. Seine Mutter sagte, dass merkt man daran, dass der Donner so laut war, und weil sie bis dreißig gezählt hatte, bis man den hellen Punkt sah.

Damals hatte der Blitz in eine Eiche auf der anderen Seite vom Acker eingeschlagen. Ganz plötzlich sah man einen leuchtenden Punkt, mitten im Baum und hell wie die Sonne. Im selben Moment strahlte ein leuchtender Fluss aus Licht auf einer geraden Linie zwischen ihren Füßen und dem Blitz. Das leuchtende Band schoss sofort auseinander, wird breiter und breiter, sein scharfer Rand kriecht über die Felder und die Nachbarhäuser, wie eine Seifenblase, die immer größer wird – plötzlich werden mehr und mehr Felder und Häuser taghell, ein riesiges Oval wächst in das Schwarz hinein.

„In der Antike“, hatte sein Vater gesagt, „haben die Leute gemessen, wie schnell sich dieser Streifen ausbreitet. So habe die damals die Gegend vermessen.“

Der helle Punkt stieg aus dem Baum und zog sich durch die Nacht nach oben, wie eine schnell aufgehende Sonne. Seine Mutter hatte plötzlich eine ganz weiche Stimme bekommen und redete ganz langsam, so sprach sie sonst nur an Weihnachten. Der Punkt teilte sich auf wie eine Amöbe, schlug Haken, wurde langsamer und schneller, machte Sprünge, bis er nach einigen Minuten endlich in den Wolken verschwindet. Der Boden vor ihnen war inzwischen wieder dunkel geworden, aber nun zieht sich im Nachthimmel eine Haut aus Licht über die Wolken und durch die Wolken hindurch. Seine Mutter legte ihre Hand auf seine Schulter und schwieg, bis das Licht aus den Wolken ausgeglüht war.

Sein Zeigefinger war immer noch auf dem Lichtschalter, er hatte Angst vor der Wohnzimmerlampe. Er schluckte und legte mit einem Klick den Schalter um.

Das Licht waberte sich in den Raum hinein. Zuerst blitzte die Lampe auf, dann der Boden, dann die Zimmerdecke, erst vorne, dann hinten. Eine Haut aus Licht war über die Zimmerwände geblubbert, es war ein Vibrieren aus Licht, das von der Lampe ausging – in mehreren Wellen war die Helligkeit in alle Ecken geschwappt, bis der Raum nicht mehr heller wurde. Es war sehr schnell gegangen, binnen einer Viertelsekunde war das Licht in alle Ecken des Raumes gekrochen.

Gustave starrte in das Zimmer. Er konnte sehen!

Mit offenem Mund starrte er in das Wohnzimmer. Es überraschte ihn überhaupt nicht, wie es war, den Raum vor sich zu sehen. Immerhin hatte er ein Leben lang versucht, es sich vorzustellen. Alle hatten sie ihm gesagt, dass es ein Gefühl sei, das man nicht beschreiben kann. „Nein, ein Gefühl ist es nicht – eher wie ein ganz bunter Gedanke“ hatte Annie gesagt, „Du kannst es einfach nicht verstehen“. Und trotzdem war Sehen genau so, wie Gustave sich es vorgestellt hatte.

Was ihn wirklich erschreckte, war, wie klein und hässlich das Zimmer war. Der Tisch vor ihm war scheußlich. Habe ich all die Jahre hier drin gelebt? fragte er sich, In so etwas kleinem? Warum hat der Tisch eine Farbe, die so furchtbar aussieht? Die Farbe sah so aus, wie Benzin riecht: Sie stank und machte Kopfschmerzen. Der alte Mann blickte enttäuscht in sein Wohnzimmer. Die Schrankwand war hässlich, der Teppich geschmacklos und die Tapete dreckig. Seine Knie, das Sofa, die Gardinen – alles war schmutzig beige und passte nicht zur blauen Tapete.

Er blickte auf seinen Zeigefinger, der noch auf dem Lichtschalter lag. Mein Gott, war das sein Zeigefinger? Dieses verschrumpelte Würstchen? Er hatte sich seine Haut glatter vorgestellt. Er beschloss, sich nie seinen Penis anzusehen. Mit einem Klick machte er die Lampe wieder aus, und das Licht schwappte wieder aus dem Zimmer. Oben an der Decke verschwand es sofort, und in den hinteren Ecken leuchtete es noch etwas nach.

