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Mein Lied

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18.02.2004
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Mein Lied

Ich sehe schon seit einer Weile nichts mehr. Die Badezimmerluft ist feucht und riecht angenehm nach Früchten und Blüten. Auch aus dem Fenster kann ich nicht mehr schauen. Nur das Plätschern des Wassers auf Alexas Körper ist zu hören und ihr leises Summen.
Inzwischen kann ich schon genau sagen wie lange sie noch in der Dusche bleiben wird, wie lange das Abtrocknen braucht und so weiter. Es ist ja jeden Morgen das selbe Ritual. Während sie sich die Haare fönt, singt sie immer. Doch dieses Lied wechselt. Deshalb freue ich mich immer so darauf. Außerdem kann ich sie dann beobachten, ihr in die Augen blicken, und versuchen ihre Gedanken darin zu lesen. Manchmal erzählt sie mir sogar manche Sachen, die sie erlebt hat oder die sie machen will.
Wenn sie mich morgens anschaut, lächelt sie immer und ich versuche ihr Gesicht so gut wie möglich, so schön wie möglich zu reflektieren, denn dafür ernte ich jedes Mal ein ganz besonders schönes Lächeln.
Große Pläne, weite Reisen
Nette Leute und viel Geld
Ja, das wär mein Traum vom Leben
Vom Leben in der Welt.
Einsamkeit, was soll ich damit
Mag einsam sein wer will,
ich bin es nicht
darum – was kümmert’s mich?
Ich bin jung und ich will leben!
Alles haben und nichts geben.

Auf einmal hält sie inne und ich sehe in ihr entsetztes Gesicht. Habe ich einen Fehler gemacht? Hab ich sie nicht richtig gespiegelt? Ich tue mein Bestes sie so wie sie ist darzustellen, doch sie beachtet mich gar nicht. Ihre Hand liegt an ihrem Hals, verschiebt sich immer wieder hin und her und ich höre jedes Mal ein Klacken, als ob jemand mit den Fingern zu schnalzen versucht und es nicht schafft. Was spürt sie. In ihren erstarrten Augen lese ich nur dass sie geschockt ist. Doch worüber weiß ich nicht.
Während sich ihre Lippen langsam und tonlos bewegen und jenes eine Wort formen, jenes Wort, dass so oft gebraucht wird, jenes Wort, dass den größten Schock auszudrücken vermag, aber gleichzeitig das größte Aufbäumen dagegen, jenes Wort, dass eines der ersten ist die man als Kind lernt und eines der Wörter, die man am häufigsten gebraucht, während ihre Lippen dieses Wort formen, fangen ihre Augen panisch an hin und her zu wandern und nach Halt zu suchen, so dass es mir immer schwerer wird ihr Bild wiederzugeben. Doch aus ihrer Kehle dringt kein Ton.
„Nein“ Immer wieder formen ihre Lippen dieses Wort und sie schüttelt immer wieder den Kopf. In sich zusammengesunken sitzt sie am Boden und ich kann absolut nichts tun um ihr zu helfen.
Nach einer ewig langen Zeit erhebt sie sich wieder und schaut mich an, lächelt, doch diesmal ist es nur eine Maske. Ihre Augen strafen ihr Lächeln lügen. Immer wieder zuckt ihr Hand in Richtung Hals, doch kurz bevor sie dort ist, zieht sie sich wieder zurück, als ob sie etwas herausfinden wolle, aber Angst hätte, sich dabei zu verbrennen. Und als sie schließlich doch wieder ihren Hals berührt, sehe ich wieder diesen entsetzten Ausdruck in ihrem Gesicht, ja, diesmal sehe ich sogar ein verräterisches Glitzern in ihren Augen.
Doch die Tränen kommen nicht. Das einzige was ich noch mitbekomme, bevor sie das Bad verlässt ist ein wütendes Stampfen auf den Fußboden. Mehr nicht.


