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Liebe versetzt Glascontainer
Um 09:03 Uhr erkannte Torsten, dass sich Zuneigung manchmal in ungewöhnlichen Einheiten messen lassen muss. So zum Beispiel in der Geschwindigkeit, in der sie Glascontainer versetzen kann und nicht etwa Berge. Drei an der Zahl, einen für Weiß-, einen für Grün-, einen für Braunglas. Grau, mit einem farbigen Ring um ihre Öffnung in weiß, grün, oder braun. Nicht besonders ansehnlich, in Schulterhöhe, mit einem Durchmesser von 1,20 Meter. Sie waren in die Jahre gekommen und trugen neben ihrem beinahe abgeblätterten Aufdruck „Glas bitte nur von 07:00 bis 19:00 Uhr einwerfen“ unter anderem die Graffitis „Defekt“ und „Fuck you“. Die Flüssigkeit zahlreicher nicht vollständig geleerter Flaschen hatte unschöne Flecken in schillernden Farben auf den Containern zurückgelassen. Aber ihr Aussehen wurde nicht zum Problem.
Sie hatte Torsten um 08:59 Uhr angerufen - Tina, bei deren Anblick ihm schon seit Wochen die Knie weich und andere Körperteile hart wurden. Aufgeregt hatte er ihre Nummer auf dem Handy erkannt, die Lautstärke des Radios heruntergedreht und war rasch auf den Parkplatz abgebogen, bevor er das Telefonat annahm.
„Tottielein“, schnurrte sie klagend, „ich habe fürchterlich geschlafen. Um 06:00 Uhr bin ich wach geworden, weil irgendwelche Deppen die Überreste ihres Saufgelages unbedingt laut grölend in die Flaschencontainer entsorgen mussten. Du weißt schon – die vor meinem Schlafzimmerfenster. Du müsstest mich jetzt sehen können…“
Torsten wünschte sich nichts sehnlicher als das: sie beobachten zu können, wie sie an ihrem vorlesungsfreien Tag wahrscheinlich immer noch im knappen Seidennegligee durch ihre Wohnung schwebte.
„…ich bin total verknittert und habe höllisch Kopfweh. Und der Müll, der rund um die Dinger immer liegt, wie das stinkt! Das geht nun wirklich nicht, das verstehst Du doch, oder? Ich kann ja kaum noch lüften! Kann man die Teile nicht woanders hinstellen?“
Torsten hatte bisher lediglich Laute von sich gegeben, die sie je nach Bedarf als Zustimmung oder Mitleid auslegen konnte.
„Tust Du das für mich? Damit würdest Du mir einen Riesengefallen tun, Süßer.“
Torsten wurde rot. Wie machte diese Frau nur das mit ihrer Stimme?
Verführerisch fuhr sie fort: „Und weißt Du was? Dann darfst Du mich am Samstag ins „Chez Nous“ einladen, den neuen Franzosen in der Altstadt, der soll ganz hervorragend sein, sagt Susi. Dann machen wir uns einen schönen Abend, wäre das nicht was, Baby? Ich zieh mein rotes Kleid an, das hat Dir doch neulich so gefallen.“
Und er hatte gedacht, seine bewundernden Blicke in ihr Dekolletee wären unbemerkt geblieben. Torsten fühlte sich ertappt und schluckte schwer. Um diese Verabredung bettelte er seit Wochen und besagtes Kleid sowie das, was es nicht verdeckte, lösten jetzt noch Schweißausbrüche bei ihm aus. Was sollte er ihr bloß antworten? Aber in diese Verlegenheit kam er gar nicht.
„Tottie-Schatz, ich ruf Dich nachher noch mal an, ja? Küsschen!“, war das letzte, was er von Tina hörte, bevor sie das Gespräch abrupt beendete.
