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Lou, die älteste Tochter der Muschelkönigin
Zwischen algenbewachsenen Klippen und Korallenwäldern erhob sich tief im Meer verborgen ein prachtvolles Schloss. In alten Zeiten ward es aus Tausenden von Muscheln erbaut. Zart in Perlmuttfarben eingetaucht schimmerte es in silbernem Glanz durch die Wellen. Kleine Aussichtstürme schmückten den Palast, an deren Balustraden man weit in das Wasser blicken konnte. Kunstvoll emporgewundene Schneckenhäuser bildeten die Dächer der Türme. Hier lebte die Muschelkönigin mit ihren drei Töchtern. Der Muschelkönig war vor vielen Gezeiten zu einer Reise durch sein Reich aufgebrochen und nicht mehr zurückgekehrt. Um ihn zu finden, sandte die Königin Heerscharen von Fischen aus. In allen sieben Weltmeeren suchten sie nach ihrem König.
Viele Zeiten vergingen und ein Heer nach dem anderen kehrte erfolglos zurück.
Verzweifelt schwamm die Königin zu Poseidon und bat ihn: „Bitte!, großer Herrscher, helft mir: Nur Ihr seid in der Lage, meinen Mann zurückzubringen.“
Der Meeresgott schüttelte sein mächtiges Haupt. „Es liegt nicht in meiner Macht, dir diesen Dienst zu erweisen. Doch ich will etwas anderes für dich tun, wenn die Zeit gekommen ist, werde ich drei Wirbel aussenden. Im kreisenden Wasser der Weisheit, wird jede deiner Töchter eine Gabe erhalten.“
Bekümmert reiste die Königin nach Hause. Das Versprechen Poseidons verschwieg sie ihren Töchtern. So wuchsen die Meerjungfrauen heran.
Lou, hieß die älteste. Sie besaß Augen blau und tief wie das Meer. Ihre hellen Haare fielen in Wellen über die schmalen Schultern und reichten bis zu der zierlichen Fischflosse, deren grüne Schuppen wie eine Wiese im Morgentau glänzten.
Die mittlere Prinzessin wurde Orela genannt. Haare, so braun wie das Fell eines Rehs, umrahmten ihr blasses Gesicht, aus dem große dunkle Augen strahlten.
Althea, die jüngste und lebhafteste, stand den Schwestern an Schönheit in nichts nach. Lockige Haare, leuchtend rot wie die untergehende Sonne, bedeckten die schlanke Gestalt. Grün wie Seegras blickten ihre Augen stets wachsam und wissbegierig umher. So verschieden die Schwestern an Aussehen und Gemüt auch sein mochten, sie hingen mit inniger Liebe aneinander und verbrachten jede Stunde des Tages zusammen. Oft langweilten sich die Prinzessinnen im Schloss. Vor Angst, sie ebenfalls zu verlieren, befahl die Mutter, dass die Schwestern sich außerhalb des Palastes nur im königlichen Garten aufhalten durften. Hier wuchsen die schönsten Korallen in allen Farben und Formen. Verschiedenartige Fische schwammen zwischen Seegras und Algenwiese. Für die jüngste gab es nichts Schöneres, als in dem herrlichen Garten zu spielen. „Lou, Orela, bitte spielt mit mir Verstecken!“
Die Geschwister konnten dem Nesthäkchen keinen Wunsch abschlagen. Lou hielt die Hände vor die Augen und begann zu zählen; eins, zwei, drei, vier … langsam bis zehn. Mit lieblicher Stimme sang sie: „Alle Fischlein groß und klein, Meerjungfrau, Prinzessin fein, alles muss versteckt sein. Ich komme.“ Lou nahm die Hände weg und blickte sich um. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie, dass über dem Wasser ein dunkler Schleier lag. Eine heftige Woge erfasste ihren Körper und wirbelte sie herum. Mit aller Kraft stemmte Lou sich dagegen, ihr kleiner Fischschwanz zitterte vor Anstrengung. „Orela, Althea!“, rief sie in das tobende Meer, „kommt, wir müssen zurück!“ Lou überlegte: sollte sie ins Schloss schwimmen oder ihre jüngeren Schwestern suchen. Hin und hergerissen starrte sie in das sich aufbäumende Wasser. Ein seltsames Leuchten bewegte sich auf den Garten zu. Es schien wirbelndes Wasser zu sein, in dem bunte Lichter blitzten. Fasziniert von dem rosa, blaugrünen Farbenspiel, blickte sie auf den schnell näherkommenden Kreisel. Bevor Lou wusste, wie ihr geschah, wurde sie von dem tanzenden Wasser erfasst und davongetragen.
