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Lyandras Tränen
Behutsam glitt Elander zwischen den Seerosenblüten hindurch, deren leuchtendes Gelb sich grell von dem trüb-braunen Gewässer abhob. Rundliche Blätter schmiegten sich flach an die Wasseroberfläche und wippten verspielt auf den Wellen, die Elander erzeugte. Tropfen, die zuvor durchsichtig an dem glänzenden Blattgrün hafteten, verwandelte die aufgehende Sonne in schimmernde Perlen. Sorgsam kippte der Junge die Blätter und ließ die spärliche Ausbeute in ein gläsernes Gefäß rinnen. Prüfend schwenkte der Knabe den Inhalt des Glases und beschloss sodann, zurück zum Ufer zu schwimmen.
Jeden Morgen marschierte Elander zum See, entledigte sich dort seiner Kleider und stürzte sich ins kalte Nass. Die Knaben im Dorf spöttelten über sein tägliches Ritual und verhöhnten ihn. Sie verstanden nicht, warum er das kühle Bad bei jeder Witterung auf sich nahm, doch er verzieh ihnen, denn sie hatten nie erfahren, was es bedeutete, ohne Vater aufzuwachsen. Ihre Mütter waren allesamt glückliche Frauen mit gesundem Wangenrot und herzlichem Lachen, die abends, wenn ihre Männer von der Arbeit zurückkehrten, üppiges Essen zubereitet hatten, dessen appetitanregender Geruch aus ihren komfortablen Hütten strömte und Elander das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Während nachts das zufriedene, leise Schnarchen eines traumlosen Schlafes aus ihren Stuben tönte, lag Elander oft wach und lauschte dem leisen Weinen, das aus dem Nebenzimmer drang.
Elander drückte die Tür ihres bescheidenen Häuschens auf und sah Lyandra betrübt am Fenster stehen. Blass wirkte sie. Die eingefallenen Wangen seiner Mutter schienen sich jedoch ein wenig zu röten, und ihre Mundwinkel hoben sich zu einem kaum erkennbaren Lächeln, als er ihr das Glas überreichte. Dankbar nahm sie das Gefäß entgegen und drückte es an sich, als handele es sich um eine seltene Kostbarkeit.
***
Nachts, wenn sich die blasse Sichel des Mondes im Wasser spiegelte, schwebten die Elfen über dem See. Ihr leiser Gesang erinnerte an die melancholischen Klänge einer Violine. Nur selten beobachteten Menschen das nächtliche Schauspiel, denn die Schönheit der See-Elfen schien so überwältigend, dass kaum jemand die zartgliedrigen Wesen längere Zeit betrachten konnte, ohne in tiefe Selbstzweifel zu verfallen. Schmalhüftige, langbeinige Kreaturen mit durchscheinenden Flügeln, deren surrendes Flattern sie über den Wassern trug. Das Mondlicht beleuchtete fahl die seidige Haarpracht, die sich bis zu den schlanken Taillen lockte. Trotz ihrer scheinbaren Perfektion wirkten sie aber nicht glücklich. Ihre schräg stehenden Augen glänzten kaum, sondern schienen eine innere Leere widerzuspiegeln, seit das Schicksal ihnen einen schrecklichen Schlag versetzt hatte. Singend versuchten sie, ihrer Pein Ausdruck zu verleihen und Trost in klagenden Liedern zu finden. Niemals, so schien es, würde ihre Trauer über den allzu frühen Tod ihrer Königin enden. Seit langer Zeit erhob sich jede Nacht der König samt seinen Untertanen aus den Tiefen des Sees. Die Elfen wiegten ihre Körper sanft zu dem angestimmten Requiem und vergossen Tränen, die sich mit dem schlammigen Wasser vermengten. Manche aber tropften auf ein Seerosenblatt und sammelten sich in dessen Mitte, wo die Blattadern zusammenliefen, als wollten sie sich dort festhalten.
***
Lyandras Mann Simeon war bereits vor vielen Jahren gestorben. Die Geburt des kleinen Elander lag noch nicht lange zurück. Als die junge Frau vom Tode ihres Gatten erfuhr, schaukelte sie gerade den Sohn in ihrem Arm und freute sich auf das Leben mit dem neuen Familienmitglied. Seit jeher hatte Simeon als Holzfäller gearbeitet und zu Beginn ihrer Liebe versichert, dass er sich dabei niemals in Gefahr begäbe. Arglos ließ Lyandra ihn jeden Morgen in den Wald ziehen und verbrachte den Tag mit ihrem Kind. Sie führte ein zufriedenes Leben, wenngleich die Liebe zu ihrem Mann unmerklich zu verblassen schien. Doch Lyandra nahm an, dass dies allen Liebenden im Laufe der Zeit widerfuhr.
