- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 25
Manuel
Immer schneller dreht sich der Spielplatz vor meinen Augen, Schaukeln, Wippe, die schlanken Birken, alles fliegt vorbei... Das Blut pulsiert mir in den Schläfen und ungeahnte Kräfte drücken mich gegen den kleinen Holzsitz, zu klein für mich, eigentlich.
An meine Ohren dringt das schrille Kinderlachen, fast schon ein Kreischen, und mit einem ungeschickten Satz ist Manuel zu mir in das Karussell gesprungen, das er zuvor mit aller Kraft angeschoben hat. Er verzerrt das Gesicht zu einer wilden Grimasse, Tränen laufen über seine roten Wangen.
Ich weiß, jetzt ist er glücklich, als ich ihn ansehe, die magere Gestalt, die dicken Brillengläser, hinter denen seine dunklen Augen blitzen.
Jeden Donnerstag kommen wir hierher, zu diesem kleinen, abgelegenen Spielplatz, den wir fast immer ganz für uns haben.
Mit den anderen Kindern gehe ich oft auch zu dem nahen Tümpel, wir besuchen die Enten, oder gehen ins Dorf, ein Eis essen.
Aber Manuel liebt diesen Spielplatz, dieses alte Karussell. Er sieht mir jeden Donnerstag mit ängstlichem Blick in die Augen, fragend, bittend, und ich weiß, wohin er will.
Also fahren wir Karussell, Manuel und ich, immer und immer wieder, den ganzen Donnerstag Nachmittag, jeden Donnerstag Nachmittag.
Und immer wiederholt sich unser Spiel. „Dala, Dala, du musst dich draufsetzen! Und ich schieb dich an, ganz schnell!“
Nach Minuten dann, wenn die rostigen Sitze so schnell im Kreis herumfahren, dass ich mich fast übergeben muss, springt er auch auf, zitternd vor Freude über die Geschwindigkeit, mit rotem Gesicht und laut lachend.
Abweichungen von diesem Ritual gibt es nicht. Dieser freie Nachmittag soll ihm gehören, die Einzelbetreuung an der Tagesstätte ist sowieso viel zu gering, oft zu dichtgedrängt das Programm, die verschiedenen Förderstunden.
Manuel rückt näher an mich heran. Ein kleiner, dünner Junge von nicht ganz elf Jahren, das Haar unordentlich und strähnig, Flecken von Heimessen auf seinem schmuddligen Hemd. Er sieht mich an. Auch das gehört zum Ritual. Ich warte, sehe ihm in die Augen, während er, Zentimeter für Zentimeter, dichter heranrutscht.
Und ich warte.
Er blickt mich an, schüchtern legt er einen raue Kinderhand auf die meine.
„Soll ich dir nun eine Geschichte erzählen, Manuel?“ frage ich, während sich das Karussell langsam wieder beruhigt.
Er blickt mich an. Wunderbare, dunkle Augen, unergründlich hinter den dicken, schmierigen Gläsern.
„Nein.“, sagt er bestimmt.
Nein?
„Ich muss dir was erzählen, nämlich.“
Eine Geschichte von Manuel, denke ich lächelnd und blicke ihn an. Warte darauf, dass er von den Dinosauriern erzählt, von der alten Erde, davon, dass es da noch keine Menschen gab. Er wird von Tyrannosaurus erzählen, von den Herden kleinerer Saurier und von den Echsen. Er weiß Bescheid.
„Dala“, fängt er an, und schnieft. „Dala... ich muss dir was erzählen.“ Verwundert schaue ich in sein Gesicht. Seine Freude ist verschwunden. Dinosaurier?
„Dala... gestern hat mein Papa mir nämlich was gezeigt. Das war schon ganz spät am Abend, richtig spät...die Mama war schon arbeiten gegangen...“
Manuel stockt. Dunkelheit breitet sich aus. Ich sitze neben ihm, halte immer noch seine kalte Hand.
„Was denn, Manuel?“ kann ich schließlich herausbekommen, meine Stimme klingt viel zu rau.
„Mein Papa hat mir im Fernsehen was gezeigt... aber das war komisch, du, Dala... da waren lauter Frauen mit gar nichts an, und ein Mann war auch da...“
Mein Magen verkrampft sich.
„... und dann hat mein Papa noch so ganz komische Sachen gemacht, Dala... “
Die Welt dreht sich wieder, mir ist übel. Die Gedanken rasen. Neben mir sitzt Manuel, zusammengekauert, stumm, die zerzausten Haare fallen über seine Brillengläser.
Er blickt mich nicht mehr an.