Vom höchsten Turm des Schlosses aus beobachtete die Muschelkönigin das Geschehen. Sie sah, wie das Meer so dunkel wie ein Tintenfass wurde. Wie es sich mit lautem Getöse wild aufbäumte. Sie sah die drei Wasserwirbel näherkommen und im Garten stehen bleiben. Ein tiefer Seufzer entfloh ihren Lippen. Jetzt war es so weit, der Meeresgott ließ ihre Kinder holen. Schweren Herzens beobachtete sie, wie der Wirbel aus dem Norden, in dessen Mitte das Polarlicht in grellgrünen, veilchenblauen und rosaroten Farben tanzte, ihre älteste Tochter Lou erfasste und mitnahm. Der Wasserwirbel aus dem Osten, der im warmen Leuchten des Morgensterns strahlte, hob Orela aus den Anemonen. In einem Licht, wie von Tausenden Glühwürmchen begleitet, verschwand die Prinzessin in der Mitte des Wirbels, der sie davontrug. Tränen rannen der Königin über das Gesicht, als sie sah, wie der Südwirbel ihre jüngste erfasste, die Muschel anhob und sie in eine kreisend, grüne Wassersäule zog, um mit ihr davonzuwirbeln. Die Königin wandte sich ab, sie würde den schnellsten Fischen befehlen, ihre Töchter zu suchen.
Stunde um Stunde beobachtete Lou die blitzenden Lichter in der Mitte des Kreisels. Während der Wirbel sie von einem Ozean in den Nächsten trug. Weiter, immer weiter weg, vom Muschelmeer. Gezeiten später beendete das Wasser seinen Tanz, die Lichter erloschen und die Prinzessin blickte in ein fremdes Meer. Hier gab es kein anderes Lebewesen. Nirgends entdeckte sie eine der vielen bunten Muscheln, die zu Tausenden ihre Heimat bevölkerten. Nicht der kleinste Krebs bewegte sich auf dem Meeresboden. Hier lag nur heller Sand, der im bleichen Licht trostlos leuchtete. Eine große Stille umgab sie. Noch nie in ihrem Leben hatte Lou sich so einsam gefühlt. Traurig rief sie ins Meer: „Hallo, ist hier jemand?“ Lou lauschte gespannt, nichts, nicht der geringste Laut drang an ihr Ohr. Schnell weg von diesem Ort. Irgendwo musste es schließlich ein Lebewesen geben, das ihr helfen konnte nach Hause zu finden. Die Prinzessin schwamm los. „Au, aua“, was war das? Heftig, war sie mit dem Kopf an eine Wand gestoßen. Vorsichtig fuhr Lou mit der Hand über das feste Wasser. Es fühlte sich kalt, glatt und hart an.
„Willst du mit deinem Kopf ein Loch in den Eisberg bohren?“
„N…nein“, stotterte Lou und drehte sich um. Hinter ihr schwamm ein silbern-schuppiger Fisch, der beinahe so groß wie sie war.