Obwohl die Lampe wieder aus war, schloss er wieder die Augen, wollte in seine bekannte Dunkelheit zurückkehren, aber es ging nicht. Er hatte gesehen, wie klein sein Zimmer war. Der große, weiche Raum, in dem er zwanzig Jahre lang gelebt hatte, war für immer verschwunden.

In der Dunkelheit stand er auf und ging in den Flur. Wie leicht doch das Gehen war, wenn man die Umrisse der Tür sehen konnte! Diesmal zögerte er nicht lange, bevor er den Schalter drückte. Die Lampe blitzte, und wieder waberte sich die Helligkeit in den Flur hinein. Zuerst wurden der Flur und der Teppich vor seinen Füßen hell, danach kroch das Licht in den hinteren Teil des Flures. Und wieder sah er dieses Schwingen, als ob der Raum eine Glocke wäre, gegen die jemand geschlagen hätte. Wieder dauerte es einen kurzen Augenblick, bis sich das Licht von allen Wänden zurückgeworfen hatte und in alle Ecken erreichte.

Der Flur war genauso hässlich. Das Beige der Tapete, der grüne, abgewetzte Teppich, es sah so schäbig aus! Natürlich kannte der Mann die Namen der Farben nicht. Und wie kurz der Flur war! Hatte er wirklich all die Jahre hier gelebt? Er wollte raus.

Er starrte noch einige Minuten in den Flur und versuchte, seinen Gedanken zuzuhören, aber er war verwirrt, sein Gehirn lief im Leerlauf. Er beschloss, vor der Haustür nach etwas Schönerem zu sehen, Bäume, Pflanzen, und vor allem etwas, das nicht so klein war.

Er machte einige Schritte zur Haustür am Ende des Flures. Nach zwei Metern blieb er verdutzt stehen: Als er ging, war die weiße Tür war blau geworden, der ganze Flur hatte geschillert. Er machte noch einen Schritt. Wieder wurde die Tür blau, der ganze Flur wurde blau! Erschreckt ging er rückwärts, und alles wurde rot. Er drehte sich um; hinter ihm war alles normal. Völlig verwirrt sah er auf seine Hand. Als er sie vor- und zurückbewegte, fing sie an zu schillern, rot, blau, orange. Je nachdem, wie er die Hand bewegte, wurde sie sogar heller und dunkler. Das hatten ihm seine Kinder einmal aus der Zeitung vorgelesen: Wenn man das Sehen nicht als Säugling lernt, kann das Gehirn den „Dopplereffekt“ nicht verarbeiten. Irgendwie verschieben sich die Wellen des Lichtes, wenn sich ein Ding nähert oder entfernt. Säuglinge lernen sehr schnell, dass das eine Bewegung ist; das Gehirn rechnet die Farbe in Bewegung um. Doch wenn man ein Leben lang blind ist, kann man das nicht mehr lernen, sagten die Ärzte, dann schillert die Welt einfach nur bunt.

Zögerlich ging Gustave zur Hautür, und die vielen Farben schwirrten bei jedem Schritt durch das ganze Zimmer. Er wäre beinahe umgefallen, weil sich der Raum bei jedem Schritt veränderte. Als Blinder, als er nur hören konnte, war seine Welt stabil, nichts ändert sich, wenn man geht. Dieses Wabern und Schimmern der Farben war grässlich.

Er war an der Haustür angekommen. Als er stehen blieb, wurde die Tür wieder weiß und der Raum wurde wieder fest. Wann würde Kenny nach Hause kommen? Er hatte Angst, die Autotür nicht zu hören. Die Bilder, die in seine Augen drangen, waren viel stärker als Geräusche – ob er überhaupt noch gut hören konnte?

Er nahm allen Mut zusammen und öffnete die Tür. Sofort taten ihm die Augen weh – wie kraftvoll das Licht hier war! Es war, als hätte das Licht angefangen, in sein Gesicht zu schreien. Alles war bunt und grell. Und so leer! Was ihn am meisten wunderte, war, dass es keine Wände gab. Natürlich war ihm klar gewesen, dass man über die Hecke hinwegsehen konnte, aber als er blind war, ging die Welt draußen erstmal bis zur Gartenhecke und nicht weiter. Dass man so viel Platz auf einmal sehen konnte, schlug ihn beinahe um.

