Was ist neu

Lull

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21.02.2022
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Lull

Alles passiert unerwartet.

Ich wache in der Dunkelheit auf, reibe meine Augen und entdecke, dass ich statt einer Hand Federn habe. Ich sehe zur Seite, Kälte steigt in mir auf. Mein Herz setzt aus.
Den Rest erahne ich: Ich bin kein Mensch mehr. Ich bin ein Vogel. Vielleicht einer von denen, die mir seit Jahren in Erinnerung geblieben sind. Mein Vater hatte damals gesagt: „Schau, das sind die Zugvögel!“

Wo bin ich jetzt? Was ist das für ein unendlicher, dunkler Raum? Ein entsetzlicher Ort! Vielleicht ein Ort für Verräter?
Die schreckliche Vorahnung streift mich mit ihrem Flügel.
Ein Gedanke, den ich nicht gleich in Worte fassen kann, verbrüht mich.
Ein verschwommenes Bild schießt mir durch den Kopf: Ich trage Schuld. Für etwas, an das ich mich nicht erinnere. Und diese Schuld klebt an mir wie Federn an blutigen Fingern.
„Blödsinn“, will ich sagen, aber der erste Schuldgedanke bläht sich auf. Zu ihm gesellen sich weitere unerträgliche Gedanken an Mord und Verrat. Ich höre Flehen und Schluchzen. Es fallen Schüsse. Zwei Kinderaugen blicken mich an. Dazu schreit etwas in mir und nichts kann diesen Schrei übertönen.

Wo bin ich, um Himmels Willen?! Was ist los mit mir? Eine Vermutung tränkt meinen Körper mit Angst, Angst vor mir selbst.
Wie ein Wahnsinniger versuche ich dem Elend zu entfliehen, breite meine Flügel aus und hebe ab. Im nächsten Moment stoße ich gegen eine Wand.
Während ich falle und auf etwas Weichem lande, höre ich glucksende Geräusche. Plötzlich glänzen in der Tiefe des Raums viele Vogelaugen.
Ich bin nicht alleine.

„Seid ihr auch Menschen?“, frage ich mit zitternder Stimme.
Sie kreischen durcheinander, springen auf und drehen kurze waghalsige Runden, als seien auch sie auf der Flucht vor sich selbst.
Es dauert eine Weile, bis die Vögel nach und nach verstummen. Im Hintergrund höre ich leises Schluchzen und kurzes Aufstöhnen.
Ich lehne mich an die Wand, recke den Hals und erreiche mit Mühe einen Spalt, durch den ein wenig Licht in den Raum fällt.
„Wo sind wir?“, fragt einer der Vögel.
„Ich glaube, in einem Güterwaggon.“
Ich watschele auf die andere Seite des Raums zum nächsten spärlichen Lichtstrahl. Der gleiche Vogel stößt mich wieder ungeduldig mit seinem Schnabel an:
„Und? Siehst du was?“
„Was ich sehe, ist seltsam. Was siehst du hier?“
Der Vogel kommt näher, legt seinen Kopf schief an die hölzerne Wand und hält den Atem an.
Die anderen Zugvögel beobachten uns still.
„Öde Gegend …, gelbes Gras, noch ein Waggon …Viele Gleise ...“
„Und was siehst du auf der anderen Seite?“

Der Spalt an der anderen Wand ist viel kleiner.
„Doch, ich sehe was“, sagt er nach einer Pause mit gepresster Stimme. „Ich sehe eine Stadt. Aber sie ist irgendwie anders, sie passt nicht hierzu.“
„Eben. Nichts passt zusammen. Und wir können hier nicht weg.“
Das löst bei den Zugvögeln erneut Panik aus.
„Seid still!“, sage ich mit fester Stimme. „Ich habe eben etwas gehört, und das kam von draußen.“
Ich spreche besonders laut und hoffe, dass wir endlich von jemandem entdeckt werden.

