Mein erster Satz
Mein erster Satz
Denn es fehlte ja der erste Satz. Ich taste panisch nach der beim Schreiben geleerten Haribo-Goldbären-Tüte, riss sie mir vor den Mund, begann zu hyperventilieren. Am ganzen Körper zitternd schaute ich mich um: Wo war der erste Satz meines Buches plötzlich hin? Gerade eben war er doch noch hier! Und auf einmal – weg!! Der Rest des Buches war komplett fertig, und ohne mich selbst zu sehr loben zu wollen: Es war ein echtes Meisterwerk geworden. Aber was nützte mir das alles, wenn der erste Satz fehlte?! Ich versuchte, mich erst mal zu beruhigen: Er würde sicher gleich wiederkommen. Wahrscheinlich war mein Satz einfach nur schnell Zigaretten holen oder so. Doch ich wartete zwei quälend lange Stunden und hatte noch immer nichts von ihm gehört. Deshalb rief ich Markus an und fragte aufgelöst, ob mein erster Satz vielleicht bei ihm sei. Aber Fehlanzeige – Markus behauptete, ihn noch nicht mal zu kennen. Ich war mir nicht sicher, ob ich Markus trauen konnte, schließlich schrieb auch er Bücher und würde keine Gelegenheit auslassen, mir einen solch tollen ersten Satz auszuspannen. Aber mir blieb nichts anderes übrig, darum knallte ich den Hörer meines schnurlosen Telefons auf die nicht vorhandene Gabel und rannte nach draußen in die dunkle Winternacht, um meinen Satz zu suchen. Ich lief zur Polizei und meldete ihn als vermisst. Ich rannte ins Krankenhaus, um zu erfahren, ob er einen Unfall gehabt hatte und eingeliefert worden war. Dort durfte ich zur Ablenkung in den nächsten Wochen viele schöne Strohkörbe flechten, doch auch das half mir nicht über den Verlust meines Satzes hinweg.
Als ich wieder aus dem Krankenhaus entlassen war, überlegte ich scharf, wie mein erster Satz denn ausgesehen hatte. Vielleicht: „Zärtlich, aber mit Nachdruck knabberte ich an ihrem behaarten Ohrläppchen“? Nein, das erinnerte mich nicht wirklich an ihn. War auch nicht mein Stil. Oder etwa: „Hey Sheriff, buchten wir die Postkutschen-Räuber heute endlich ein?“ Nein, auch nicht. Ich dachte die ganze Zeit nur noch wehmütig an meinen ersten Satz, so dass ich mich immer mehr von meinen Freunden isolierte. Die rieten mir, ich solle endlich loslassen. „Andere Bücher haben auch schöne Sätze“, sagten sie mir. Ich konnte diese blöden Redewendungen nicht mehr hören. Sie waren genauso leer und nutzlos wie ich mich fühlte. Oft saß ich tagelang zu Hause und starrte auf die leere weiße Stelle auf meinem Manuskript, wo er gestanden hatte. Warum hatte er mir noch nicht mal eine Nachricht dagelassen? Es war doch so gut zwischen uns beiden gelaufen!
Ich versuchte, mit anderen Sätzen etwas Ernsthaftes anzufangen, doch irgendwie passten sie alle nicht zu mir. Ohne meinen Satz fühlte ich mich wie ein Priester ohne seinen Ministranten, wie ein Bauer ohne seine Kuh, wie ein Informatikstudent ohne seine rechte Hand. Vor lauter Trauer und Frust verfiel dem Alkohol. Wirklich, ich soff wie ein Loch. Ich verbrachte viel Zeit in zwielichtigen Hafenkneipen, wo ich spätestens nach dem zehnten Schnaps jeden noch so schmuddeligen Satz abschleppte, der in Reichweite war. Ich war inzwischen sogar so tief gesunken, dass ich mir Sätze kaufte. Einmal hatte ich für fünfzig Euro was mit „Das Pfeffersteak war schlecht gewürzt“ und noch Wochen danach quälte mich die Angst, dass ich mir vielleicht irgendwas von ihm eingefangen haben könnte.
Eine Selbsthilfegruppe fing mich glücklicherweise auf. Ich lernte dort, dass andere Menschen noch viel schlimmere Schicksale zu erleiden hatten als ich: einer aus der Gruppe verlor schon mit siebzehn Jahren einen ganzen Absatz durch den Angriff eines Reißwolfes, ein anderer sogar einen 900-Seiten-Roman, der einen Festplatten-Absturz nicht überlebte. Als ich eines Tages von einem dieser Gruppengespräche durch die Innenstadt nach Hause ging, meinte ich plötzlich, meinen ersten Satz ein paar Schritte vor mir zu sehen. Sofort boxte ich mich durch die Menschenmenge und schrie wie am Spieß: „Bleib stehen!“ Als ich ihm näher kam, sah ich aber, dass es nur der ihm entfernt ähnlich sehende Media-Markt-Slogan „Ich bin doch nicht blöd“ war. Enttäuscht ging ich weiter.
Ich sah meinen ersten Satz nie wieder. Und wer weiß: Wahrscheinlich war er einfach zu schade für mich. Er hätte einen Goethe verdient, einen Schiller, nicht so jemanden wie mich. Mein weiteres Leben versuchte ich so gut wie möglich zu meistern, doch meinen verlorenen Satz vergaß ich nie. Erst auf dem Sterbebett, als mein ganzes Leben noch mal an meinem geistigen Auge vorbeizog, fiel er mir auf einmal wieder ein. Leider hörte mein Herz auf zu schlagen und ich starb, bevor ich den Satz meinem Sterbebegleiter diktieren konnte, damit der mein Buch endlich wieder vervollständigte. Und glauben Sie mir: Das ärgert mich noch heute - denn der Satz war wirklich verdammt gut ...