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Mein Radio

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27.06.2003
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Mein Radio

19. Stock. Ich hatte im Radio gehört, hier sei eine Wohnung frei. Ich sah sie mir an und wurde Mieter. Einfach so. Kein Problem. Sie war ausreichend geräumig für mich und mein Radio, denn mit sonstigen Gütern war ich nicht gerade belastet. Im Radio hatten sie darauf hingewiesen, dass ein wichtiger Vorzug der Wohnung die großen Panoramafenster auf der Südseite seien. Sie waren wirklich riesig. Ein durchschnittlich gewachsener Mann konnte sich problemlos in den Fensterrahmen stellen und füllte ihn nicht ganz aus.
17. Stock. Mein Radio lief den ganzen Tag. Und die ganze Nacht. Entweder hörte ich Musik oder Stimmen, die mir über die aktuellen Ereignisse in der Welt, die mich umgibt, berichteten. Abends, in dem grauen, unwirklichen Moment bevor man einschläft, hatte ich oft den Eindruck, sie rufen meinen Namen. Ganz nah an meinem Ohr. Unbekannte Stimmen, die mir doch auf seltsame Weise vertraut erscheinen. War da nicht die Stimme meiner Mutter? Nur irgendwie anders. Oder einer meiner ehemaligen Arbeitskollegen, oder mein Cousin als Kind? Die freundliche Dame vom Arbeitsamt...
15. Stock. Ich überlege, wann ich eigentlich zum Radiohörer geworden bin. War es damals, als mich Sabine verließ? Ich hatte sicherlich ein Problem mit der plötzlichen Einsamkeit. Später wusste ich, dass jeder allein ist. Immer. Trösten konnte mich das nicht.
14. Stock. Später, als ich in der Klinik war haben sie es mir zeitweise abgeschaltet. Das Radio. Sie nannten es mein „Problem“. Es fehlte mir. Und auch wieder nicht. Oder doch?
12. Stock. Ich glaube, das alles fing schon viel früher an. Ich habe dunkle Erinnerungen an verwirrende Meldungen in meiner Kindheit. Ich war eins von diesen Kindern, das von überall runterspringen will und dann wegen einer Platzwunde oder eines Knochenbruchs behandelt werden muss. Erklären konnte sich das damals niemand. Ich konnte es auch nicht.
10. Stock. Noch ein paar Stockwerke, dann bin ich hier raus. Ich fühle mich federleicht.
9. Stock. Nicht nur ich musste damals oft zum Arzt. Auch einige meiner besten Freunde taten es. Ich hatte dann oft Ärger. Angeblich hatte ich sie auf die Idee gebracht. Mama verteidigte mich immer. Ich war doch so ein unauffälliges, stilles Kind. Ich hatte dann nicht mehr viele Freunde und bald gar keine mehr.
7. Stock. Tag und Nacht. Ununterbrochen. Seit ich denken kann. Egal, wo ich bin oder hin will. Ich hab es einfach dabei. Es ist immer bei mir. Natürlich auch jetzt. Es dudelt, plappert, ermahnt, kreischt und sagt mir, wie schön das Wetter heute werden wird. Ich soll zurück und den Sonnenschein an meinem geöffneten Panoramafenster genießen. Ich kann nicht zurück.
4. Stock. In letzter Zeit war das Radio oft unerträglich laut. Als ob sich der Lautstärkeregler von alleine bewegte, oder es die Wellen zwischen zwei Kanälen zwar verzerrt aber mit doppelter Intensität empfangen würde. Mir fällt niemand ein, der so was wirklich reparieren könnte. Ich muss da selber ran.
2. Stock. Stille. Ich genieße.
1. Stock. Durch den Aufschlag werde ich dieses verdammte Radio endlich abstellen.

 

Wow!
Deine Geschichte bringt mich echt zum Grübeln und gefällt mir ausgezeichnet. Der Aufbau ist sehr gelungen, weil ich eben erst zum Ende hin gerallt habe, um was es geht, und durch das Abwärtszählen entsteht unweigerlich Spannung. Alles in allem sehr eindrucksvoll und gut geschrieben.

 

Vielen Dank. Ich glaube, eine solche Kritik kann man sich für sein Debut auf dieser Seite nur wünschen. Ich hab´ ein paar Deiner Sachen gerade mal quergelesen. Mein erster Eindruck ist, dass ich mich um so mehr über Dein Lob freuen kann. Tja... dann werd´ ich wohl weitermachen.