„Nein!“ Das darf nicht wahr sein. Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel und sehe schon wie meine Augen feucht werden. Nein, jetzt bloß nicht anfangen zu weinen. Jetzt, wo ich doch gleich zur Schule muss. Wütend stampfe ich auf den Fußboden. Dadurch kann ich wenigstens meine Trauer und mein Entsetzen übertönen.
In Chemie, meiner ersten Unterrichtsstunde heute, verschütte ich die Chemikalien, vergesse auf den Siedeverzug zu achten und bin absolut nicht bei der Sache.
Auch die anderen Fächer sind nicht besser. Nur mit Mühe und Not kann ich mich auf den Stoff konzentrieren und doch hilft mir der Stoff nicht die ganze Zeit an den Schock von heute morgen zu denken. Immer wieder schleicht meine Hand unbewusst an meinen Hals, doch glücklicherweise merke ich es immer vorher und ziehe sie zurück. Ich will jetzt nicht daran denken, denn sonst würde der ganze Schock wieder von vorne anfangen und hier in der Schule anfangen zu weinen ist das letzte was ich heute brauchen kann.
In Biologie bin ich schon wieder abwesend. Meine Blicke schweifen über die in frischem Grün leuchtenden Bäume. Und ich sitze hier drinnen. Wie gerne würde ich wieder wie gestern unter diesen Bäumen liegen und in den Himmel blicken. Einfach der Zukunft ins Auge schauen und das Beste für mich erwarten. Zu träumen von meinem zukünftigen Leben, zu träumen von meinen Plänen und Zielen. Statt dessen bin ich in der Schule und kämpfe gegen die Tränen, kämpfe gegen die logische Schlussfolgerung, die sich aus dem was ich heute morgen an meinem Hals gespürt habe, ergeben müsste. Ich bette meinen Kopf auf dem Tisch, versuche nicht mehr hinauszublicken, sondern mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Doch irgendwie scheint sich heute alles gegen mich verschworen zu haben. Das Thema heute ist Krebs, wie er entsteht und so weiter und Herr Breit meint ausgerechnet mich drannehmen zu müssen.
„Alexa, du kannst uns doch da bestimmt etwas darüber erzählen. Wie ist so eine Therapie?“ Ich schüttle nur den Kopf. Das ist das letzte was ich heute könnte. So etwas zu erzählen. Sonst fällt es mir eigentlich leicht darüber zu sprechen, jedenfalls fiel es mir leicht, doch heute, nein, beim besten Willen nicht. Nicht nachdem was ich heute morgen gefühlt habe. Nicht nachdem ich diesen Knoten, der gestern noch um einiges kleiner war, gespürt und sogar im Spiegel gesehen habe. Genau so hat es vor fünf Jahren angefangen.
„Du willst dich wahrscheinlich lieber etwas darauf vorbereiten. Nächste Stunde kannst du uns ja dann in Form eines Referats etwas davon erzählen. Vielleicht bringst du auch ein paar Bilder mit.“ Herr Breit kann nicht locker lassen. An anderen Tagen würde ich es zwar schätzen, wenn jemand so mit mir sprechen würde, doch heute – Nein.
„Nein!“ Ich wollte dieses Wort in die Klasse schreien, doch nur ein ersticktes, ja geflüstertes Wort kommt über meine Lippen. Niemand scheint es zu bemerken und erstaunlicherweise gelingt es mir immer noch die Fassung zu behalten, wenn ich auch sehr damit zu kämpfen habe. Dem Unterricht zu folgen ist noch schlimmer als diese „Wie-schön-wärs-doch-wenn“-Träume. Doch jetzt kann ich mich nicht mehr wegkonzentrieren. Jetzt muss ich zuhören.
Nach der Stunde kommt Herr Breit noch mal an meinen Tisch.
„Alexa, du hältst doch dann morgen dein „Referat“, oder?“
Ich schüttle den Kopf.
„Aber sonst hast du doch nie ein Problem darüber zu sprechen!“
Meine Güte, kann er denn nicht locker lassen.
„Ich kann das Referat morgen nicht halten und jetzt lassen sie mich endlich damit in Ruhe.“ Ich schreie diese Worte mit der Wut und dem Mut der Verzweiflung aus mir heraus und verliere dadurch den letzten Rest meiner Fassung. Tränen rinnen mir über die Wangen. Herr Breit sieht ganz verlegen aus und auch mir ist das ganze peinlich, doch was hätte ich anderes tun sollen.