Torsten setzte seine Fahrt fort und drehte das Radio wieder lauter. Tina verlangte durchaus nichts Unmögliches von ihm. Denn Torsten war nicht etwa Jurist oder BWL-Student wie die meisten ihrer Freunde, Torsten arbeitete beim Amt für Abfallwirtschaft, Abteilung Entsorgung, Sachgebiet Glasbehälter. Torsten war daher exakt der Richtige für ihr Anliegen. Er fuhr täglich in seinem orangefarbenen Arbeitsanzug durch den südlichen Teil der Stadt und hatte die Macht, die Glascontainer zu versetzen.
Torsten begann zu schwitzen und fuhr nervös seine Route ab. Das Handy klingelte erneut, hektisch griff Torsten nach seinem Telefon. Seine Stimme überschlug sich fast, als er seinem irritierten Kollegen erklärte, wo das Ersatzteil für die neue Kehrmaschine lag.
Was sollte er tun? Was sollte er seinem Betriebshofleiter erzählen? Es gab eine goldene Regel in ihrer Arbeit: Keiner Einzelbeschwerde einer Person wird automatisch entsprochen. Er hatte die Stimme seines Chefs im Kopf: „Wo käme man denn da hin, wenn jeder im öffentlichen Raum seine Privatinteressen geltend machen würde? Abgewogen muss stets werden, Männer.“ Und da war Torsten sehr gewissenhaft.
Torsten nahm einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche. Anders würde es aussehen, wenn Tina nicht die Einzige wäre, ging es ihm durch den Kopf. Gegenüber von ihrer Wohnung, direkt neben den Containern, war ein Seniorenwohnheim. Torsten ließ seinen Gedanken freien Lauf. Wenn die Bewohner sich nun auch beschwert hätten über die Behälter, über die mit ihnen verbundene Gehwegverengung, die es den Rollstuhlfahrern unter ihnen unmöglich machte, den Bürgersteig zu passieren. Noch hatte sich niemand beklagt, aber mal unverbindlich die Zufriedenheit mit dem Standort der Behälter abfragen kostete ja nichts. Ein entsprechender Leserbrief an die Presse wäre dann wahrscheinlich gar nicht mehr notwendig, um die Umsetzung zu rechtfertigen. Oder der neu gewählte CDU-Bundestagsabgeordnete, der am anderen Ende der Straße wohnte – der hatte zu dem Thema doch bestimmt auch was zu sagen. Und dann, ja dann – Torsten malte sich die Szenerie aus. Es schien zahlreiche Möglichkeiten zu geben, um an das Essen mit Tina zu kommen.
In seiner Vorstellung sah er sich bereits lächelnd vor ihrem Schlafzimmerfenster stehen, am Platz der nicht mehr vorhandenen Glascontainer, zu ihrem Fenster hoch winkend. Vielleicht um 12:30 Uhr schon, wenn er die Leerung der Container in der Seilerstraße verschob und seine Mittagspause ausfallen ließ. Und vielleicht, vielleicht würde er dann gar nicht mehr bis Samstag warten müssen, bis sie ihn endlich erhören würde. Seine vor Vorfreude feuchten Hände hinterließen Abdrücke auf dem Lenkrad.
Um 09:33 Uhr, nach der Durchfahrung der Prinzengasse, sang Meat Loaf im Radio, „I can do anything for love, but I won´t do that“. Beinahe gleichzeitig fiel Torstens Blick zufällig auf die Zeitung auf seinem Beifahrersitz. Auf der Titelseite ein Foto des jetzt endlich verurteilten Bankmanagers, den er stets so verachtet hatte für all die kleinen Gefälligkeiten gegenüber seinen Freunden. Und Torsten begriff, dass er sehr gut selbst entscheiden konnte, worin er seine Zuneigung messen lassen wollte. Er würde Tina eine Rose kaufen, ein Gedicht schreiben, einen Kuchen backen. Das alles konnte er tun. Anderes nicht. Torsten lächelte, lenkte seinen Wagen erneut auf einen Parkplatz und packte sein Butterbrot aus. Er hatte seit drei Minuten Frühstückspause.