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Marokkos Töchter

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11.08.2003
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Marokkos Töchter

Paul hatte nie viel über seine erste Reise nach Agadir nachgedacht. Nicht dass er sie verdrängte, nein, er hatte einfach weitergelebt ohne ihr irgendeine Bedeutung beizumessen. Dies änderte sich schlagartig als er Jahre später wieder im Flieger sass um erstmals seit jener Zeit nach Agadir zurückzukehren. Plötzlich waren diese fast schon vergessenen Erinnerungen an die Geschehnisse von damals wieder da, vor allem die Erinnerungen an Sie, an Rachida. Obwohl er nicht mehr genau wusste wie sie damals ausgesehen hatte, konnte er sich noch gut an ihre grossen dunklen Augen, das lange schwarze Haar und die sonnengebräunte Haut erinnern. Lange war es her, und zum ersten Mal fragte er sich was aus ihr geworden war.

Als der Flieger dieses Mal zur Landung ansetzte weinte der Himmel und Paul erlebte einen der seltenen Tage wo in Marokko die Sonne nicht scheint. Obwohl Paul damals nur wenige Tage in Agadir verbracht hatte, kam im die Stadt jetzt seltsam vertraut vor. Als das kleine rote Taxi sich durch den regen Stadtverkehr quälte wurde Paul bewusst dass ihn diese Stadt nie losgelassen hatte, ihn immer noch festhielt, so als habe diese Stadt noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen.

Rachida war ihm damals das erste Mal begegnet als er am Meer entlang spazierte, hatte gelächelt und ihn in gebrochenem Englisch angesprochen. Paul hatte sie nur flüchtig angeschaut und war wortlos an ihr vorbeigelaufen. Zu Hause hatte man ihn gewarnt, vor den Einheimischen und vor ihrer Art den Touristen alles Mögliche aufzuschwatzen.

Das Taxi hatte die Stadtmitte erreicht und ihm fiel auf, dass an jeder Strassenecke gleich mehrere Polizisten standen. In den Strassen gingen Soldaten Streife. Der Taxifahrer erklärte ihm man habe nach dem Anschlag von Casablanca die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt. Der Tourist ist heute Agadirs grösste Einnahmequelle und diese Quelle gilt es mit allen Mitteln zu beschützen. Agadir hat sich in jeder Hinsicht dem Tourismus verkauft und ist nur noch darauf bedart ein beliebtes Reiseziel zu sein.

Paul schlenderte gedankenverloren durch die „Qued Souss“, einer Strasse unten am Meer. Hier war ihm Rachida zum zweiten Mal über den Weg gelaufen, lächelnd wie immer. Dieses Mal war er stehen geblieben als sie ihn ansprach und hatte sich ein wenig mit ihr unterhalten. Sie war einfach aber hübsch gekleidet und hätte auch eine Touristin oder eine Studentin sein können.

Paul war sich bewusst, dass nicht alles was Rachida ihm über sich erzählt hatte stimmen konnte, er war sich aber sicher, dass sie aus dem Hinterland kam, wahrscheinlich aus den Bergen. Und so schloss sich Paul spontan einer Reisegruppe an, die ins Hinterland wollte, um einen kleinen Einblick in das wahre Marokko zu bekommen.
Etwas ausserhalb von Agadir kamen sie an den Villen der reichen Geschäftsleute aus Agadir vorbei, einer Ansammlung von Prunkbauten, wahren Palästen, die mit dem Geld der Touristen finanziert wurden. Der Reiseleiter erzählte, dass es in Marokko keine Mittelschicht gibt, entweder man ist reich oder man ist arm. Die Schule sei aber kostenlos und jedem zugängig, jedoch seien die armen Familien auf die Arbeitskraft ihrer Kinder angewiesen um zu überleben und so führe der Weg dieser Kinder meistens nicht auf die Schulbank sondern in die Welt der Kinderarbeit. Welche Möglichkeiten dann noch bleiben um auf die Sonnenseite des Lebens zu gelangen ist fraglich.
Der Bus hielt an um eine kleine Pause einzulegen und Paul stieg aus. Die Sonne brannte hier gnadenlos und hinterliess vertrocknetes Land, so weit das Auge reicht. Am Horizont tauchten die Berge auf und die Gegend wurde zeitlos. Die Fahrt ging weiter, vorbei an Bergziegen und einem regungslosen Hirten der sie stumm bewachte. Dann plötzlich machte Paul ganz oben ein Gebäude aus, nein keine Burg aus längst vergangenen Tagen, sondern ein Luxushotel der Neuzeit, das dem erholungsbedürftigen Touristen Idylle verkauft. Das Hotel verschärfte den Kontrast zwischen zwei Welten, die so gar nichts miteinander gemeinsam hatten und liess die Armut in dieser Gegend noch bitterer erscheinen.
Gegen Mittag dann erreichten sie Tafraout. Obwohl diese Bergstadt wenig Gemeinsamkeiten mit Agadir hat, wurde Paul auch hier das Gefühl nicht los, dass man ihm ein oberflächliches Bild von Marokko verkaufen wollte. Ein Bild das den Erwartungen des Touristen entsprach und nicht schockieren sollte. Der Reiseführer erzählte von früher, vom Teppichhandel und vom Frauenhandel, beides hat in diesem Land Tradition. Draussen zogen jetzt Felder vorbei auf denen verschleierte Frauen schufteten, genauso wie sie es wohl vor hundert Jahren gemacht haben. Was es wohl bedeutet in dieser Gegend als Tochter Marokkos geboren zu werden?
Am nächsten Tag dann Marakkesch, die drittgrösste Stadt Marokkos, die Stadt der kleinen zottigen Esel, die brav ihre Lasten herumtragen und kleine Karren ziehen. Auch bis hierhin ist der Massentourismus vorgedrungen, doch er hat es bislang nicht geschafft die Stadt entscheidend zu verändern. Der Marktplatz ist ein einziges Menschenmeer, und man trifft hier fast ausschliesslich auf Einheimischen. Jeder hat hier irgendetwas das er verkaufen oder tauschen will. Der Geruch der Gewürze, der allgegenwärtig ist, verleiht der Stadt etwas orientalisches. Hier spürt der Reisende, dass er in einer anderen Welt ist, hier pocht das Herz Marokkos. Spätestens jetzt begreift man, dass Agadir eine reine Illusion ist und nichts mit dem wahren Leben dieses Landes zu tun hat.
Auf dem Rückweg nach Agadir kamen sie nach Tizit, wo heute ein Frauenhaus steht. Der Reiseführer erzählte, dass hier junge Frauen eine zweite Chance bekommen doch noch etwas aus ihrem Leben zu machen. Warum diese Frauen eine zweite Chance brauchten, erzählte er nicht. Paul liess sich nicht blenden, er wusste, dass auch dies nur Fassade war und dass Marokko seinen Töchtern vieles schuldig blieb.