„Du musst das Referat ja nicht halten, wenn es für dich so schlimm ist. Mach dir keinen solchen Kopf daraus.“ Doch diese ganzen Beruhigungsversuche schlagen fehl. Jetzt, wo einmal der Damm gebrochen ist, kann ich nichts mehr tun, als dem Stausee der Tränen freien Lauf zu lassen. Die Kraft ihm Einhalt zu gebieten habe ich nicht mehr. Als es mir endlich gelingt, hat die nächste Stunde schon angefangen. Herr Breit fragt mich ob ich nicht lieber nach Hause gehen wolle und entschuldigt sich eins ums andre Mal.
Doch als ich auf dem Weg nach Hause bin, kommt das nächste Problem. Wie soll ich meinen Eltern erklären warum ich schon hier bin? Kurz bevor ich daheim bin, mache ich wieder kehrt und gehe in die andere Richtung. Hinaus auf die Felder. Ich muss erst alleine damit fertig werden. Nur dann kann ich meinen Eltern von dem Knoten erzählen und dann können auch alle weiteren Untersuchungen eingeleitet werden.
Mitten auf der Wiese lege ich mich unter einen Apfelbaum, der gerade in voller Blüte steht. Eigentlich genau das, wovon ich heute morgen geträumt habe, aber doch auch das vollkommene Gegenteil. Sorglos in den Himmel hinaufblicke – Das war einmal. Endlich erlaube ich auch meiner Hand noch mal nach dem Knoten zu tasten. Ist er wirklich, oder habe ich es mir nur eingebildet? Aber er ist immer noch da, genauso schmerzlos, doch genauso furchteinflößend wie heute morgen. Und diesmal bemühe ich mich gar nicht erst die Tränen zurückzuhalten, nein, ich will den Stausee meiner Tränen ruhig bis zum Grund leer laufen lassen. Füllen tut er sich von selbst wieder. Und gleichzeitig waschen die Tränen meine Wut und meinen Hass mit fort, meinen Hass auf die ganze Welt, auf mich selbst, die ich ja nicht gut genug aufgepasst habe und auf Herr Breit, der mir diese Blamage in der Schule bereitet hat und der jetzt vielleicht schon ahnt was mit mir los ist.
Ohne den Hass und die Wut bleibt nur noch die Trauer und die Niedergeschlagenheit, oder besser, die Hilflosigkeit.
Ich schließe meine brennenden Augen, doch sobald ich sie schließe, sind mir wieder Szenen aus dem Krankenhaus vor Augen.
Anna und ich, wie wir die Krankenschwestern geärgert haben und sie zum Spaß immer wieder riefen. Franzi, wie sie in ihrem Bett liegt und immer wieder mühsam nach Luft ringt. Dann wieder Anna, bleich, blaue Lippen, ohne Haare und ich daneben, selber ohne Haare, doch sonst geht es mir gut. Voller Angst wende ich mich von Anna weg. Ich kann nicht in ihr entstelltes Gesicht schauen. Ihr vom Cortison aufgedunsenes Gesicht, dass mich traurig ansieht und hinter dem doch noch die gleiche Anna wie vor einem halben Jahr steckt, die aber diesmal vergeblich auf meine Freundschaft hofft. Wahrscheinlich konnte ich es damals nicht ertragen mit ihr zusammen zu sein und sie immer wieder anzuschauen, aus Angst davor selbst auch mal so auszusehen. Seit ich aus der Klinik entlassen worden bin, habe ich nichts mehr von ihr gehört. Auch nicht von den anderen, die ich im Krankenhaus getroffen habe. Ja, jeglicher Kontaktversuch ihrerseits wurde ignoriert.
Als nächstes sehe ich mich in einem Bett liegen, mein Gesicht von Cortison aufgedunsen, überall um mich herum Infusionsschläuche, EKG, Blutdruckmessgerät und was weiß ich noch alles. Doch dieses Bild kenne ich nicht. So weit war es damals nicht gekommen. Erschrocken reiße ich die Augen auf und sehe, dass die Sonne von Wolken verdunkelt wird. Meine tränennassen Augen brennen von dem Wind, der über mich hinwegweht. Doch die Natur um mich herum vermag nicht dieses letzte Bild zu verdrängen.
Voller Panik knie ich mich hin und fange an zu beten - etwas, dass ich schon seit Jahren nicht mehr gemacht habe. „Bitte hilf mir!“ Keine anderen Wort dringen über meine Lippen. Nur dieser eine Ausruf. Doch ich bleibe knien.
Es mag eine Ewigkeit vergangen sein als ich wieder die Augen öffne und aufstehe. Vielleicht waren es aber auch nur ein paar Augenblicke. Ich fühle mich erleichtert und auch entschlossen. Entschlossen nicht nur gegen die Krankheit anzugehen, sondern anderen zu helfen und jeden Tag als Gelegenheit dazu zu benutzen.