„Du liebes Meer, wo kommst du denn her? So etwas wie dich habe ich ja noch nie gesehen?“
Lou freute sich, nicht mehr alleine zu sein. „Ich komme aus dem Muschelmeer und bin eine Meerjungfrau. Ich heiße Lou. Wo bin ich hier?“
„Du bist im Nordmeer und wenn ich mich vorstellen darf, Fjodor Dorsch mein Name. Und das ist meine Verwandtschaft.“ Er wies mit der Flosse hinter sich, auf einen Schwarm silberner Fische. „Fünfhundertsiebenundachtzig Schwestern und Brüder und noch ein paar Onkel und Tanten.“ Alle blickten Lou neugierig an. „Was machst du hier im Nordmeer, du wolltest doch nicht wirklich ein Loch in den Eisberg bohren?“
„Nein“, Lou lächelte und rieb sich die schmerzende Stirn. „Ich bin dagegen gestoßen, bei uns im Muschelmeer gibt es keine Eisberge. Ein Wirbel hat mich hierher getragen und ich möchte nach Hause zurück.“
„Ich habe noch nie von einem Muschelmeer gehört, aber ein paar Flossenschläge weiter oben, bringt Mama Eisbär ihren Jungen das Tauchen bei. Vielleicht weiß sie etwas von deinem Meer und kann dir helfen.“
„Lieben Dank, Herr Dorsch, ich werde sie gleich fragen.“
„Man sieht sich.“ Fjodor schwamm zu seiner Verwandtschaft, die ihn mit Fragen bestürmte: „Wer ist das, wo kommt sie her, wie heißt sie, was macht sie hier?
Lou schnellte inzwischen mit einem heftigen Flossenschlag nach oben und staunte. Vor ihr tauchte ein weißer Fellriese mit seltsamem Kopf, kleinen runden Ohren und dunklen Knopfaugen. Er paddelte mit kurzen Tatzenbeinen durchs Wasser. An seinem Hinterteil hatte er keine Flosse, ein winziges Pelzstummelchen wippte auf und ab. Das musste Mama Bär sein. Neben ihr bewegten sich zwei kleinere Fellknäuel, die immer wieder Purzelbäume schlugen. Es sah so lustig aus, dass die Meerjungfrau ebenfalls versuchte, einen Purzelbaum zu machen.
„Wer bist du?“ Neugierig war eines der Bärenkinder zu ihr getaucht.
„Ich bin Lou.“
„Knuti, habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht mit Fremden sprechen!“ Wütend knurrte die Eisbärmama und zeigte dabei ihr imposantes Gebiss.
„Entschuldigung, Frau Eisbär, ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht wissen, wo das Muschelmeer ist?“
„Kindchen, als ob ich vom Nordpol wegkommen würde. Frage den großen Wal, er ist schon viel herumgekommen.“
„Wo finde ich den großen Wal?“
„Er hört sehr gut, wenn du nach unten schwimmst und laut Tityos rufst, wird er kommen.“
„Vielen Dank.“ Lou winkte der Eisbärmama und ihren Kindern zum Abschied zu. Auf dem Meeresboden angekommen, rief die Prinzessin so laut sie konnte „Tityos!“
Es dauerte nicht lange und das Wasser begann sich zu kräuseln. Ein riesiger Fisch schwamm mit einer großen Welle auf sie zu. Er öffnete das Maul, und Lou dachte: dass sie mitsamt der Eisbärfamilie darin Platz finden würde. Sanft neigte der Wal den Kopf und die Prinzessin sah, dass er sie mit gütigen, freundlichen Augen ansah.
„Bitte, kannst du mir sagen, wie ich zurück ins Muschelmeer komme?“
„Du bist eine Meerjungfrau, ich habe schon viel von euch gehört, doch noch nie eine gesehen, ich freue mich, dich kennenzulernen. Leider kann ich dir nicht helfen, vom Muschelmeer habe ich noch nie gehört.“
Laut seufzte die Prinzessin, ihr Herz fühlte sich so schwer an, als ob der Wal sich darauf gesetzt hätte.