Der Beach Club war damals die Diskotek wo man hinmusste, den Beach Club gibt es auch heute noch, nur fristet er jetzt ein Schattendasein und ist nur noch eine Diskotek unter vielen. Der Türsteher nickte Paul freundlich zu und liess ihn ein. Die Innenausstattung war noch immer die gleiche und als Paul durch den Saal schlenderte, verschmolzen plötzlich Gegenwart und Vergangenheit, so dass Paul nicht mehr so recht wusste in welcher Zeit er sich befand. Wie im Film lief die Vergangenheit vor ihm ab, und er setzte sich auf die gleiche Couch, auf der er schon damals gesessen hatte. Während er an seinem Cocktail schlürfte, hatte sie plötzlich neben ihm gestanden, lächelnd wie immer, und hatte gefragt ob sie sich zu ihm setzen dürfe. Paul war es als könne er die Vergangenheit greifen, als bräuchte er nur den Arm auszustrecken um sie zu berühren, glaubte ihren Atem auf seiner Haut zu spüren. Er erzählte ihr von seiner Heimat und sie hörte ihm begeistert zu. Irgendwann spielte der DJ einen Blues und Paul hielt sie im Arm, bewegte sich mit ihr zum Rythmus der Musik. Da lächelte sie ihn wieder an und machte ihm dieses Angebot, das er nicht verstand. Paul hatte schon immer eine beängstigende Blauäugigkeit an den Tag gelegt und so fragte er was sie meinte, fragte ob sie mit ihm nach Europa wolle. Da lächelte sie plötzlich nicht mehr, sondern griff nach seiner Hand und schaute ihn ganz ernst an, so als wäre er ein Kind, das noch an das Gute glaubt, als wäre er ein Kind das noch nicht weiss was es heisst vom Leben verprügelt zu werden. Marokko verkauft seine Töchter stundenweise.

Paul war damals auch mitgegangen und hatte sich erkauft, was er sich eigentlich nie erkaufen wollte. Das kleine rote Taxi jagte durch die Nacht und Rachidas Nervosität machte Paul bewusst, dass dies eine Reise in die tiefste Illegalität wurde. Die Art von Dienstleistung die ihm Rachida angeboten hatte war in Marokko natürlich strengstens verboten. Fast ängstlich blickte sie zum Fenster hinaus und drückte dabei immer wieder seine Hand, so als wolle sie ihn beruhigen. Das Taxi verliess die beleuchteten Stadtteile und bog in eine finstere Nebenstrasse ein. Noch bevor der Wagen vollends zum Stehen gekommen war, war Rachida hinausgesprungen und verschwunden. Paul drückte dem Fahrer ein paar Münzen in die Hand und stieg ebenfalls aus. Das Taxi jagte davon und liess Paul in der Schwärze der Nacht zurück. In der Dunkelheit öffnete sich eine Tür und jemand winkte ihn herein.

