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Lindsay fährt nach Hause
In London kann man sich verirren. Lindsay hatte sich das einfacher vorgestellt, hatte gedacht, sie könne einfach in King’s Cross in den Zug steigen und alles wäre gut. Nun stand sie seit zwanzig Minuten vor den Anzeigetafeln in Moorgate und versuchte aus den vielen Zahlen und farbigen Linien schlau zu werden. Es war nicht mehr warm, sie wünschte sich ihre Jacke zurück, aber die hatte wohl längst einen neuen Besitzer gefunden. Uniformjacken waren nicht billig, und ihre war noch fast neu gewesen.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht, die Jacke und die Schultasche auf der Parkbank liegenzulassen? Einen Moment lang war ihr alles egal gewesen, federleicht hatte sie sich gefühlt, wie oft, wenn sie sich einmal für etwas entschieden hatte. Jede klare Entscheidung war ein Sieg, aber der Sieg ist unsicher; es war wichtig gewesen, sofort loszurennen, schnell, schnell, bevor Bedenken kamen, Einwände, Abwägungen, bevor das Graue und Unerbittliche sich wieder sammeln und aufrichten konnte.
Es war schon halb sechs. Ihr Magen knurrte. Der Mann am Schalter hatte gesagt, sie müsse nach Euston, aber sie entdeckte die Zugverbindung nicht. Gab es überhaupt eine? Sie ging nach draußen und studierte die Busfahrpläne.
Gegenüber der Bushaltestelle war ein Imbiß. Sie rannte über die Straße, kaufte sich ein Sandwich und erwischte den Bus gerade noch. Mißbilligend sah der Fahrer auf das Brot in ihrer Hand.
In Euston stellte sie fest, daß sie den Zug nach Oxenholme gerade verpaßt hatte. Noch eine Stunde warten! Es war, als habe London seine Krakenarme um sie geschlungen, um sie niemals fortzulassen. Sie setzte sich in ein Café und dachte nach.
Ihre Mutter machte sich bestimmt schon Sorgen. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie bei Lucy anrief?
Zum ersten Mal kam Lindsay sich unbeholfen und kindisch vor. Da war das Graue wieder. Die Mutter würde ahnen, wohin sie wollte. Lucy würde es bestätigen. Dann würde die Mutter seufzend zum Telefon greifen und in Windermere anrufen, und was weiter? Was würde der Vater sagen?
Ich weiß von nichts, sie hat mir nichts gesagt.
Wenn sie kommt, würdest du mich bitte sofort zurückrufen?
Aber natürlich.
Da bin ich wieder, Daddy. Ich bin einfach abgehauen.
Und was soll jetzt weiter werden?
Ich bleibe bei dir. In London gehe ich kaputt.
Das müssen wir aber mit deiner Mutter besprechen.
Vielleicht war er nicht zu Hause. Ging er abends aus? Oder bekam er Besuch? Was tat er die ganze Zeit, jetzt, da er das ganze Haus für sich alleine hatte? Kochte er? Arbeitete er? Trank er? War der Garten schon zugewachsen?
Lindsay träumte über ihrer halbvollen Tasse, während die Minuten vergingen und der Tee kalt wurde. Ihr altes Zimmer mit den hohen Fenstern. Der See, die rauhen Vogelschreie am Morgen. Sie würde mit ihrem Vater frühstücken. Sein unrasiertes Gesicht, schlafweich zerknittert, halb hinter der Zeitung versteckt.
Du siehst aus wie ein alter Hippie, Dad.
Sag doch sowas nicht, Lindy. Deine Mutter …
Ich bin nicht meine Mutter.
Der Zug war voll, leerte sich aber, als London endlich zurückzubleiben begann. Wie lange es dauerte, bis der Krake aufgab! Endlose Vororte, Zwischenorte, Halborte, winzige Gärtchen hinter hohen Mauern glitten vorbei, dachlose Gefängniszellen, in die sie hineinsehen konnte. Trostlos. Eine dicke Frau sah aus ihrer Zelle zum vorüberfahrenden Zug auf, die Arme voller Wäsche. Lindy hob die Hand und winkte, ohne zu lächeln. Die Frau wandte sich ab.
Ich hab’s nicht mehr ausgehalten, Mama.
Und da dachtest du, es wäre das Beste, einfach zu gehen, ohne mir ein Wort zu sagen.
Du hättest es doch sowieso nicht erlaubt.
Aber wir hätten darüber reden können.
Das Abteil war leer. Lindsay legte die Füße auf die Sitzbank gegenüber, schlang die Arme um den Körper und schloß die Augen. Die Räder ratterten und sangen: Fortfortfortfort, fortfortfortfort. Das Kinn sank ihr auf die Brust.
Als sie aufwachte, war sie nicht mehr allein. Ein junger Mann saß ihr schräg gegenüber und las, zwischen seinen langen Beinen klemmte ein Gitarrenkoffer, die alte Reisetasche vor seinen Füßen war halb geöffnet und der Inhalt in Unordnung, als habe er ausgiebig darin herumgekramt. Lindsay sah Kleidungsstücke, Bücher, eine Kekspackung. Sie rieb sich die Augen. Draußen war es dunkel.