Ich warte schon den ganzen Tag gespannt darauf Alexa am Abend wieder zu sehen. Zu sehen wie sich dieser Tag auf sie ausgewirkt hat und vielleicht eine herauszufinden was sie entdeckt hat an ihrem Hals.
Als sie die Türe öffnet bin ich nicht überrascht auf ihrem Gesicht Spuren unlängst vergossener Tränen zu sehen, doch als ich näher hinschaue, sehe ich nicht mehr diese Panik in ihren Augen, sondern Frieden.
Und das Lied, dass sie jetzt singt ist ein anders.
“...As I am talking to You my God,
My heart is turning still.
Thoughts are no longer about my fears,
They’re focused on Your will.
Hopeful and trusting I’m looking up to You.
I know that You will show me the way...
You hold my future in Your hands.”

(„Während ich mit dir rede, mein Gott
wird mein Herz ruhig.
Die Gedanken drehen sich nicht länger um meine Ängste.
Sie sind ganz auf deinen Willen ausgerichtet.
Voller Hoffnung und Vertrauen schaue ich zu dir auf.
Ich weiß du wirst mir den Weg zeigen...
Du hältst meine Zukunft in deinen Händen.“)
(2. Lied by Exalt)

 

Hallo Eonna,

eigentlich schade, dass diese Geschichte hier seit über einem Monat unkommentiert steht. Denn sie ist gut.
Sehr schön finde ich den Rahmen, den du ihr durch den Spiegel zu Beginn und Ende gibst. Nur der abschließende Liedtext ist mir zu lang.

Schön hast du auch die Gefühle der Protagonistin getroffen. Ohne Sentimentalität konnte man einfach mit ihr fühlen, mit dem Verlust ihrer Hoffnungen, konnte sich aber auch mit ihr aufraffen zum Kampf.

Drücken wir ihr die Daumen, dass auch dieser Kampf gut ausgeht.

Deine Geschichte hat mir gut gefallen.

Lieben Gruß, sim

 

Hey, ich hätte nicht gedacht, dass die Geschichte nochmal kommentiert wird. Und dann auch noch positiv! :)
Mit dem letzten Liedtext hast du schon recht. Vor allem mit der Übersetzung sieht er noch länger aus. Mal schauen, ab wo ich ihn noch kürzen kann.
Nochmal vielen Dank für das Feedback.
LG
Eonna

 

Hallo Eonna!

Mir hat deine Geschichte auch sehr gut gefallen, alles an Handlung ist nachvollziehbar und sehr einfühlsam beschrieben. Mir gefällt gut, dass sie nicht in Selbstmitleid versinkt, sondern sich nach einger Zeit aufrafft und dagegen ankämpfen will.
Gut finde ich auch, dass sie zum Schluss betet, denn viele Menschen kehren erst dann wieder zu dem Glauben zurück, wenn sie in einer Notsituation sind.
Ich weiß nicht ob der Liedtext nun schon gekürzt wurde, aber mir gefällt er so wie er ist.

Bis dann
Kleine Nacht

 

Hi Kleine Nacht
Danke fürs Lesen und Kommentieren! Super, dass sie dir gefallen hat.
Ja, der Liedtext ist inzwischen schon gekürzt. Ich hoffe, dass es so besser ist.
LG
Eonna

 

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