Maries Spieluhr
Marie lebte in der selben Stadt wie er. Sie war ein recht hübsches, ordentliches, vornehmes Mädchen aus gutem Hause. Er hatte sich sofort in sie verliebt. In ihre smaragdgrünen Augen, das süße Lächeln, die wunderschönen, langen, nussbraunen Haare und die feinen Sommersprossen in ihrem Gesicht. Ihren Namen hatte er sogar in einen großen Baum reingeritzt.
Er wusste, dass sie ihn nie ansehen würde, niemals mit ihm sprechen würde, wenn sie ihm auf der Straße begegnete. Schließlich lebte sie in einem der besten Viertel dieser Stadt und verkehrte nur mit gesitteten, kultivierten Kindern. Und er? Und er lebte dort, wo Familien mit einer geringeren Einkunft eben wohnten.
Er wusste nicht einmal, welche Werke von Goethe stammten. Sie schon. Sie ging ja auf eine Privatschule. Dort lernte man so was. Dorthin ging auch Benni. Mit Benni unterhielt sich Marie oft. Weil Benni in ihrer Nachbarschaft wohnte und ebenso gebildet war. Aber ihn bemerkte sie gar nicht. Wahrscheinlich kannte sie nicht einmal seinen Namen. Wer war er schon? Nur der schlimme Bube namens Pete, der oft Unfug anstellte, von dem man nichts Gutes hörte.
Manchmal stand er an ihrem Zaun. Wenn ihn niemand sah, und hörte ihr heimlich beim Klavierspielen zu. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um über das dichte Gebüsch hinweg sehen zu können. Um Marie dabei zu beobachten, wie sie spielte. Sie saß gerade und konzentrierte sich. Ihr großes Fenster stand immer offen. Er liebte es, wenn sie spielte.
Heute aber spielte sie nicht. Heute hatte sie Besuch. Von Benni. Er sah die beiden in Maries Zimmer. Benni hatte ihr eine Spieluhr geschenkt. Von der Melodie begeistert küsste Marie den Jungen auf die Backe. Dann verließen die beiden das Zimmer.
Er mochte Benni nicht. Und er hasste diese Spieluhr.
Er kletterte über den Zaun, riss sich dabei die Hose auf, kämpfte sich durch das Gebüsch vor bis zu ihrem Fenster und stieg hinein. Dann schnappte er die verhasste Spieluhr, warf sie auf den Boden und zertrat sie mit den Füßen. Trat so lange auf sie, bis das Gehäuse zerfiel und die Musik, die zuvor noch gespielt hatte, endgültig erstarb.
In diesem Moment betraten Marie und Benni das Zimmer. Entsetzt schrie Marie: „Pete!“
Sie kannte seinen Namen!
Aber das spielte keine Rolle mehr.
Schnell sprang er aus dem Fenster, kletterte wieder über den Zaun und lief davon. Marie bückte sich über die kaputten Teile und begann zu weinen. Benni stand neben ihr und schwieg.
Seit diesem Tag an hörte er Marie nicht mehr beim Klavierspielen zu, und den Namen Marie, den er einst für den schönsten aller Namen hielt, versuchte er vom Baum weg zu kratzen.