Er blickte auf die zwei Ahornbäume vor seinem Haus. Das Schimmern der Blätter war so schön, wie er sich es vorgestellt hatte, als er im Garten stand und dem Rauschen zuhörte, es mussten Millionen Blätter sein. Das Grün wogte leicht im Herbstwind, einige Blätter waren schon gelb geworden. Ein Lufthauch fuhr über seine Glatze, aber er bemerkte es nicht – das grelle Licht übertönte alles.

Es war merkwürdig hier draußen, ganz anders als drinnen. Es sah alles so kalt aus, viel grauer, der Himmel war grell und die Schatten waren scharf. Er ließ seinen Blick über den kleinen Garten schweifen, über die Hecke vor der Straße, die Schaukel, das hohe Gras, den Briefkasten, über die ölige Schiene, die direkt in die Garage führte. Nichts war so, wie er sich es vorgestellt hatte.

In einiger Entfernung hörte er ein Auto rauschen. Auto fahren, dachte er, wie würde das wohl sein? „Am besten versuchst Du gar nicht erst, Dir das vorzustellen“, hatte Kenny gesagt, „Sei froh, dass Du nicht sehen musst, wie sich die Welt um Dich herum strudelt!“. Stattdessen hatte er seine Töchter immer wieder gelöchert, wie es aussieht, wenn man Auto fährt. Der rote Lichtblitz, wenn man 62 km/h überschreitet, das Schwarz, das dann hinter einem ist, und das verzerrte Leuchten vor einem. Dass man Menschen rückwärts gehen sieht, wenn man in das Grelle hineinblinzelt. Und wie die Welt sich beim Bremsen um einen herumwickelt, um allmählich zum Stehen zu kommen, wenn der Wagen anhält – so als ob die Realität ein paar Meter hinter dem Auto hinterhergerannt wäre und noch einen kurzen Moment bräuchte, um wieder zu Atem zu kommen.

Er ging den Weg entlang, und der leichte blaue Schimmer, der sich über alles legte, überraschte ihn wieder genau so sehr wie beim ersten Mal. Daran würde er sich nie gewöhnen. Plötzlich starrte er auf das Ding hinter der Hecke. Es war etwas höher als die Hecke selbst und bewegte sich entlang der großen Schiene. Er blieb sofort stehen, und der blaue Schimmer verschwand, nur das Ding hinter der Hecke behielt seinen blauen Schimmer.

Es dauerte einige Momente, bis er das Offensichtliche kapierte: Das war ein Mensch! Völlig gebannt starrte er auf das Gesicht. Der Mensch drehte seinen Kopf zu ihm, und Gustave starrte ihn an. Ob er diesen Mensch kannte? Ob es seine Frau war? Nein, sie war mit dem Auto unterwegs, es musste ein Nachbar sein. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es unhöflich sein konnte, ihn so anzustarren, und sah deshalb schnell auf die Bäume. Er vermutete, dass die Sehenden gerne auf Bäume guckten, wenn sie sonst nirgendwo hinschauen mussten.

Der Mensch ging vorbei, sein blauer Schimmer verschwand und wurde dafür rot. Gustave merkte, dass er in seiner Unterhose dastand, und das Kenny gesagt hatte, dass er so unmöglich nach draußen konnte. Er ging bis zu der Pforte, öffnete sie und trat hindurch. Vor seinem Grundstück liefen die drei Autoschienen entlang, sie stanken nach Öl und das Gras unter ihnen war schwarz und kümmerlich.

Das Rauschen des Autos war näher gekommen. Er drehte den Kopf nach links und starrte auf die drei Schienen vor dem Grundstück: Er sah nichts, die Schiene vor seinen Füßen war leer, aber er hörte das Auto so deutlich, wie er es schon tausendmal gehört hatte. Er blickte kurz nach rechts, dann wieder nach links, aber die Schiene war immer noch leer. Auf einmal hörte er ein Kreischen, es blitzte rot und ein gewaltiger Schlag traf seine Brust, er fiel hin, und sah einen riesigen, orangen Wurm auf der Schiene, mindestens dreißig Meter lang. Der Wurm riss kreischend in der Mitte durch, teilte sich in zwei Hälften, das eine Ende schoss als oranger Streifen zum Horizont, das andere Ende schrumpfte, wurde weiß und bekam scharfe Konturen. Das Auto hielt vor ihm, ein Mensch stieg aus. Es war Kenny, die erste Frau, die er jemals sah.