„Hey, ihr Vögel im Zug!“, piepst es von oben. „Ich bin einer von euch, ein Lokvogel und ich wohne in einer Lokomotive.“
„Was ist eine Lokomotive?“
„Das ist ein starker Waggon, der vorne am Zug fährt und alle Waggons mit sich zieht.“
„Du meinst eine Dampfmaschine?“
Der Lokvogel prustet: „Wohnst du in einem Museum, du komischer Vogel? Deine altmodischen Dampfmaschinen gibt es seit einer Ewigkeit nicht mehr! Woher kommt ihr überhaupt? Seid ihr etwa hier gefangen? Dann hätte ich einen Plan!“
„Was hast du vor?“, frage ich hoffnungsvoll.
„Ich könnte euch mit auf eine Reise nehmen. Dann wärt ihr wandernde Zugvögel!“
„Bist du dir sicher, dass du das schaffst?“
„Kein Problem! Ich weiß, wo der Zündschlüssel liegt. Ich werde die Lok mit links starten! Bis heute Abend dann!“
Und weg ist er.

„Was wird aus uns? Wird er uns wirklich helfen?“, schießt es mir durch den Kopf. Und dabei verspüre ich, wie sich Hunger, gleich einem Dieb, in meinen Körper schleicht.
Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt und ich betrachte die Umgebung.
Die Vögel legen sich nieder auf den kalten Fußboden. Einzeln und in Gruppen. Sie wirken erschöpft und traurig.
Der Boden ist schmutzig weiß und atmet zitternd.
Sie haben sich ergeben.
Aber ich gebe nicht auf!
Es muss einen Ausweg geben! Genau dort, wo es einen Eingang gibt, muss sich auch ein Ausgang befinden.

Aufmerksam inspiziere ich die Wände des Waggons, die Decke, schaue über die liegenden Vögel. Ich muss dieses Rätsel lösen!
An einer Stelle auf dem Boden gibt es einen dunklen Fleck, den ich zuerst kaum wahrnehme, denn eine grüne Raupe an der Wand lenkt mich ab, ich würde sie gerne verspeisen. Instinktiv ziele ich mit meinem Schnabel auf die Raupe und picke mehrmals gegen das Holz.
Wie aus einem Traum gerissen, schaue ich zu den liegenden Vögeln und erstarre. Der dunkle Fleck ist größer geworden. Es sieht aus, als ob ein unsichtbares Wesen blutet.
Ein Schrei stockt in meinem Rachen.
Wie aus dem Nichts entzündet sich eine Flamme im hinteren Teil des Waggons, schlängelt und züngelt immer weiter aus.
„Alle zusammenhalten! Du und du, versucht, die Wand zu durchbrechen! Eine Chance haben wir noch!“
Doch bei mir denke ich: Hier werden wir nicht lebend rauskommen!
Wir hämmern mit unseren Schnäbeln gegen das Holz. Es krächzt, es hält stand, wir schlagen uns dabei selbst blutig. Es gibt nach.

Es kommt mir vor, als ob ich fliege ....
Ich bin Lull. Jemand hat mir diesen Namen gegeben. Wer war das?
Ich bin Lull.
Nach dem Sprung aus dem brennenden Waggon will ich abheben. Aber das geht nicht. Ich bin zu schwer. Ich habe Schuhe an.
Ich. Bin. Lull. Ein. Mensch.