 

Mir gefällt die Geschichte ebenfalls, allerdings wusste ich schon im 15. Stockwerk, wie es eneden wird - und im zehnten sprichst Du es auch aus.

Trotzdem: Eine gelungene Darstellung, was einem innerhalb dieser wenigen Sekunden alles durch den Kopf gehen könnte!

LG
Aragorn

 

Auch Dir sei Dank, Aragorn, Arathorns Sohn. Ich muß gestehen, ich mag positive Kritik.

 

Servus!

Wo Aragorn ein "trotzdem" einsetzt, würde ich ein "deswegen" einsetzen. Wenn du die Pointe nur in die letzten paar Zeilen gepackt hättest wäre es, wie soll ich sagen, zu typisch gewesen. Wobei ich sagen muss, vom 19. Stock auf den 17ten war ich in dem festen Glauben, ein Umzug hätte stattgefunden und im 14. Stockwerk hatte ich ein Krankenhaus vor Augen.

Das in die Geschichte eingebaute Radio fand ich entzückend. Es gibt so viele Kleinigkeiten, persönliche Gegenstände, an denen man hängt. Diese Tatsache wird einem oftmals erst bewusst wenn man sie nicht mehr hat. Oder, wie in dem Fall, man kann nicht ohne, aber auch nicht mit ihnen leben. Welch erschüttender Grund für einen Selbstmord.

Liebe Grüße,
Liusaidh >die sich über eine neue Kurzgeschichte freuen würde<

 

Liebe Liusaidh,
vielen Dank für´s Lob. Ich werde bestimmt bald ein paar Geschichten nachlegen. Ähm... das mit dem Radio... Also ich dachte, mir wäre es gelungen, auszudrücken, dass der Protagonist diese Stimmen in seinem Kopf! hört. Dies wäre dann auch ein ausreichender Grund, in einem schizoiden Zustand Selbstmord zu begehen.
LG,
Minds Eye.

 

Hi Minds Eye!
Ich muss dir Recht geben, denn für mich kam es klar rüber, dass es sich hierbei um Stimmen im Kopf handelt. Die andere Variante wäre zwar ziemlich skurril, aber auch irgendwie plump... Naja egal, ich wollte nur sagen, dass du dich meiner Meinung nach nicht deutlicher ausdrücken musst. Die Geschichte ist so, wie sie ist, sehr gut.

 

:rotfl:

Mensch, peinlich! Jetzt wo du es sagst, check sogar ich es... Ich hab nun mal einen Hang zu skurrilen, plumpen Vorstellungen und die haben dann eben Vorrang und stechen alles andere aus. :o
Christian hat recht, bloß nix ändern, nicht jeder ist so doof wie ich. :susp:

Liebe Grüße,
Liusaidh

 

Hi Liusaidh, macht doch nix. Passiert mir auch. Online-Zeit tickt. Schnell quergelesen. Nix gerafft. Bin nur froh, dass ich´s nicht umschreiben muß, wüßte nämlich nicht, wie ich es deutlicher ausdrücken könnte, ohne den Effekt zu verraten.
Supervielen Dank nochmal,
ME.

 
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Hi Jo,
vielen Dank für´s Lob.
Interessant wäre ja auch, welche Jahreszeit es war, da die Fensterbank leichte Reifspuren aufweisen könnte oder ob in China gerade ein Sack Reis umgefallen war.
:) Nix für ungut und nochmal... Danke.
Grüße,
ME.

 
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Hallo Minty

Ich versuch mich mal probe halber bei deinem kleinen, feinen Text an einer Analyse/Interpretation oder wie immer man das auch nennen will :)

Auf den ersten Blick betrachtet, erzählt der Prot in in kleinen Rückblendungen über den Verlauf der Beziehung zu seinem Radio: Wie er dazu kam, wie es ihm half, wie es ein selber ein Problem wurde und wie er dieses Problem löst.
Dabei neigt man bei oberflächlicher Betrachtungsweise zur der Annahme das sich bei diesem Radio um ein physisches Objekt handelt.

In dieser Hinsicht bringt der 19.Stock(damit bezeichne ich mal die jeweiligen Textabschnitte) auch keine Überraschungen mit sich. Das Radio ist ein Nutzobjekt, wird nur maginal erwähnt. Ist generell noch sehr normal.