Die jungen Marokanerinnen die heute in den Diskoteken ein und ausgehen, lassen keinen Zweifel darüber aufkommen womit sie ihr Geld verdienen. Die Zeiten der zaghaften Andeutungen sind längst vorbei und man spricht aus was man anbietet und zu welchen Bedingungen. Die Mädchen gehören heute zum Inventar der Diskoteken und haben kein Mitspracherecht mehr was ihre Kunden anbelangt. Ein Barkeeper vermittelt sie per Handzeichen. Es geht nur noch darum den Touristen zufriedenzustellen. Das Land hat sich dem Tourismus verkauft.

Paul wollte den Weg den sie eingeschlagen hatte nicht mit den Lebensbedingungen entschuldigen in die sie hineingeboren worden war. Er wollte auch nicht darüber urteilen ob dieser Weg der einzig Mögliche war der aus der Armut führte oder ob das Leben ihr andere Alternativen geboten hätte. Paul versuchte einfach nur sie zu verstehen und ihr den Respekt entgegenzubringen der auf dieser Welt jedem Menschen zusteht. Er konnte nur hoffen, dass sie es geschafft hatte und heute irgendwo ein würdevolleres Leben führte. Paul hatte aber auch in den letzten Jahren etwas von seiner Blauäaugigkeit verloren und so war er sich jetzt im Klaren darüber, dass es von da aus wo Rachida damals stand viele Wege in den Abgrund gab und wenn überhaupt, dann höchstens einen dornenreichen Weg hinaus aus dem Sumpf der Prostitution.

Auch für sich selbst suchte Paul keine Entschuldigung, sie hatte ihm das angeboten was ihm zu der Zeit am Meisten fehlte und Geld hatte er mehr als genug. Für Paul war es damals ein Tauschgeschäft wie jedes andere und wenn Ware und Geld den Besitzer wechseln pflegt der Marokkaner zu sagen „wir tauschen das Glück“. Doch Paul war entgangen, dass er hier einen Menschen zur Ware degradierte, zu seinem Spielzeug machte. Hatten sie wirklich das Glück getaucht? Paul wusste es nicht.

Als der Flieger dieses Mal Agadir verliess, hatte sich Paul ein klein wenig verändert. Er verabschiedete sich von einem Land das er immer noch nicht kannte und von Rachida, einem Mädchen das er irgendwann an einer Weggablung des Lebens getroffen hatte. Und irgendwie ahnte er, dass die Begegnung mit ihr sein Leben beeinflussen würde und dass er von nun an diese Welt, die auch ihre war, mit anderen Augen sehen würde. Der Flieger hatte Marokko hinter sich gelassen, aber diesmal hatte Paul die Erinnerung mitgenommen, die Erinnerung an Rachida, einen Menschen der als Tochter Marokkos geboren wurde.

 

Hallo Ernzberger,

ein schwieriges Thema behandelst du in deiner Geschichte und entführst deinen Leser in eine Welt der Ausbeutung und des Tourismus.
An einigen Stellen empfand ich deine Geschichte zu sehr als Bericht, so dass ich nicht mit auf die Reise gehen konnte. Wobei die Landschaftsbeschreibungen mir gut gefallen haben.
Andere Sachen blieben für mich unklar: wenn Paul dem Tourismus und dem, was aus Marokko geworden ist, so kritisch gegenübersteht - warum reist er dann nochmals hin? Warum blieben die Begegnungen mit Rachida für Pauls Leben so folgenlos, und was veranlasst ihn Jahre später, sich doch noch davon beeinflussen zu lassen?
An einigen Stellen der Geschichte wusste ich auch nicht mehr, ob du jetzt von Pauls erster oder zweiter Reise erzählst. Aber das passt natürlich zu Pauls Erinnerung, die sich ebenfalls mit der Gegenwart vermischt.

Du hast noch einige Rechtschreibfehler in der Geschichte, die aber nicht mehr als Flüchtigkeitsfehler sind und die du daher bestimmt auch selber findest. An der einen oder anderen Stelle fehlt auch noch ein Komma, aber dafür bin ich auch keine Expertin.

Liebe Grüße
Juschi

 

Hallo Juschi

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast meine Geschichte zu lesen. Es ist erst meine zweite Veröffentlichung, und ich freue mich über jede Stellungnahme.
Ich wollt Paul in meiner Geschichte mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontieren und Ihn, bzw. den Leser dazu bringen über den Sextourismus nachzudenken. Dabei schien es mir unwichtig hervorzuheben warum Paul schliesslich nach Marokko zurückkehrt. Die Fragen die du aufgeworfen hast, haben mich aber auf ein paar Unklarheiten aufmerksam gemacht.
Das Verschmelzen der beiden Reisen war, wie du richtig vermutet hast, gewollt.
Es hat mich auch gefreut, dass dir die Landschaftsbeschreibungen gut gefallen haben.

Liebe Grüße

Markus Ernzberger

 

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