Ich wage einen weiteren Sprung aus der Dunkelheit in das Licht.
Und mir folgen alle, die der Hölle des Waggons nicht zu entkommen dachten.
Die Sonne ergießt sich über mich und beleckt mich mit der Zärtlichkeit eines Julitages. Von den Pflastersteinen steigt dampfend Wärme auf und ich spüre, dass es vor ein paar Stunden noch regnete.
Jetzt erkenne ich meine Gefährten. Meine Freunde, meine Brüder. Nein, mehr als Brüder. Ein dünner, blutroter Seidenfaden des Verrats verbindet uns miteinander. Sein Anfang liegt in einem schrecklichen Geheimnis.
Erleichtert spucke ich mir vor die Füße, denn in mir hat sich bereits viel angestaut. Ich bin endlich zu Hause.
Meine ersten Erinnerungen sind mit dieser Stadt verschmolzen. Die Straßen sind mir bekannt wie die eigene Haut. In diesem Haus mit gelblichen Fenstern wohnt die Witwe Broch. Im Frühling und im Herbst trägt sie ihren teuren, altmodischen Mantel mit dem Wabenmuster. Mit der Zeit ist der Stoff veraltet und mit dem Mantel hat sich die schnöde Broch in eine Dörrdattel verwandelt, wie eine, die in der hinteren Ecke eines Vorratsschranks überwintert hat.
Gott, jetzt weiß ich es! Die Broch wurde letzte Woche von Soldaten aus ihrem Haus gejagt. Ihre Hornbrille, die sie fest in der Hand gehalten hat, fand ich später zwischen den Eisenbahnschienen. Ich dachte noch, ich hätte ein Geldstück gefunden – so schön glänzte das Glas in der Sonne. Sie ist also unfreiwillig gegangen. Zum Glück konnte sie ihr Elend nicht sehen!

Ich grinse frech. Ich konnte die Dörrdattel niemals ausstehen. Aber was soll´s? Was weg ist, ist weg.
Ich möchte dieses Gefühl der Freiheit genießen, da fliegt ein Stein in meine Richtung.
Ohne mich umzudrehen, laufe ich los. Vorbei am Ledergeschäft von Meyer, an der Buchhandlung Levin, an der Metzgerei Blum und an der Schule mit den kaputten Fenstern, an allem, was früher vom Leben und Kindergeschrei erfüllt war. Die Straße schlängelt sich, an ihrem Ende sehe ich die Konditorei Rosenzweig. Ich habe keine Zeit zu überlegen und renne immer schneller, bis ich in der Nähe der Konditorei abrupt stoppe.
Etwas hindert mich, auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Als ob eine Welle mich nicht weiterkommen lässt. Als ob ich gegen etwas Unsichtbares stoße. Ich versuche, mit aller Gewalt durchzudringen. Ich schütze mein Gesicht, neige den Kopf zur Seite und ein wenig nach hinten. Ich höre, wie nah meine Jäger sind. Ich bin nah am Verzweifeln, da saugt mich die gleiche Welle wie ein Strudel ein. Mit ein paar Sprüngen bin ich bei der Konditorei, öffne die Tür und trete ein. Hinter mir ist es still.

Ich sehe die Theke. Früher standen hier die Süßigkeiten. Nun ist der Ladentisch leer. Das Vitrinenglas glänzt nicht mehr und die gestärkten Häkelvorhänge sind verschwunden. Hier riecht es nach meiner Schuld und meinem Verrat. Ich habe diesen Ort einst verunreinigt, und jetzt suche ich ausgerechnet hier Zuflucht.
Ich rufe leise. Rappeldürr und schmutzig kriecht der kleine David hervor.
„Mama Bassja ist weg.“
„Ich weiß.“
„Papa Schmuel ist weg.“
Es ist unerträglich für mich, Namen meiner Opfer aus seinem Mund zu hören.
Aber David zählt weiter. Sechs Namen. Sechs seiner Liebsten. Sechs, die nicht mehr hierherkommen und mich jetzt stumm anklagen.
„Ich kenne dich“, sagt David. „Du warst oft hier.“
„Bist du ganz alleine? Was hast du gegessen?“, frage ich.
„Ich bin alleine. Ich esse Teig.“
Jetzt ist mir klar, warum seine Kleidung voll mit verkrusteten Flecken ist. Der Teig war scheinbar seine einzige Nahrung.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit David hier verbracht hat. Sein Anblick allein ist schrecklich.

