Lina
Die Einladung zum Klassentreffen des Abschlussjahrgangs 1980, veranlasste mich dazu mein altes Fotoalbum aus dieser Zeit herauszukramen. Ich saß mit meiner Tochter auf unserer schwarzen Ledercouch in unserem mittelgroßen Reihenhaus in unserer mittelgroßen Vorstadt und wir betrachteten zusammen die alten Bilder. „Papa? Wer ist das da? Der hat ja ne komische Frisur!“ Ich schmunzelte da sie mit ihren Patschhändchen gerade auf eine Fotografie deutete, die mich im Sommer `79 unter einem großen Apfelbaum zeigte. „Das mein Schatz, ist dein lieber Papa.“ „Oh! Und wer ist das Mädchen neben dran? Ist das Mama?“ Ich starrte auf das Foto. Auf meiner Schulter war ihr blonder Lockenkopf gelehnt, sie trug ein dünnes geblümtes Kleid, hielt meine Hand und strahlte in die Kamera. Sofort stieg mir ihr süßes Parfum in die Nase, das mich jahrelang benebelt hatte. „Nein. Das ist nicht Mama.“
Ich stand auf, ging in den Garten und beobachtete die Wolken am Himmel. Sie zogen unaufhörlich vorbei, veränderten immerzu ihre Form. Kleine weiße Schiffe, die über das endlose Blau segelten.
Nachdem das Foto gemacht worden war, lösten wir uns aus unserer starren Position und Lina beugte sich über mein Gesicht und küsste mich. Danach sprang sie auf und fing an zu lachen. Sie zog mich hoch und rannte wie wild los, an dem Baum vorbei querbeet über das Weizenfeld. Die Ähren standen hoch, gingen uns bestimmt bis zur Hüfte. Es war ein herrlich warmer Sommertag und es wehte nur eine laue, angenehme Brise. „Komm schon! Beeil dich! Man, bist du laaaaaahm!“ Sie lachte wieder los und rannte und rannte, in das Meer aus Weizen, überall Weizen so weit das Auge reichte. Ihre Haare wehten und ihr Kleid flatterte im Wind, und ich hatte alle Mühe sie einzuholen. „Wo willst du eigentlich hin?“ Lachen. „Lina? Linaaa?!!“ Gerade als ich richtig in Fahrt kam und kurz davor war, sie einzuholen, stoppte sie abrupt, drehte sich um, streckte die Hand aus und schrie: „Halt!“ Ich versuchte zu bremsen, schaffte es jedoch nicht mehr und rannte sie voll um und schreiend und lachend landeten wir im Weizen. Wir wälzten uns eine Weile, bis wir mit ausgestreckten Armen und Beinen, tête-à-tête zum Stillstand kamen. Wir beobachteten die Wolken. „Wo würdest du hinfliegen, wenn du auf den Wolken fliegen könntest?“ „Hmm ich weiß nicht. Nach Hawaii?“ „Möp, falsche Antwort!“ Sie lachte wieder. „Wohin dann? Wohin würdest du fliegen?“ Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. Ich glaube es war das einzige Mal, das ich sie nachdenklich und bedrückt gesehen habe. Das einzige Mal, dass sie wirklich ernst antwortete: „Weg. Weg von mir selbst.“ Ein paar Sekunden war Stille, keiner von uns beiden sagte ein Wort, wir starrten in den Himmel. Doch dann wurde sie wie immer, küsste mich zärtlich und begann mein Hemd aufzuknöpfen. „Du hast doch n Schuss.“, sagte ich lachend. Doch natürlich unternahm ich nichts um sie aufzuhalten.
