Mein Nachbar, der Stalker
Ellie wird es wohl ewig bereuen, vor zwei Jahren das Haus mit lichtgeflutetem Wohnzimmer, großen Fenstern und wunderschönen Blick auf den Garten gekauft zu haben. Aber sie konnte ja nicht Wissen, dass sich ihr Nachbar als Stalker entpuppen würde.
Jetzt lief er wieder hin und her in seinem Garten, auf den Ellie einen wunderschönen Ausblick hatte - so wie er auf ihren. Er legte sich die Hand an die Stirn, um seine Augen vor den Sonnenstrahlen zu schützen. Und sah genau in ihre Richtung. Ellie sah schnell weg. Das war ihr dann doch etwas zu intensiv. Jetzt ging er wieder an ihrem Zaun entlang und betrachtete ihre Blumen.
“Vielleicht ist er bloß neugierig”, sagte ihre Freundin Caro neulich. “Schließlich macht er doch nix schlimmes oder? Jeder guckt doch mal in den Garten der Nachbarn.”
Natürlich wollte Caro ihr nicht glauben. Aber Ellie wusste, dass sie sich nicht unnötig Sorgen machte. Schließlich machte er jeden Tag nach der Arbeit einen Umweg an ihrem Auto vorbei, um zu sehen, ob sie zuhause war. Und dann machte er sogar Fotos, wenn sie am Fenster stand oder im Garten saß. Er dachte wohl, Ellie würde das nicht mitbekommen. Aber sie war gut im Beobachten.
“Es kann doch auch sein, dass er dich einfach nur kennenlernen möchte. Schließlich hast du dich ihm ja noch nie vorgestellt”, fügte Caro hinzu.
Ellie schnaubte verächtlich. Warum sollte sie sich auch ihrem Stalker vorstellen, und ihm noch einen Grund mehr geben, in ihr Leben herein zu schnüffeln.
***
Ellie hatte diese Ungewissheit langsam satt. Sie musste einfach unbedingt heraus finden, ob dieser Nachbar wirklich nur so harmlos ist, wie alle sagen. Die perfekte Gelegenheit bot sich am nächsten Morgen, als der Mann vergaß sein Gartentor abzuschließen. Langsam schlich sich Ellie in seinen Garten. So nah war sie seinem Haus noch nie gekommen. Alle ihre Beobachtungen fanden aus ihrem Garten oder durch ihre Fenster statt. Vorsichtig erhaschte sie einen Blick durchs Küchenfenster. Es sah sehr sauber und ordentlich aus. Kein dreckiger Teller oder anderes Geschirr stand herum. Alles war penibel ins Regal sortiert worden. Es machte den Anschein, als würde hier nicht mal jemand drin wohnen. Das machte Ellie noch misstrauischer. Sie schlich sich zum nächsten Fenster. Darin war ein kleines Bett mit weißem Laken, eine präzise gefaltete Decke, ein Bücherregal, das drohte auseinander zu platzen, und ein großer Kleiderschrank mit vielen Schubladen. Auf einem Nachttisch stand eine Kamera. Das ließ Ellies Herz höher schlagen. Was, wenn da noch Fotos drauf waren ? Was, wenn sie auf welchen zu sehen war ? Ihr wurde übel. Sie musste unbedingt wissen, ob er Fotos von ihr hatte.
Sie schlich sich weiter zum nächsten Fenster und konnte ihr Glück kaum fassen! Es war das Badezimmer, und er hatte doch tatsächlich das Fenster offengelassen !
Mit Mühe kletterte sie auf die Fensterbank und rein ins Haus. Das Badezimmer war genauso steril wie die Küche. Alles hatte seinen festen Platz, und es roch nach billigen Raumerfrischern.
Sie schlich sich auf den Flur, der aus knarrendem Holzboden bestand. Sie öffnete die Tür zu dem Zimmer, dass sie zuvor als Schlafzimmer identifiziert hatte. Sie schnappte sich die Kamera und untersuchte sie auf gespeicherte Fotos, doch sie war leer. Wäre ja auch zu einfach gewesen.
Als nächstes wühlte sie wie eine Wilde durch die Schubladen des Kleiderschrankes. Diese Fotos mussten hier doch irgendwo sein! Ganz sicher hatte sie sich nicht vertan.
Doch bevor sie ihre Suche fortsetzen konnte, flog die Tür auf und der Mann, den sie schon so oft aus der Ferne gesehen hatte, stand vor ihr. Seine Stirn war schweißgebadet und seine schwarze Brille war ihm fast komplett von der Nase gerutscht.
Er griff in die Tasche, die er bei sich hatte, und Ellie wurde ganz schwindelig bei dem Gedanken, dass er vielleicht eine Waffe dabei haben könnte. Wäre sie doch nur vorsichtiger gewesen! Plötzlich wurde sie von einem grellen Licht geblendet. Als sie wieder sehen konnte, bemerkte sie, dass der Mann ein Handy auf sie gerichtet hatte. Seine Hände zitterten so sehr, dass es ihm fast aus der Hand fiel.
“Ich hatte Recht!”, rief er und stieß eine Mischung aus einem nervösen Lachen und einem erleichterten Seufzer aus. “Da mache ich extra Beweisfotos, und die Polizei wollte mir heute morgen trotzdem nicht glauben”, fuhr er fort. “Aber jetzt bin ich mir sicher, dass ich nicht verrückt bin! Ständig beobachtest du mich, egal wohin ich gehe. Und dann stehst du auch noch wie eine Irre an deinem Fenster und starrst mich an. Du bist ein Stalker ! Und jetzt bist du auch noch in meinem Haus. Aber das geht zu weit. Ich rufe jetzt die Polizei.”