Dann fliegen von draußen Steine gegen das Schaufenster. Eine wütende Bande strömt hinein, umzüngelt mich und David und legen ihre Hände wie lebendige Zangen auf meine Schultern.
Diese Gestalten haben dunkle, schmutzige Uniformen an und tragen ein Stück einer fremden Welt in sich.
Die „Uniformen“ führen mich unsanft ab. David folgt mir wie ein Entchen seiner Mutter.
Ich erschauere, als mir bewusst wird, dass David nun ein Teil von mir ist.
Es ist meine Schuld, dass dieses Kind, Gott weiß, eine Waise ist. Und ausgerechnet mich, den Sünder Lull, wählt es zu seinem Beschützer.
Die Uniformen schleppen mich durch die Straße. Es geht Richtung Bahnhof.
Schon von Weitem sehe ich den Güterzug, der mich und David in seine Leere aufnehmen wird. Aber es sind keine Züge wie die, in denen ich bisher gefahren bin, mit weichen Sitzen, breiten Gängen und sauberen Fensterscheiben.

Ich habe auf einmal das Gefühl, als wäre meine Familie bei mir, wie damals, als sie mich am Bahnhof verabschiedet haben. Die Mutter, die nach Veilchen duftete, und ihr Taschentuch – nach Baldrian. Wer konnte damals ahnen, wie diese Fahrt nach München mich noch verändern würde? Ich, der ich früher gewesen war, war als junger Mensch in der ersten Klasse weggefahren, so weit weg, dass keine Kraft dieser Welt es möglich macht, mich zu meinem Ursprung zurück zu bringen. Ich werde nie wieder so, wie ich mal war. Statt zu studieren, verbrachte ich die Zeit mit meiner Schwefelbande. Wir spionierten Menschen nach. Und dafür, dass wir ihre Geheimnisse offenlegten, erhielten wir Geld.
Ich dachte mir nichts dabei, ich war so frei und mächtig! Der Wind spielte mit meinen Locken, Mädchen schauten mich erstaunt an mit ihren blauen, brauen und grünen Augen. Ich ging an ihnen vorbei.
An allem in dieser Welt ging ich vorbei.

Am Bahnhof steht ein neuer Güterzug mit weit geöffneten Schiebetüren. Zum Geruch des noch atmenden Holzes mischt sich kalter und stickiger Atem des Todes.
Außer mir sind es viele verängstigte Menschen mit einem zackigen Abzeichen an der Brust, die von Bewaffneten in den Zug geschubst werden. Sie füllen Waggon um Waggon.
Wieder werde ich eingesperrt.
Für einen kurzen Augenblick denke ich an die Zeit als Zugvogel zurück und mir fällt der freche Lokvogel mit seinem leichtsinnigen Versprechen ein. Er war gut zu mir. Vielleicht könnte er uns aus dem Zug retten?
Bevor wir in den Waggon gehen, greife ich nach Davids Hand und lächele ihn an. Wir gehen mutig hinein.
Es ist schwül. Kein Licht.
„Ich bin bei dir, David. Wir fahren zusammen weg von diesem schrecklichen Ort“, sage ich so überzeugend, dass ich mir selbst glaube. „Weißt du, vielleicht werden wir unterwegs zu Vögeln. Ja, wir werden Zugvögel und keiner kann uns aufhalten.“
Ich spüre, wie sich etwas in Bewegung setzt. Der Zug ruckt an, und ich stelle mir vor, wie die Türen nach und nach zusammen geschoben und fest verschlossen werden. Waggon für Waggon schleicht sich die Dunkelheit in den Zug hinein.
Wir werden respektlos verabschiedet: Jeder auf dem Bahnhofsplatz weiß oder ahnt zumindest, wie schnell sich die Insassen dem letzten Ziel nähern. Und vielleicht zwinkern sie einander zu: „Die sind wir schon so gut wie los!“
Es wird allmählich dunkler, schon leuchtet der erste Stern am Himmel. Die großen gelben Sternenmale auf der abgetragenen Kleidung meiner Mitreisenden scheinen zu meinem neuen Himmel zu werden. Der Herr hat sie ausgewählt und markiert. Sie werden uns unseren Weg zeigen.
Von Draußen ertönen Rufe. Dann wird auch unsere Tür zugeschoben und ich sehe keinen Sternenhimmel mehr um mich herum.
Die letzten dumpfen Schläge erlebe ich in vollständiger Dunkelheit. Ich drücke David fest an mich. Wir sind abgeschnitten vom Licht. Und sogar des Himmels unglückliche Boten mit dem Sternenmal verlieren an Leuchtkraft.