Als wir später nackt im Feld lagen und die ganze Zeit lachten und ich ihrem Singen lauschte, wurde mir klar, das Lina uns alle für den Rest unseres Lebens besitzen würde. Jeder verfiel ihr, egal wie sehr er es versuchte zu unterdrücken. Sie war schon mit vielen meiner Freunde zusammen gewesen, niemals lange, doch jeder dieser Beziehungen war intensiv und niemand hatte es bereut mit ihr zusammen gewesen zu sein. Im Gegenteil, jeder hoffte, dass sie einmal zu ihm zurückkehren würde. Doch jeder wusste, dass Lina nicht zu halten war. Auch wenn es sich jeder von uns wünschte. Auch ich wusste, obwohl sie im Moment bei mir war, dass ich sie niemals würde halten können. Nicht ich hatte sie rumgekriegt, sondern sie mich. Man konnte Lina nicht anmachen, man konnte sie nicht erobern. Ein jeder von uns war nur ein kleines Dorf, das von dem Wirbelsturm kurze Zeit mitgewirbelt wurde, um dann zerstört zurückgelassen zu werden. Doch man hatte es überwunden, die Häuser wurden wieder aufgebaut, manche sogar noch schöner als zuvor...nur wuchs an manchen Stellen kein Gras mehr.
Mir persönlich hatte sie ganz neue Seiten an mir gezeigt, mich lustiger und offener gemacht.
Ich hatte keine Ahnung, was aus ihr geworden war. Nach der Schule hatten wir uns alle aus den Augen verloren. Doch ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich hätte nie an sie gedacht. Sie spukte noch immer in meinem Kopf herum.
Ich konnte nicht leugnen, und ich war mir sicher dass es keiner meiner alten Freunde konnte, dass Lina nicht die Liebe unsres Lebens gewesen war. Lina stand für all das, was in meinem Leben herrlich gewesen war: die Schulzeit, Party’s, Spass, das Leben genießen und entdecken. Wie schön doch alles damals gewesen war. Damals hatte ich geliebt, mit jeder Zelle meines Körpers.
Sie kam anderthalb Stunden zu spät. Typisch. Sie trat in das Lokal, in dem wir, die Ehemaligen, in Erinnerungen versanken, uns über alte Geschichten tot lachten und es uns freute uns alle wieder zu sehen. Sie schwebte durch die Tür und sofort wurde es leiser. Mit ihren 43 Jahren sah sie noch so atemberaubend aus, als hätte sie vor einer Stunde ihr Abiturzeugnis ausgehändigt bekommen. Sie sah genauso aus wie früher. Und als ich sie umarmte bemerkte ich, dass sie sogar noch ganz genauso roch, genau das gleiche Parfum.
Ich war überwältigt. Ich spürte sofort wieder das Kribbeln im Bauch, was mich vier Jahre lang überkommen hatte, wenn ich dieses Parfum gerochen hatte.
Natürlich waren wir alle brennend interessiert, was aus ihr geworden war, ob sie Kinder hatte, was sie beruflich machte usw. Und Lina erzählte. Sie erzählte von ihrer Arbeit als erfolgreiche Journalistin, sie erzählte von L.A., Singapur, Hongkong, Südamerika und Alaska, vom tiefsten Dschungel bis hin zu Wüste Afrikas. Eigentlich genau das, was wir alle von ihr erwartet hatten. Doch die Fragen nach Mann oder Kindern musste sie verneinen. Ihre längste Beziehung war ein halbes Jahr mit einem Fotografen auf der Tour durch Kanada gewesen. Kinder hätten sie nur behindert. Sie wurde ernster als sie davon sprach. Lina ließ sich die Bilder unserer Kinder zeigen, war sehr interessiert und wurde ein bisschen sentimental, bevor sie ihren Mantel nahm und aus dem Lokal hinaus eilte.
Sehnsüchtig starrte ich ihr nach.
Noch immer in Träumen versunken, Träume von einem aufregenden Leben mit Lina, begann ich die vor mir ausgebreiteten Bilder meiner Kinder wieder zusammen zu packen. Mein Blick blieb an dem Einschulungsbild meines Sohnes hängen. Während sich mein Gesicht zu einem breiten Lächeln verzog, nahm ich meinen Mantel und sagte: „So Leute. War schön euch alle wieder zu sehn, aber jetzt möchte ich nach Hause.“
In unserem Vorgarten war lange Zeit kein Gras mehr gewachsen – doch nach dem kräftigen Regenschauer heute Abend spross es schöner als jemals zuvor.