„Gut geschlafen?“
„Ich hab nicht geschlafen. Wo sind wir denn?“
„Kurz hinter Tamworth. Hättest du aussteigen müssen?“
„Ich sag doch, ich hab nicht geschlafen!“
„Tut mir leid.“
Er klappte das Buch wieder auf. Lindsay betrachtete sein Spiegelbild in der Scheibe, das wuschelige, ungekämmte Haar, den verschossenen Kapuzenpulli, das geflochtene Bändchen am Handgelenk. Er trug eine Brille und schniefte leise beim Umblättern.
Plötzlich merkte sie, daß sie sich über die Gesellschaft freute. Sie reckte die Arme und gähnte, dann fröstelte sie und strich den Rock zurecht. Was hätte sie jetzt für eine Decke oder eine warme Hose gegeben! Ihre Beine und Füße waren eiskalt.
Kann ich noch baden, Daddy? Ich bin ganz erfroren.
Aber sicher, warmes Wasser ist genug da. Ich bring dir einen Tee hoch, ja?
Oh ja, mit Sahne, bitte!
Und richtig viel Zucker, ich weiß.
Als der Zug über eine Weiche ruckelte, kam der Gitarrenkoffer ins Rutschen. Sein Besitzer zuckte zusammen, streckte die Hände aus und ließ dabei das Buch fallen. Lindsay grinste ihn an.
„Laß ihn einfach liegen. Das sah sowieso nicht bequem aus.“
Er lächelte zurück. Seine Augen waren dunkel und ruhig. Er hob das Buch auf und legte es neben sich auf den Sitz.
„Was liest du denn da?“
„Nathaniel Hawthorne.“
„Was, freiwillig?“
„Warum denn nicht? Das sind schöne Geschichten. Magst du Hawthorne nicht?“
„In der Schule mußten wir mal was von ihm lesen. Hab’s vergessen.“
„Ach, vergiß doch die Schule.“
Wieder lächelten sie sich an. Ich mag ihn, dachte Lindsay erstaunt. Sie war jetzt hellwach und aufgeregt.
„Wohin fährst du denn?“
„Nirgendwohin. Gestern war ich bei meiner Tante und hab alle meine Sachen gewaschen. Ich hab auch Tantenkekse … magst du?“
Er fischte die Packung aus seiner Tasche, riß sie auf und hielt sie ihr hin. Lindsay nahm einen und noch einen.
„Du kannst doch nicht nirgendwohin fahren!“, sagte sie mit vollem Mund.
„Ich bin mit der Schule fertig. Was ich mal machen will, weiß ich nicht. Darum reise ich herum, spiele Gitarre, lese und sehe mir das Land an. Und du?“
„Ich fahre zu meinem Vater nach Windermere.“
„Wo ist denn dein Gepäck?“
„Ich hab keins.“
„Gar keins?“
Plötzlich wollte Lindsay ihm alles erzählen. Er hörte zu, sah sie freundlich an, nichts schien ihn zu überraschen. Als sie fertig war, drehte sie ihren letzten Keks in der Hand.
„Weißt du, vielleicht schickt mich Dad auch nach London zurück ...“
„Aber wie willst du denn heute nacht noch nach Windermere kommen? Da fährt kein Zug mehr vor morgen früh. Oxenholme ist ein Dorf, nachts ist alles verlassen.“
Lindsay erschrak. Daran hatte sie nicht gedacht.
„Notfalls muß ich eben laufen“, sagte sie und biß sich auf die Lippe.
„Was, fast zwanzig Kilometer! Ohne Jacke! Bei der Kälte! Das ist eine schlechte Idee.“
„Vielleicht fährt ja doch noch ein Zug …“
„Ich kenne Oxenholme. Die ganze Gegend, ich bin hier aufgewachsen. Vergiß es.“
Sie schwiegen eine Weile. Lindsay sah aus dem Fenster in die Dunkelheit. Die Räder ratterten.
„Aber was soll ich denn machen?“
„Du könntest per Anhalter fahren.“
„Damit mich jemand entführt und ermordet? Das ist auch eine schlechte Idee.“
Er lachte. Dann hob er die Schultern und beugte sich vor.
„Ich könnte mit dir fahren. Dich hinbringen. Mir ist das egal, ich hab keine Termine.“
„Du machst Witze! Woher will ich denn wissen …“
Doch dann brach sie mitten im Satz ab. Sie fühlte, daß keine Gefahr von diesem Fremden ausging. Hatte sie sich nicht jeden Moment leichter und sicherer gefühlt, seit er bei ihr saß? War er ihr überhaupt noch fremd? Auf einmal wußte sie, daß sie sich über nichts mehr gefreut hätte als über sein Angebot, daß sie die ganze Zeit gehofft hatte, er werde länger bei ihr bleiben, mit ihr sprechen und sie mit seinen ruhigen Augen ansehen. Sie holte tief Luft und nickte.
„Wenn es dir nichts ausmacht …“
„Ich kann dir auch einen dicken Pullover leihen.“
Ich hab noch jemanden mitgebracht, Daddy.
So? Wer ist denn das?
Das ist mein Freund, sein Name ist –
„Wie heißt du eigentlich?“