Für David ist das alles doch noch ein Abenteuer.
„Lull, wann fliegen wir endlich mit dem Lokvogel?“
David klammert sich an mich und ist vermutlich der einzig Glückliche hier, der an einen rettenden Lokvogel glaubt.
Ich ahne, dass der Zug an eine Dampflokomotive angekoppelt wird. Es zischt auf einmal ganz dünn. Die Bremsen werden kontrolliert. Mein Herz zerspringt vor Schreck wie ein Spiegel und mein Gesicht verzerrt sich vor Schmerz. Gott sei Dank, David sieht mich nicht. Die Dunkelheit beschert ihm weitere Minuten - bis auch er erkennt, dass er in einer falschen Zeit in einen falschen Zug eingestiegen ist.
Wie lange wird die Zeit uns quälen, bis es David und mich nicht mehr gibt?
Der Ruck der Zugmaschine ist wie ein Öffnen der Hölle. Der Zug läuft an, zuerst zaghaft, dann immer schneller.
Mein Geruchsinn ist taub, das Gedächtnis lahm und der Blick schweigt in vollständiger Dunkelheit. Drache Tod wird uns bald verschlingen. Seinen unendlichen Schatten wirft er bereits voraus.
Meine auserwählten Begleiter sind jetzt nur noch Halbschatten. Sie schließen die Augen und schwanken sanft. Fliege ich mit ihnen?

Ich gerate in einen Strudel und sehe plötzlich meine Mutter ... Blass, fast durchsichtig, schaukelt sie im Rachen des Waggons und hält sich aus letzter Kraft an einem Holzbalken. Sie schweigt, doch ihre Augen schreien.
Ich vernehme ihren Schmerz, verstehe ihre Ohnmacht und die Hoffnungslosigkeit.
Hinter ihrem Rücken tauchen meine Großeltern auf.
Die Mutter macht einen Schritt auf mich zu und löst sich in einer sachten Berührung in mir auf.
Ich krümme mich. Etwas Schweres legt sich um mein Herz und hemmt das Atmen.
Der Zug fährt langsamer. Sind wir angekommen?
Ich fasse Davids Hand.

Mitten in dem Vorhof zur Hölle knallt plötzlich Musik.
Die ehrgeizigen Waldhörner, die bedächtige Trommel, traurig und schnaufend, dazu die jugendhaften Flöten, besinnliche Tuben und Trompeten, die sich gegenseitig zu übertönen versuchen.
Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich jemals Musik so gehasst habe wir jetzt.
Das ist mein Abschiedsmarsch, sage ich mir.
Das ist ein Signal. Ein SOS. Wann kommt endlich die Rettung für den kleinen David und die himmlischen Boten mit ihren Sternenmalen?!

Zwischen den groben Tönen erreicht etwas Herrliches mein Ohr.
Nein, nein, nein, ich bilde es mir ein! Es ist unmöglich, ein Piepsen heraushören.
Aber ich irre mich nicht.
Auch David wird unruhig. Ich merke, wie er sich zur Seite und nach oben zieht.
„Lull, heb mich hoch. Ich will den Vogel hören!“
Die Stille. Dann gleite ich runter, ertaste Davids Hüfte, ziehe ihn zwischen den Körpern heraus und hebe ihn vorsichtig auf meine Schulter.
Jetzt hören es alle: Vogelgezwitscher!
Die Sternträger fragen einander erstaunt:
„Hörst du es auch? Das ist ein Wunder! Kann es sein, dass in der Hölle nicht alle Lichter ausgehen?“
„Lull, er ist gekommen, um dich zu holen“, ertönt es im Stimmengewirr und ich bin mir nicht sicher, ob ich richtig höre. Vielleicht heißt es: „Lull, ich bin gekommen, um dich zu holen.“
Ich stutze, bin überrascht.