Simeon war ein braver Ehemann. Er sorgte fleißig für den Unterhalt der Familie, vergötterte seinen Sohn und behandelte seine Frau freundlich. Niemals hatte Lyandra ihn zornig erlebt. Nicht vielen Frauen war solch ein Glück beschieden, schalt sie sich selbst, wenn sie in langen Nächten wach neben ihrem im Schlaf grunzenden Gemahl lag und daran dachte, wie es sein mochte, läge ein anderer neben ihr. Jemand, den interessierte, was sie fühlte und wie sie den Tag verbrachte. Jemand, dem sie vollkommene Hingabe zu entlocken vermochte und der ihr zeigte, dass sie etwas Besonderes für ihn darstellte.
In dem Moment, als Lyandra die Nachricht von dem tödlichen Unglück erhielt, war sie fest davon überzeugt, dass sie nun wegen all dieser Gedanken bestraft wurde. Für ihre Undankbarkeit hatte sie büßen müssen.
Während Elander heranwuchs, zog sich Lyandra immer mehr zurück, saß stundenlang am Fenster und grübelte. Auch ihr Sohn konnte sie nicht trösten, obwohl er sich redlich bemühte und ihr im Hause half, wo immer es ihm möglich schien. Trotz dieses braven Kindes wollte sich ihre traurige Stimmung nicht legen. Nachdem die offizielle Trauerzeit vergangen war, entschloss sie sich, einen neuen Mann zu suchen. Doch schon bald stellte sie fest, dass solche, die ihren Vorstellungen entsprächen, bereits ein Weib an ihrer Seite hatten. Andere schienen so jung, dass sie kaum Interesse an ihr zeigten. Dass ihre Haut bereits welkte und graue Fäden die Haare durchzogen, bereitete ihr Kummer. Wer wollte schon eine alternde Witwe ehelichen?
Als Lyandra von den Tränen der See-Elfen erfuhr, erkannte sie die Gelegenheit, ihr Leben zu ändern. Sie konnte nicht schwimmen. Ihrem Sohn Elander bereitete es dagegen Vergnügen, den See zu durchqueren, unter Wasser zu schwimmen, prustend wieder aufzutauchen und zu plantschen, bis die Haut an Fingern und Zehen schrumpelte. Einige Tränen genügten, um ein kleines Stück von der Schönheit der Elfen zu erlangen, verriet ihr der hiesige Magier, den sie um Hilfe gebeten hatte.
Das erste Mal, als Elander das kostbare Gut in einem kleinen Glas nach Hause gebracht hatte, überfielen sie Zweifel. Sollte es tatsächlich so einfach sein? Sie wartete, bis ihr Sohn schlief, benetzte sodann einen Finger mit der farblosen Flüssigkeit und verteilte sie im Gesicht. Als wehe eine frische Brise in ihr Antlitz, spürte Lyandra, wie frisches Blut durch ihre Adern pulsierte und ihre Haut sich merklich straffte.
Elander bemerkte, wie seine Mutter durch die Behandlung mit diesem Mittel förmlich auflebte, obwohl er selbst keine erhebliche Veränderung in ihrem Gesicht erkennen konnte. Um ihr Freude zu bereiten, brachte er ihr dennoch jeden Tag neue Tränen. Doch nie trug Lyandra das Sekret in seinem Beisein auf. Elander vermutete, dass dies nur geschah, wenn er schlief.
Eines Nachts erwachte Elander durch ein Rumoren vor seinem Zimmer. Er schrak auf und horchte angespannt auf die Laute, die durch die geschlossene Tür drangen. Das Knarzen der sich öffnenden Haustür und der dumpfe Schlag, als sie wieder ins Schloss gedrückt wurde, ließ ihn für einen Augenblick erstarren. „Mutter?“, rief er, doch die Antwort blieb aus. Statt dessen vernahm er ein schlurfendes Geräusch, das sich vom Haus entfernte. Als könne ihn jemand dabei ertappen, schlich Elander gebückt zum Fenster und drückte sich langsam hoch, um vorsichtig hinauszuspähen. Die Dunkelheit der mondlosen Nacht ließ nicht viel mehr als Umrisse erkennen. Schwärzer als das Firmament zeichneten sich die Silhouetten zweier mächtiger Tannen ab. Zu ihren Füßen lag ein zusammengekauertes Bündel. An dem blassen Gesicht, das der dunkel gekleideten Gestalt etwas Geisterhaftes verlieh, erkannte Elander, dass es sich um einen Menschen handeln musste.