Tityos erkannte ihre Traurigkeit. „Ich weiß, wer dir helfen kann“, sprach er beruhigend. „Der Herrscher des Eismeeres kennt alle Ozeane. Ich werde dich zu ihm bringen. Es ist ein guter Zeitpunkt, denn Arktis ist schon satt. Halte dich an meiner Rückenflosse fest.“ Schnell schwamm Lou auf seinen Rücken und klammerte sich mit beiden Händen an seine Flosse.
„Wird der Herrscher wütend, wenn man ihn beim Essen stört?“, fragte sie neugierig.
„Das weiß ich nicht, doch mancher Fisch ist nach der Mittagszeit nicht mehr aus seiner Höhle gekommen.“
Vielleicht, überlegte Lou, ist es doch keine so gute Idee, ihn zu fragen. Es dauerte nicht lange und der Wal verkündete: „Hier ist der Eingang zu seiner Höhle.“
„Lieber Tityos, hab vielen Dank.“
„Gern geschehen und viel Glück, kleine Meerjungfrau“, verabschiedete sich der Wal und schwamm davon. Wobei er so viel Sand aufwirbelte, dass Lou rasch ihre Wimpern schloss, damit sich keines der winzigen Körner in ihre Augen verirrte. Sie wollte schon in die hohe Eishöhle schwimmen, als sie im aufgewirbelten Meeresgrund goldene Lichtpunkte tanzen sah. Halb verdeckt im Sand lag etwas. Lou griff danach und erkannte das goldene Schwert ihres Vaters. Warum lag es hier, was mochte dem geliebten Vater geschehen sein. Mit beiden Händen ergriff sie das Schwert und schwamm in die Höhle. In blauem Licht strahlten funkelnde Eiskristalle, riesige Eiszapfen hingen von der weißen Decke. Die Prinzessin hielt den Atem an, so etwas hatte sie noch nie gesehen; vor ihr befand sich ein gefrorener Wasserfall, der in einem türkis-blauen Gletschersee mündete. Hinter dem gefrorenen Vorhang erschien ein mächtiger Kopf, begleitet von einem drohenden Grollen. Gefährlich spitze Fangzähne wurden in dem dunklen Maul sichtbar. Arktis trat hervor. Er sah aus wie die Eisbären, weiß und fellig, nur dass dieser riesengroß war und ihr schreckliche Angst machte.
„Wo hast du das her?“, donnerte seine Stimme, schwarze Augen blickten auf das Schwert.
Eingeschüchtert beantwortete Lou die Frage: „Im Sand gefunden, es gehört meinem Vater.“
„Dann bist du die Tochter des Muschelkönigs und wagst dich in mein Reich!“ Er brüllte so laut, dass sich Eiszapfen von der Decke lösten und klirrend auf den Boden fielen. Erschrocken wich Lou ihnen aus. „Dein Vater hat meinen Sohn daran gehindert, unser Reich zu vergrößern, er hat ihn getötet. Dafür habe ich deinen Vater in einer Eissäule eingefroren, die hoch über dem Meer in den Himmel steigt. Dahin, wo nicht einmal Poseidons Macht hinreicht. Erst wenn dereinst die Sonne ins Meer fällt, wird er wieder frei sein.“ Ein fürchterliches Lachen hallte durch die Höhle. „Du wirst nun sein Schicksal teilen.“
Entsetzt starrte Lou auf den Riesen, der mit aufgerissenem Maul auf sie zuraste
„Du musst dumm wie Meersand sein, wenn du dich in meine Höhle traust.“ Seine Pranken griffen nach ihr. Wütend hob Lou das Schwert und mit einer Kraft, von der sie nicht wusste, woher sie kam, stach sie dem Riesen in die Brust. Ein grausames Brüllen erfüllte die Höhle. Arktis schlug mit beiden Klauen nach ihr. Lou hob ihn mit dem Schwert in die Luft, als ob er leicht wie eine Feder wäre, und schleuderte den Riesen gegen die Höhlenwand. Laut krachte das Eis und überall an den Wänden bildeten sich große Risse. Schnell floh Lou zum Ausgang. Eisberge so groß wie ein Palast stürzten mit dumpfem Getöse ins Meer. Doch kein noch so riesiger Berg konnte Lou etwas anhaben, mit Leichtigkeit hob sie das Eis über ihren Kopf und schwamm darunter hindurch. Neben ihr fiel langsam wie ein sinkendes Schiff eine Eissäule auf den Meeresboden. Ungläubig starrte Lou auf ihren Vater. Im gefrorenen Wasser eingeschlossen lag er da. „Vater“, hauchte sie. Die Prinzessin zog die Eissäule weit weg von der eingestürzten Herrscherhöhle und setzte sich erschöpft darauf.