 

tachi Gernot

Also vorab: Deine Geschichte hat mir sehr gefallen. Die länge war zwar im ersten Moment etwas abschreckend. Aber schon nach den ersten paar zeilen hab ich gemerkt, dass ich dir gerne in die neue sichtbare Welt eines ehemals Blinden folgen werde. :)

Wie es sich für dieses Thema gehört vermittelst du uns ein stimmiges Bild, illustriert mit allerhand passenden Metaphern. (Ich mag so einen Stil und versuch ihn selbst auszubauen) :rolleyes:

Viele Fehler grammatikalischer oder orthografischer Art hab ich auch nicht gefunden.

Aber warum handeln deine Prots in einer anderen Dimension, in der das Licht für uns kuriose Eigenschaften hat? Zumal das bis auf ein paar hübsche Anekdoten

Er machte noch einen Schritt. Wieder wurde die Tür blau, der ganze Flur wurde blau! Erschreckt ging er rückwärts, und alles wurde rot.
überhaupt keine Relevanz für die Handlung meiner Meinung nach mit sich bringt :confused:

wie dem auch sei

ipy hagen

 

Hallo Gernot,

Deine Geschichte hat mir gut gefallen, weil sie Perspektivwechsel beinhaltet. Die erst seltsam erscheinende Situation des Mannes in der Unterhose ist rückblickend gar nicht seltsam.
Später werden wir sehenden Leser aus unseren Sehgewohnheiten herausgerissen: Natürlich denken wir, wir wüssten, was der Mann sehen wird- doch dann merkt man, dass der Protagonist im Lande des wabernden Lichts eine andere Welt entdeckt, als wir erwartet haben. Besonders deutlich wird dies an der Stelle mit der Rotverschiebung. (Vielleicht kommt der Hinweis auf die kleine Lichtgeschwindigkeit etwas früh?).
Die ruhige Sprache ist ein passender Kontrast zu der eigentlich durch ihre Besonderheit aufregende Situation, sie zeigt, mit welch gefasster Distanz der Mann den großen Moment erlebt.


Noch eine Kleinigkeit:

war die weiße Tür war blau geworden

LG,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo Hagen!

Danke für die kritik! Ich denke, die Beschreibung des "langsamen Lichtes" ist sehr wichtig für die handlung - aus zwei Gründen:

(1) Ich finde den Gedanken sehr faszinierend, sich möglichst exakt auszumalen, wie siech langsames Licht verhalten würde (Bin Physiker und habe lange über die Auswirkungen von langsamem Licht nachgedacht)

(2) Ich wollte den Leser "kalt erwischen", d. h. der Leser soll plötzlich merken, dass nach Abnahme der Binde der Prot mehr über das Aussehen von Licht weiß als der Leser - so dass der Leser plötzlich selbst in der Situation ist, keine Vorstellung von diesem Licht zu haben - so wie der Blinde vorher.

Vielen Dank für die Kritik! Gernot

 

Mir war das Konzept von langsamen Licht durchaus schon vor deiner Geschichte vertraut. Einer meiner Lieblingsautoren, Terry Pratchett, hat dies eingearbeitet in seinem Scheibenweltzyklus (Eine Welt getragen von 4 riesigen Elefanten auf dem Rücken von Groß Atuin, einer gigantischen Schildkröte) Die Scheibenwelt ist als Gegenkonzept zu unserer nach physikalischen gesetzmäßigkeiten orientierten Welt konzipiert, mit dem Unterschied, dass dort nicht die Physik sondern Magie alles regelt. Sehr witzig! :)

Vielleicht gefällt es dir ja.

In bezug auf die Geschwindigkeit des Lichts in deiner Geschichte hast du durchaus recht. Is mir gar nicht so aufgefallen, aber jetzt, wo du's erklärst... :)


Wie gesagt: Schöne empfehlenswerte Geschichte

ipy Hagen

 

Ja tut mir leid :)

Von ihm stammt auch der Gedanke:
"Da die Dunkelheit schon überall ist, wo das Licht erst noch hinkommen muss, ist wohl die Dunkelgeschwindigkeit höher als die Lichtgeschwindigkeit."

Ich weiß, dass der hohl ist. Aber auch witzig ;)

ipy Hagen

 

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