Als Elander ins Zimmer seiner Mutter stürmte, um von der Entdeckung zu berichten, fand er es leer vor. Alle Vorsicht vergessend, lief er aus dem Haus, geradewegs auf die Tannen zu. Seine Mutter krümmte sich, als litte sie schreckliche Schmerzen. Schließlich brachte sie ein einziges Wort über die Lippen. „Wasser!“, stöhnte sie. Der Brunnen stand nur wenige Schritte entfernt, so dass Elander eilte, um einen Eimer zu füllen. Zunächst benetzte er die fiebrige Stirn seiner Mutter und ihre aufgesprungenen Lippen, doch Lyandras Zustand besserte sich dadurch nur wenig. Immer noch verlangte sie nach Wasser, bis Elander schließlich den Kübel packte und dessen Inhalt über ihren Kopf goss. „Noch einen!“, befahl sie mit ein wenig festerer Stimme. Erstaunt holte Elander Nachschub. Das Spiel wiederholte sich einige Male, bis Lyandra aufstehen und in die Hütte zurückkehren konnte.
Am nächsten Morgen schlief sie lange. Elander betrachtete sie und befand, ihre Haut sei in der letzten Zeit heller geworden, doch lag eine ungewöhnliche Schönheit in dieser Blässe. Das Fieber war abgeklungen, doch er sorgte sich sehr, so dass er beschloss, den Dorfmagier aufzusuchen und ihn um Rat zu bitten. Der rümpfte die Nase und verkündete unwirsch: „Ich hätte wissen müssen, dass es so ausgeht.“ „Was meinst du damit?“, fragte Elander verwirrt. „Sie hat davon getrunken“, antwortete der Magier grimmig. „Die Tränen der See-Elfen. Sie hat die Tränen getrunken, anstatt nur ihre Haut damit zu benetzen.“ Er schien verärgert. „Ich habe sie wiederholt davor gewarnt und ihr eingeschärft, sie möge die Tränenflüssigkeit nicht zu sich nehmen. Denn auf diese Weise verändert sich nicht nur das Äußere, sondern auch im Inneren vollzieht sich ein Wandel. Man fühlt sich wie eine von ihnen, mit allen Konsequenzen.“ Mehr wollte der Magier nicht verraten, doch bevor Elander ging, musste er ihm versprechen, seine Mutter zu ermahnen, nicht wieder von diesem Elixier zu trinken.
Es vergingen mehrere Tage, bis Elander erneut ein Geräusch in der Dunkelheit vernahm. Der Wind ließ die Tür immer wieder schlagen, so dass der Knabe aufstand, um nach dem Rechten zu sehen. Wieder fand er das Schlafzimmer Lyandras verlassen vor. Die Haustür stand offfen, als sei die Mutter so in Eile gewesen, dass keine Zeit mehr geblieben war, um sie zu schließen. Der Garten lag ruhig, nur der Wind fegte in heftigen Stößen darüber, ließ das Laub der Sträucher knistern und die Äste der Tannen rauschen. Ohne sich weiter umzusehen, rannte Elander, so schnell er konnte zum See. Am Ufer blieb er abrupt stehen. Dichte Wolken verdeckten die Sicht auf Mond und Sterne, so dass das Gewässer schwarz und freudlos wirkte. Laut rief Elander nach seiner Mutter und sah sich bereits versucht, in die Fluten zu stürzen, um nach Lyandra zu tauchen, als sich plötzlich die Wasseroberfläche kräuselte. Helle Lichtpunkte funkelten aus den Tiefen des Sees hervor, als hätten sich die Sterne entschlossen, künftig nicht mehr vom Firmament herab zu scheinen, sondern vom Grunde des Sees aus zu strahlen. Doch die Punkte vergrößerten sich, nahmen Gestalt an und tauchten schließlich an die Oberfläche. Der Elfenreigen begann. Aber dieses Mal stimmten die Geschöpfe statt des traurigen Gesangs ein beschwingtes Lied an und umtanzten ihren König, der die Elfin an seiner Seite bei der Hand fasste und sich zu ihr neigte, um sie zu küssen. Die neue Königin strahlte vor Glück und blickte ihrem König tief in die Augen. Dann wandte sie sich zu ihren neuen Gefährten um und stimmte in deren fröhliche Musik ein. Ein neues Leben. Als Lyandra den Ruf vernahm, stockte ihr der Atem. Sie vergaß die frohen Gesichter um sich herum, vergaß den schmucken König und starrte nur noch ihren Sohn an, der, am Ufer stehend, die Hände rang und vergeblich nach seiner Mutter rief. Sie konnte nicht zu ihm kommen, ohne ihm zu schaden. Gerne hätte Lyandra ihm wenigstens zugerufen, doch ihrem Sohn war die Elfensprache zu fremd, als dass er etwas von ihren Worten verstanden hätte. Langersehntes hatte sie gewonnen, vieles jedoch im Gegenzug verloren. Der Verlust rührte sie zu Tränen.
Elander kehrte zum Haus zurück.
Am Morgen durchschwamm er den See, als sei nichts geschehen, sammelte ihre Tränen ein und ließ sie in sein Glas rinnen. Daheim legte sich Elander in sein Bett und stellte das Gefäß auf den Nachttisch. Nachdenklich betrachtete er die klare Flüssigkeit, während er darauf wartete, dass die Nacht heraufzog.