Mein Name ist Legion
Mein Name ist Legion
Sie würden es bereuen. Sie alle würden es bereuen. Die Lehrer. Seine Mitschüler. Besonders seine Mitschüler. Heute geschah etwas, was ihn dazu veranlasste, seine oft in der Fantasie durchgeführte Tat hinüber in die Realität zu tragen.
Demut. Niemand, der nie wirklich, wirklich ein Aussenseiter war, weiss, was das bedeutet. Demut, Angst, Schrecken. Und noch mehr Gefühle nahm er jeden Morgen mit in die Schule. Tobias war überdurchschnittlich Intelligent und eher ein ruhiger Typ. Der perfekte Amokläufer, hatte sein Vater mal aus Scherz gesagt. Nun, wir werden sehen...
Das einzige Fach, in dem er nicht nur nicht richtig gut war sondern eine richtige Niete, war Mathe.
Er hasste es. In den anderen Stunden sicherte er sich wenigstens die Sympathie und Anerkennung seiner Lehrer, wenn schon nicht die seiner Mitschüler. Aber in Mathe...
Er träumte oft davon. anerkannt zu werden, Freunde zu haben, die...
"Tobias!", hallte es durch den Raum. Der Angesprochene schreckte hoch. Da er wie üblich allein ganz hinten saß, musste der Lehrer sowieso schon die Stimme heben, wenn er ihn ansprach. Nun tat er es aus Zorn."Träumst du schon wieder? Los, nach vorne!" Widerstrebend erhob er sich und ging nach vorne zur Tafel und fragte sich, was an Träumen schlimm war.
Wie immer war es ein Spießrutenlauf. Die vor Schadenfreude verzerrten Gesichter der anderen grinsten ihn an. Er starrte auf die Tafel. Eine Gleichung mit 2 Unbekannten. Gott, was hab ich bloß verbrochen, dass du mich so strafst?
Er nahm sich die Kreide und sah hoch zur Tafel, ohne die Zahlen indes wirklich zu sehen. "Na, worauf wartest du?" Er stand da und bekam rote Ohren. Er hörte verhaltenes Lachen von hinten.
Nach einer Minute war es gar nicht mehr so verhalten. "Ich kann das nicht.", stammelte Tobias. Er betete, dass er sich wieder in seine Ecke setzen dürfte, wo ihn das alles nicht erreichte.
Plötzlich erwachte etwas in Tobias, von dem er gar nicht wusste, dass es tief in ihm existierte: Der Wille nach Widerstand. Es war der Tropfen, der das Faß zu übverlaufen brachte. "Ich kann das nicht!", schrie er und schleuderte die Kreide von sich. Unter dem verblüfften Blick seines Lehrers und dem Lachen seiner Klassenkameraden stürmte er aus der Klasse und rannte nach Hause.
Religion stand am nächsten Morgen auf dem Stundenplan. Irgendwie passend, dachte er. Mein Name ist Legion. Er erinnerte sich dunkel an diese Stelle aus der Bibel. Der Ausruf kam von einem Mann, erinnerte er sich, der von mehreren Dämonen besessen war. Auch Tobias war nun besessen.
Tobias Vater war ein Waffenfanatiker und so kam es, dass auch sein Sohn mehr als nur ein wenig von diesen effektiven Killermaschinen verstand. Sich einen Nachschlüssel für den Waffenschrank zu besorgen war eine heikle Sache gewesen, aber Tobias hatte es natürlich trotzdem geschafft. Er war stolz auf sich. Gleichzeitig war er etwas betrübt, als er früh morgens die beiden Maschinenpistolen aus dem Waffenschrank entnahm. Er würde nicht mehr viel Zeit haben, das Gefühl auszukosten. Dabei war es doch so wertvoll für ihn. Nicht viele positive Gefühle hatten bis jetzt sein Leben bestimmt.
Religion. Er mochte seinen Religionslehrer nicht besonders. Er hätte lieber seinen Mathelehrer mitgenommen, aber Mathe hatten sie erst in der Sechsten. Naja, was solls. Schwund ist überall. Er kicherte hysterisch.