„Lou, Meerjungfrau Lou“, hörte sie es rufen. Fjodor Dorsch schwamm auf sie zu. „Du liebes Bisschen, was ist denn hier passiert?“
„Die Höhle ist eingestürzt und mein Vater ist heruntergefallen“, versuchte Lou die Geschichte zu verkürzen.
Doch so schnell gab sich Herr Dorsch nicht zufrieden. „Und Arktis?“
„Den habe ich getötet.“
„Ist dir was auf den Kopf gefallen?“ Besorgt musterte er die Prinzessin. Wortlos rutschte Lou von der Eissäule und Fjodor sah den eingefrorenen König. Seine Dorschaugen sprangen fast aus ihren Höhlen, und sein aufgerissenes Fischmaul schnappte lautlos auf und zu. Neugierig kam seine Schwarmverwandtschaft angeschwommen, alle wollten wissen, was geschehen war. Doch der gesprächigste Fisch im ganzen Nordmeer blieb stumm. Fjodors Blick wanderte zwischen der eingestürzten Höhle, der kleinen Meerjungfrau und der großen Eissäule mit dem eingefrorenen Muschelkönig hin und her.
„Ich werde euch erzählen, was passiert ist.“ Lou berichtete Herrn Dorsch und seiner Verwandtschaft, was sich zugetragen hatte.
„Du bist aber stark“, staunte der kleinste Dorsch. Und die gesamte Dorschverwandtschaft sperrte ihr Fischmaul auf und staunte mit.
„Ich denke, der Wirbel hat mich so stark gemacht.“
„Deshalb wollte ich zu dir.“ Herr Dorsch fand seine Sprache wieder: „Ich habe von den Pazifikdorschen gehört, dass Fische vom Muschelmeer unterwegs sind, die nach Meerjungfrauen suchen.“
„Schnell, bringe mich zu ihnen!“ Aufgeregt schwamm Lou neben Fjodor.
„Nein, geht nicht“, bedauernd schüttelte Herr Dorsch den Kopf. „Die Pazifikdorsche haben es von den Atlantikdorschen gehört und die haben es von den Karadorschen gehört und …“
„Ja, ja, ich habe es schon verstanden“, unterbrach ihn die Prinzessin ungeduldig. „Niemand weiß, wo die Fische aus dem Muschelmeer gerade sind.“ Sie setzte sich zurück auf die Eissäule und nahm traurig den Kopf zwischen die Hände. „Ich will nach Hause“, schluchzte Lou. Wieder war es der kleinste Dorsch, der tröstend seine Flosse auf ihre Schultern legte. „Der große Wal kann sich von einem Meer ins andere mit seiner Verwandtschaft unterhalten, bestimmt kann er dir helfen“, schlug der Winzling vor.
„Tityus, Tityus!“, rief Lou und knabberte vor Aufregung an ihren Fingernägeln.
Es dauerte nicht lange und Tityus schwamm heran. „Was ist denn hier passiert?“, wollte nun auch der Wal wissen, als er die eingestürzte Herrscherhöhle sah. Erneut begann die Prinzessin zu erzählen und zeigte zum Schluss auf ihren Vater, der mit geschlossenen Augen in seinem eisigen Grab lag.