Bereits im 17. Stock ändert sich dieses Verhältnis jedoch sehr deutlich. Das weiterhin physische Radio beginnt die Wahrnehmung des Prots zu dominieren und zu verfälschen. Das Hören von Stimmen ist in diesem Zusammenhang ein weitverbreitetes psychisches Problem, wie ich glaube.

Der 15. Stock bringt erste Gedanken des Prots zur Bewältigung seines Problems, denn solch eines muss man kennen, um es zu lösen. Und um es zu kennen, muss man sich im klaren werden, wann es aufgetreten ist. Jetzt zeigt sich bereits eine erste Abtrennung des Begriffs "Radio" von dem eigentlichen Gerät. "Radiohörer" scheint, zunächst noch sehr vage, eine Umschreibung des pschologischen Problemzustand des Prots.

Im 14. Stock wird die kurze und doch prägnate Theraphiephase des Prots widergegeben. Ärzte schalten nach Belieben das Problem "Radio" ein und aus. Die dabei verwendete Formulierung lässt auf den Gebrauch von Sedativen oder ähnlichen Drogen rückschließen. Auch erlebt der Prot eine Achterbahnfahrt der Gefühle, so wie sie immer bei anderen Abhängigen geschildert wird. Mal braucht er das Radio, mal nicht. Es wird klar, dass "Radio" jetzt nur noch als Synonym für den nicht nachweisbaren Empfang von Stimmen und Tönen genutzt wird.

12. Stock und es wechselt der Blickwinkel. Es wird nun die Kindheit des Prots ins Licht gerückt. Uralte Wurzeln für sein Verhalten werden aufgedeckt. In erster Linie soll wohl die spätere Lösung schon angedeutet werden. Doch man erkennt auch hier beiläufig schon ein annormales Verhalten: Auffälligkeiten des Prots, die niemand erklären kann.

Im 10. Stock springen wir in der Zeitebene. Wir sind nun wieder zurück im Präsens. Der Prot wirkt gehetzt, und doch scheinbar glücklich, denn das Ende, die Lösung der Probleme nähert sich.

Der 9. Stock lässt den Leser wieder zurück in die Kindheit springen. Und man erfährt, dass der Prot schon als Jugendlicher oft den Arzt besuchte. Für sich allein genommen, verdeutlicht dieser Abschnitt schon sehr gut die Eigenwilligkeit des Problems: Die anderen lassen sich von ihm anstecken, verführen. Eigentlich ist er doch unauffällig, und am Ende doch ungeliebt und allein. Wird hier vielleicht doch nicht über das Herunterspringen von Bäumen geredet?

7.Stock und man ist wieder zurück beim akuten Problem, dem Radio. Es quält nun den Prot. Die Therapien haben nichts bewirkt. Ständig ist es um ihn herum und bedudelt ihn. Damit übersteigt es ganz offensichtlich die physikalischen Fähigkeiten eines normalen Haushaltsgerätes. Es wird deutlich, dass das Radio zu einem metaphysichen Idee geworden ist, abgehoben von der normalen Welt und nur noch für den Prot sicht- und hörbar.

Die Spannung und die Geschwindigkeit nimmt im 4. Stock zu. Das Radio übertönt den Prot. Es wird lauter und einflussreicher. Ihm wird klar, dass ihm niemand mehr, kein Arzt und kein Radioreparateur helfen kann. Sein Radio ist nicht von dieser Welt.

Der 2. Stock ist die Ruhe vor dem Sturm. Der Moment des Verharrens.

Im 1.Stock erreicht man endlich das Ende der Geschichte. Es wird deutlich, dass man sich dabei nicht auf der Reise durch ein Treppenhaus einer beliebigen Mietskaserne befunden hat, sondern an ihrer Fassade vorbei gefallen ist. Der Tod des Prots bringt nun auch endlich das Verlöschen der Stimmen in seinem Kopf.


Alles in allem hat mir dein Text gut gefallen. Die Abschnitte über die Kindheit haben mich zwar anfangs verwirrt, doch ich hoffe, ich konnte sie sinnbringend miteinarbeiten in der Analyse.


mfg Hagen


PS: Deinen Kommentar zu Jo fand ich reichlich schnippisch. :confused: Immerhin ist seine Fage wirklich interessant. Vielleicht zwar nicht für dich, aber er ist der Leser, das Publikum, dass du ansprechen willst. Du solltest da doch schon mal drauf eingehen(, wenn du kannst).

 

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