Während Tobias unbemerkt die beiden Uzis aus der Tasche kramte, erzählte sein Lehrer grade etwas von Ägypten, Moses und einem goldenen Kalb. Sein Tonfall ließ erahnen, dass er die Sache genauso langweilig fand wie seine Schüler.
Er erinnerte sich daran, dass sein Relilehrer vor kurzem geheiratet hatte. Na und? Ich werde sie alle töten, dachte er. Gott wird sie schon aussortieren.
Sprunghaft stand Tobias auf, die beiden Uzis in den Händen. Sie waren schwer. Das Geräusch des umkippenden Stuhles ließ die Schüler herumfahren.
"MEIN NAME IST LEGION!", brüllte er, während er mit fliegenden Fingern die Maschinenpistolen entsicherte. "DENN WIR SIND VIELE!"
Er richtete die Uzis nach vorne und drückte ab. Genau in die Gesichter seiner verhassten Peiniger.
Das Ergebnis übertraf seine kühnsten Erwartungen. Köpfe explodierten, Gliedmaßen wurden durch die Luft gewirbelt. Sein Lehrer wurde von einer Garbe an die Tafel genagelt und rutschte krächzend daran herunter. Blutige Masse bestraften Lebens flog quer durch den Raum.
Ein Triumphgefühl nie gekannten Ausmaßes überflutete Tobias. Diejenigen, die nahe der Tür saßen und fliehen wollten, erwischte er ebenso wie diejenigen, die vor Schock gelähmt dasaßen und unfähig zu reagieren auf den Tod warteten.
Schreie erfüllten den Raum. In den Schmerzens - und Todesschreien erkannte Tobias seine eigene Qual wieder.
Plötzlich war es Vorbei.
Es war nur noch ein Mädchen übrig. Simone.
Sie war hübsch. Ihr Pulli war blutverschmiert. Sie hatte ihm nie etwas getan, erinnerte er sich. Sowenig wie die meissten Mädchen in der Klasse. "Töte mich nicht.", flüsterte sie. Tobias war den Tränen nahe. "Es tut mir leid, ich...kann..nicht...". Ein Schuß löste sich und zerschmetterte Simones Schienbein. Sie schrie auf und wurde gegen den Tisch geschleudert, vor dem sie stand. Der Schock nahm ihr wohl den grössten Schmerz, denn irgendwie gelang es ihr, noch immer aufrecht zu stehen. Tobias kam mit wiegenden Schritten näher, bis er nur noch auf Armeslänge vor ihr stand. Er zielte noch immer auf Simone. "Nicht.", hauchte sie. "Ich.." Ein weiteres Geschoß krachte mit 300 Stundenkilometern aus der Waffe. Es traf Simones Schulter und zerfetzte Sie. Ein weiterer Schuß in den Bauch. Simone wurde zu Boden geschleudert.
Tobias ließ mit einem Schrei die Waffen fallen und stürzte sich auf Sie. Noch nie war er einem Mädchen so nahe gewesen, dachte er voller Schmerz.
Ihre Augen waren gebrochen, der Boden unter ihr färbte sich rot. Noch einmal gewannen Simones Augen an Klarheit, als sie unter Tränen die Wangen ihres Mörders berührte. Die Tränen verwischten das sorgfältig aufgelegte Make-Up.
Es war das erste mal, dass sie geschminkt war, fiel Tobias auf.
Ihre Mutter hatte der an diesem Morgen besonders fröhlichen Simone dabei geholfen. Denn heute war der Tag gewesen, an dem sie es ihm sagen wollte.
Ihre nächsten Worte ließ ihn das Make-Up Simones vergessen. Seine Wange streichelnd hauchte sie: "Ich....Ich liebe dich doch..." Dann sank ihr Arm herab und ihre Augen schlossen sich.
Tobias sprang auf, riss eine der Pistolen an sich und schoss sich in den Kopf. Er war Tod, noch bevor er auf dem Boden aufschlug.
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14.7.2004