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Lila Balu
Es ist einer dieser gleißenden Tage im November, die so rar sind, dass man sich mehr über sie freut als über rosa Zuckerwatte im Julei. Wir spazieren entlang der Straße, die wir so sehr mögen, forschen Schrittes, stets unterbrochen von kleinen Haltepunkten, nur für wenige Sekunden. Dann können wir nicht weiter marschieren, müssen stehenbleiben, verharren im Moment und erkennen, was den Ort so schön sein lässt.
Aber warum die Geschichte an ihrem Ende beginnen? Sicher, die Erinnerung ist nicht chronologisch, wir können sie gezielt anpeilen, in ihr herumspringen wie es uns gefällt. Warum aber nicht einfach dort beginnen, wo alles seinen Anfang hat und trotz der Möglichkeit, die besteht, alles der Reihe nach erzählen?
Wie schon gesagt, es ist November, der schönste aller Monate, stets Stiefkind des glamourösen Dezembers, der mit all seinem Pomp, dem Glitter und der falschen Sehnsucht hervorsticht im Curriculum des Jahres. Die, die uns begegnen, huschen nur durch ihn, den grausten aller Monate, hindurch, so als wollten sie ihn schnell durchwandert haben, als sei er nur Station auf dem Weg zum Jahresende, das Erlösung verspricht. Sind sie im Recht?
Der Boden unter unseren Füßen ist weich, er schmatzt unter’m Schuh, die letzten Tage waren regnerisch. Dicke, braun-schwarz-gelb-kohlengraue Masse quetscht sich in die Sohle, grad so, als sei es vorbestimmt, dass sie dort haften bliebe, um mich immer zu begleiten. Mein Begleiter indes spürt das nicht. Er ist anders. Als ich. Auch. Während ich in jeder noch so flachen Pfütze schlittere, tänzelt er anmutig hindurch, jeder andere hätte meinen Neid auf sich gezogen. Ihn jedoch bewundere ich.
Wir bleiben stehen, abrupt, denn vor uns liegt ein Wesen. Es ist tot, doch wunderschön. Fast zwingt uns die Neugier, alle Pietät zu vergessen und wir verharren erst, als es schon fast zu spät ist, der Abstand zu gering, um Ehrfurcht zu heucheln oder wahrhaft zu empfinden. Zu nah schon sind wir dem schönen Wesen, zart und zerfleddert zugleich, der Biologe nennt es Amsel. Der Volksmund auch. Wer auf Beschreibung hofft, muss nun enttäuscht werden, zu innig ist der Moment. Er ist nur für die Tote, mich und den, der bei mir ist.
Ich lache, er blickt zu mir auf, verwirrt ob meines Lachens, doch froh, die Reise endlich fortzusetzen. Kurz schiebt sich eine Wolke vor die Sonne, so hastig, dass nur wir es merken. Während ich noch stehe, schreitet er weiter, zieht mich mit und wirft mir Blicke zu, die an seiner Schulter ecken und ihr Ziel doch treffen. Wir sind gar nicht allein, schnellt es mir durch den Kopf, meine Schulter berührt die eines Kindes, das im Gespräch mit Schulkameraden rückwärts entlang des Bordsteins trippelt. Kleine, seltsame Geschöpfe, denke ich noch, während ER gekonnt durch sie hindurch manövriert, mich im Schlepptau hintendrein. Noch im Vorbeigeh‘n ermahne ich die Kinder. Und schmunzele.
Wir passieren einen Baum, sein Blattwerk ist gelb, oder sind es Blüten? Ich möchte es nicht wissen, die Vorstellung allein ist viel zu schön. Doch sehe ich genauer hin, gelbe Birnen überall. Kein einziges Blatt, keine Blüte, nur satte, gelbe Birnen. Mitten im Baum sitzt ein Bär, sein Name ist Balu und sein Fell leuchtet lila. Während wir freundlich grüßen, zwinkert er schnell und wirft eine Birne. Wir teilen sie, mein Freund und ich, und essen beide halbe Birnen. Wir danken dem Bären, denn sie schmecken so gut. Hier werden wir wohl bleiben. Noch ein bisschen. So lang es noch November ist.