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Loras Wahn
Der gestirnte Himmel lag über uns. Unter uns, direkt unter unseren baumelnden Füßen, gähnende Leere, kilometertiefer Abgrund. Der Mond stand heute so voll und leuchtend am Himmel, dass uns ganz warm um die schwarzen Herzen wurde. Vielleicht lag das aber auch am Whiskey. Lora räusperte sich. In der nächtlichen Stille klang es wie ein Kratzen über die raue Gesteinswand. Sie trank einen Schluck aus ihrer Flasche. Ihre Lippen schimmerten im Sternenlicht. „Weißt du, Sean, “, sagte sie und klemmte die schmale Glasflasche zwischen ihre Oberschenkel, „Heute Nacht ist, glaube ich, der richtige Zeitpunkt.“ Ich nickte bloß. Wie ein stetiger Beat pulsierten meine Adern und ließen meinen Kopf dröhnen. Lora stützte sich auf ihre dünnen Arme und hob ein Bein in die Luft. Sie betrachtete ihre bemalten Fußnägel. „Heute ist es perfekt. Heute ist Vollmond.“ Ich trank einen Schluck Whiskey. Heiß rann er in meine Kehle. Sie hatte Recht. Ich wusste es und wollte es auch und trotzdem hatte ich solche Angst, dass sich Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten. Lora setzte wieder die Flasche an die Lippen. Sie lehnte ihren Kopf in den Nacken und trank. Sie trank und trank, bis die Flasche leer war. Ich dachte, jetzt müsste ihr ganzer Hals von innen weggebrannt sein. Doch als sie ihre Flasche über den Abgrund davon warf und sie aufprallslos verschwand lachte sie ihr lautes betrunkenes Lachen, dass alle Felswände kratzend und fürchterlich wiederholten. „Ich bin so froh, Sean, so froh!“, lallte sie und krallte mit ihren langen Fingernägeln in meinen Arm. „Ich bin so froh, dass wir es zusammen tun werden!“, sie grinste mich an. Ihre Schminke war verwischt. Schwarzer Schatten lag auf ihren Lidern. Schwarz wie unsere Herzen, schwarz wie unsere Absicht. Sie sah schrecklich aus. Ihr zerzaustes blondes Haar klebte an ihrer Stirn und ich begann mich vor ihrem Wahn zu fürchten. Aber warum? Warum? Ich war doch selber wahnsinnig. Lora nahm ihre Hand von meinem Arm. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich es wirklich noch tun wollte. Ich musste noch mehr trinken. „Sean, Sean, freust du dich nicht auch?“ Ich nickte, legte den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel. Was würde danach kommen? Würde wirklich alles besser werden? Lora strich mir mit ihren kalten Fingern über die Wange. „Mach dich bereit, mein Kleiner. Mach dich bereit für die Sonne.“ Jetzt spürte ich das Pochen ganz deutlich in meinem Kopf. Doch es kam nicht vom Alkohol. Es war die Angst. Die nackte Angst vor Lora. Angst um Lora. Angst um mich. Eine graue Wolke zog sich vor den hellen Mond. „Es wird jetzt auch Zeit, darling.“, sagte sie und lächelte mich schielend, betrunken und völlig wahnsinnig an. „Aber vorher musst du noch austrinken. Weißt du, der Whiskey ist wirklich gut. Es wäre schade! Trink schon.“ Ich trank, mit geschlossenen Augen und mir vorstellend, wie wir in wenigen Sekunden fliegen würden. Fliegen würden über den Abhang, immer weiter, vom Alkohol und Wahnsinn betäubt und unten wieder aufstehen würden und der Sonne, Hand in Hand, entgegen würden. Ich öffnete die Augen. Meine Flasche war leer. Lora klatschte begeistert in die Hände, riss mir die Flasche aus der Hand und warf sie weit, weit fort. Ich sah ihr nach. Das war ich. Diese leere, ausgesoffene Flasche war ich. Und Lora war es, die mich warf. Sie war es, der es egal war, dass ich flog und flog, aber keine Flügel hatte. Sie, die wusste, dass ich irgendwann, wenn ich längst begriffen hatte nicht fliegen zu können, zerbrechen würde. Ich starrte den dunklen Abhang hinunter, blickte zurück zu Lora und ich glaube, ich weinte sogar ein bisschen. Doch die Tränen vermischten sich mit meinem Angstschweiß und so bemerkte sie es nicht. Wahrscheinlich war sie zu betrunken, um irgendetwas zu merken. Ihre knochigen Finger packten meine Hand. „Jetzt“; hauchte sie und ihre Augen leuchteten. Sie ließ meine Hand los. „Bist du bereit?“, fragte sie und sah dabei starr nach vorne. Ich musterte sie von der Seite, wie sie da saß, kerzengrade und gespannt. Sie wartete. Wartete auf das Signal. Auf den Gnadenschuss. Ihre dünnen Arme zitterten, sie wippte hin und her. „Ja“, sagte ich leise und mit zittriger Stimme. Unter mir der Abgrund in meinem schwarzen Blut der Alkohol. Ich sah noch auf Loras dünne Lippen. Sie lächelte. „Zusammen…“, flüsterte sie und flog über die Klippe. Ich starrte ihr nach, gelähmt, unfähig mich zu rühren. Wie eine leere, ausgesoffene Whiskeyflasche verschwand Lora aus meinem Leben. Ohne das dumpfe Geräusch eines Aufpralls. Ich stand auf und ging langsam torkelnd weg. Weg von der Klippe.