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Mein Radio
19. Stock. Ich hatte im Radio gehört, hier sei eine Wohnung frei. Ich sah sie mir an und wurde Mieter. Einfach so. Kein Problem. Sie war ausreichend geräumig für mich und mein Radio, denn mit sonstigen Gütern war ich nicht gerade belastet. Im Radio hatten sie darauf hingewiesen, dass ein wichtiger Vorzug der Wohnung die großen Panoramafenster auf der Südseite seien. Sie waren wirklich riesig. Ein durchschnittlich gewachsener Mann konnte sich problemlos in den Fensterrahmen stellen und füllte ihn nicht ganz aus.
17. Stock. Mein Radio lief den ganzen Tag. Und die ganze Nacht. Entweder hörte ich Musik oder Stimmen, die mir über die aktuellen Ereignisse in der Welt, die mich umgibt, berichteten. Abends, in dem grauen, unwirklichen Moment bevor man einschläft, hatte ich oft den Eindruck, sie rufen meinen Namen. Ganz nah an meinem Ohr. Unbekannte Stimmen, die mir doch auf seltsame Weise vertraut erscheinen. War da nicht die Stimme meiner Mutter? Nur irgendwie anders. Oder einer meiner ehemaligen Arbeitskollegen, oder mein Cousin als Kind? Die freundliche Dame vom Arbeitsamt...
15. Stock. Ich überlege, wann ich eigentlich zum Radiohörer geworden bin. War es damals, als mich Sabine verließ? Ich hatte sicherlich ein Problem mit der plötzlichen Einsamkeit. Später wusste ich, dass jeder allein ist. Immer. Trösten konnte mich das nicht.
14. Stock. Später, als ich in der Klinik war haben sie es mir zeitweise abgeschaltet. Das Radio. Sie nannten es mein „Problem“. Es fehlte mir. Und auch wieder nicht. Oder doch?
12. Stock. Ich glaube, das alles fing schon viel früher an. Ich habe dunkle Erinnerungen an verwirrende Meldungen in meiner Kindheit. Ich war eins von diesen Kindern, das von überall runterspringen will und dann wegen einer Platzwunde oder eines Knochenbruchs behandelt werden muss. Erklären konnte sich das damals niemand. Ich konnte es auch nicht.
10. Stock. Noch ein paar Stockwerke, dann bin ich hier raus. Ich fühle mich federleicht.
9. Stock. Nicht nur ich musste damals oft zum Arzt. Auch einige meiner besten Freunde taten es. Ich hatte dann oft Ärger. Angeblich hatte ich sie auf die Idee gebracht. Mama verteidigte mich immer. Ich war doch so ein unauffälliges, stilles Kind. Ich hatte dann nicht mehr viele Freunde und bald gar keine mehr.
7. Stock. Tag und Nacht. Ununterbrochen. Seit ich denken kann. Egal, wo ich bin oder hin will. Ich hab es einfach dabei. Es ist immer bei mir. Natürlich auch jetzt. Es dudelt, plappert, ermahnt, kreischt und sagt mir, wie schön das Wetter heute werden wird. Ich soll zurück und den Sonnenschein an meinem geöffneten Panoramafenster genießen. Ich kann nicht zurück.
4. Stock. In letzter Zeit war das Radio oft unerträglich laut. Als ob sich der Lautstärkeregler von alleine bewegte, oder es die Wellen zwischen zwei Kanälen zwar verzerrt aber mit doppelter Intensität empfangen würde. Mir fällt niemand ein, der so was wirklich reparieren könnte. Ich muss da selber ran.
2. Stock. Stille. Ich genieße.
1. Stock. Durch den Aufschlag werde ich dieses verdammte Radio endlich abstellen.