Voller Bewunderung blickte Tityos auf Lou. „Was kann ich für Euch tun, Prinzessin, denn das seid Ihr ja wohl?“
„Lieber Wal, bitte frage deine Verwandtschaft in den anderen Meeren, ob sie die Fische gesehen haben, die mich suchen. Teile ihnen mit: Ich werde mich an den Rand des Nordmeeres begeben und dort auf die Muschelmeerfische warten.“
Sogleich begann der Wal in einer wunderschönen Melodie zu singen, die nur Wale verstehen können. Als er endete, lauschten die Prinzessin und der Dorschschwarm angestrengt.
„Also, ich höre nichts, die antworten nicht“, brummelte Fjodor.
„psssst.“ Der kleinste Dorsch legte seine Flosse auf das Fischmaul von Onkel Dorsch und flüsterte: „Schau doch, er hört etwas, das wir nicht hören.“
Auch Fjodor sah, dass Tityos riesiges Fischmaul noch größer wurde und er strahlend lächelte, gerade so, als ob er gute Nachrichten bekommen hätte.
„Prinzessin, meine Freunde sind Fischen begegnet, die nach Meerjungfrauen suchen. Sie werden ihnen die Nachricht überbringen, dass sie euch am Rande des Nordmeeres finden.“
„Wie wunderbar, lieber Tityos, kannst du mich an den Nordmeerrand bringen?“
„Schwimm auf meinen Rücken und halte dich fest.“
Mit Leichtigkeit legte sich Lou die große Eissäule auf die Schulter und wandte sich zum Abschied dem Dorschschwarm zu. „Auf Wiedersehen, liebe Freunde, und habt vielen Dank!“
Mit den Flossen schlagend winkten die Dorschlinge der Prinzessin hinterher.
Lange Zeit schwamm der Wal mit Lou unter einer großen Eisdecke. Bis diese dünner und dünner wurde und nur noch vereinzelte Eisschollen im Wasser trieben. Schließlich war das Eis ganz verschwunden und vor den beiden tauchte ein riesiges Gebirge auf. Auf dessen höchstem Gipfel Tityos Lou auf einem Felsen absetzte. „Das sind die Seeberge, ich werde meinen Freunden mitteilen, dass ihr hier auf die Muschelmeerfische wartet. Gehabt euch wohl, Prinzessin.“
„Auf Wiedersehen, lieber Tityos, ich danke Euch von ganzen Herzen.“ Sie winkte dem Wal nach, bis dieser in den Tiefen des Meeres verschwunden war. Vorsichtig legte Lou die Eissäule auf den Fels und blickte dem König ins Gesicht. „Lieber Vater, ich werde dich nach Hause bringen, damit das ganze Muschelreich dich beerdigen kann.“ Sie setzte sich auf die Säule und ihre Augen durchstreiften das Meer auf der Suche nach den Fischen ihrer Heimat. Langsam wurden ihre Lider schwerer und schwerer, die Wellen des Meeres wiegten sie in einen langen, tiefen Schlaf.
„Was war das? Aua!“ Hart landete die Prinzessin auf dem Boden, und ungläubig sah sie zu, wie ihr Vater aufstand. Die Eissäule war geschmolzen.
„Warum sitzt du auf meinem Bauch?“, grollte die Stimme des Königs.
„Vater, ich dachte, Ihr seid tot!“
„Lou, meine kleine Lou, bist du es wirklich?“
Ihr könnt euch denken, dass es für die beiden jetzt ganz viel zu erzählen gibt. Der Muschelkönig erzählte, wie er von dem Herrscher der Eismeere gefangen wurde. Lou erzählte, wie sie ins Nordmeer gelangt war und ihn befreit hatte. Sie erzählten und erzählten, bis die Muschelmeerfische erschienen und sie nach Hause führten. Die Freude der Königin, als sie ihren geliebten Mann und ihre Tochter in die Arme nahm, kann ich euch nicht beschreiben. Es herrschte eine riesige Glückseligkeit im Muschelschloss.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sind sie glücklich und freuen sich noch immer.