„Frecher Lokvogel, bist du das?“
„Ja. Da habe ich meinen komischen Zugvogel also doch erwischt!“
Ein Hoffnungskeim schießt hoch zu einer rettenden Blüte.
„Das ist zu schön! Ich träume!“
„Hey, du glaubst mir immer noch nicht. Ich habe dich soeben mit meiner Lok auf die Reise mitgenommen. Ihr alle seid jetzt meine Gäste.“

Ich kann keinen Gedanken fassen. In meinen Ohren klingt es wie ein Herzschlag:
„Meine Rettung. Meine Rettung. Unsre Rettung …“
„ … Schade, dass du meine Lok da vorne nicht sehen kannst! ...“
Ich spüre, wie mir Flügel aus den Schultern wachsen.
„ … Merkst du denn nicht, wie schnell wir auf einmal fahren? ...“
Ich höre einen Knall, gleißendes Licht strömt ins Innere.
Ich sehe, wie der Waggon innerhalb von Sekunden schmilzt. Seine ehemals stabilen Wände werden transparent, als ob die Zeit sie weggeleckt hätte.

Ich, Lull, stehe noch da, mit David auf den Schultern. Um uns herum von Freude erfüllte Himmelswürdenträger.
Seit Jahrzehnten befinden wir uns hier. Als unsere Füße die Erde berührten, erstarrten wir zu einem Mahnmal für all diejenigen, die auf dem Weg zur Hölle waren, aus ihr gerettet wurden und Menschen geblieben sind.
Der Lokvogel hat uns seitdem jeden Tag besucht. Aber wir konnten nicht mit ihm sprechen. Wir schauten ihn dankbar an und schwiegen.
Andere Vögel kommen jetzt zu uns. Auch Menschen. Viele Menschen. Sie bringen uns Blumen.
Woher sie unsere Geschichte kennen, weiß ich nicht.
Am Bahnhof einer kleinen Stadt stehen wir und mahnen alle: Seid frei wie die Vögel und bleibt dennoch Menschen füreinander!

 

Hallo Jana,

Uff!
Hab´s 2x gelesen. Erst langsam, bedächtig. Satz für Satz. Was sagt jeder Satz für sich aus.
Du hattest ja gewarnt: Alles passiert unerwartet.
Dann las ich noch einmal - schnell, fliegend, um den Sinn zu erfassen - den ich dann tatsächlich fand.
Positiv: für meine Verhältnisse wenig Schreibfehler - das hat mich beruhigt; wenn auch zu oft als ob vorkam - das würde ich lässiger umschreiben, das Talent dazu hast Du!
Positiv: Ein wirres Traumgemenge eines völlig normalen Jugendlichen, der glaubt, verrückt zu sein. Dieses Schuldbedürfnis und kleiner Bruder und Angst und Fliegen und Ausgestoßen sein gepaart mit Heldenepos und eines Tages zeig ich es Euch allen - herrlich - köstlich. Hat mir gut gefallen.
Negativ: Wen willst Du hinter´m Ofen vor locken? Und denkst Du, es reicht, einfach absichtlich alles völlig unerwartet aneinander zu pappen? So, ich mach jetzt mal alles konfus und wirr, mal schauen, was jemand dazu sagt? Ich bin selbst ein Wirrkopf, also hat´s mir gefallen, aber es gibt hier literarisch sehr gebildete Autoren, die können dir ein anderes Lied singen - es ist Dein Anliegen, uns etwas zu erzählen. Vielleicht das nächste Mal ein bisschen mehr in der Spur, ein bisschen mehr Zusammenhang, selbst auf die Gefahr, dass der Lull Federn lassen muss.
Willkommen hier und auf zu neuen Ufern.
Grüße - Detlev

 

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