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Meine liebste Oma

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19.04.2002
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Meine liebste Oma

Im Fernsehen lief meist Musikantenstadl. Die Lieblingssendung meiner Großeltern. Mein Großvater spielte leidenschaftlich Tuba und war Mitglied der Blaskapelle in unserer kleinen Zechensiedlung. Er ließ keine dieser Sendungen aus, die mir in meiner ganzen Jugend ein Graus waren. Auch meine Oma begeisterte der Musikantenstadl. Obwohl sie die Musik nicht einmal bei größter Lautstärke hören konnte. Sie war stark schwerhörig. Aber das Gefühl zählte. Mein Großvater konnte es hören. „Wem das nicht gefällt, der hat kein Herz“, war einer seiner Lieblingssätze. Abgewandelt hieß es: „Wem das nicht schmeckt, der hat kein Herz.“ Das sagte er häufig, wenn er lautstark Mark aus Knochen saugte, die er vorher sauber abgeknabbert hatte. Nicht, dass mich das geräuschvolle Schlürfen störte – ich kannte ihn beim Essen nicht anders als schmatzend, schlürfend. Ein Mann vom alten Schlage halt. Bauchfleisch mit Knoblauch gebraten. Sauer eingelegte Heringe. Rohes Ei mit Maggi. Das waren so seine Leibgerichte. Er mochte es deftig.

Das Küchenambiente passte zu meinen Großeltern. Es gab eine Eckbank aus dunklem Holz im Bauernhausstil und einen passenden Stuhl dazu, der allerdings nicht am Tisch stand sondern neben der Eckbank an der Wand. Er wurde nur von meiner Großmutter benutzt, wenn sie abends in der Küche saß und sich in der „Neuen Post“ oder dem „Goldenen Blatt“ über die Königshäuser der Welt informierte. Sie konnte dort stundenlang sitzen und unterbrach ihr Lesen nur hin und wieder, um ein kleines Stückchen ihrer heiß geliebten Schokolade zu essen. Sie genoss diesen kleinsten und einzigen Luxus, den sie sich vielleicht einmal in der Woche gönnte. Der Tisch war grundsätzlich mit einer dieser karierten, abwaschbaren Plastiktischdecken bedeckt. Merkwürdigerweise kann ich mich nur an Exemplare davon erinnern, die bereits durch zahlreiche Messerschnitte verunstaltet waren. Der Küchenschrank sah eher aus wie eine verirrte Wohnzimmerschrankwand im selben dunklen Bauernholz, zog sich komplett über zwei Wände bis zur Decke und dominierte die Küche. Zwischen Ober- und Unterschränken gab es die unvermeidlichen blau-weißen kleinen Fliesen. Meine Oma passte perfekt in diese Küche. Innerhalb des Hauses trug sie immer einen weißen Kittel – übersät mit Flecken vom Kochen und Putzen und dazu dunkelbraune Hausschuhe. Sie war ungefähr 1,60, was mir in der Kindheit ziemlich groß und später ziemlich klein vorkam. Auf ihrem Kopf herrschte fast immer ein Wirrwarr aus Haaren. Das fiel mir aber nur auf, weil sie mir nach dem obligatorischen Friseurbesuch vor Weihnachten, Hochzeiten oder anderen Großereignissen immer wie verkleidet vorkam.

Bei meiner Oma lebte ich, seit ich denken kann. Meine Eltern bewohnten in ihrem Haus zwei Zimmer unter dem Dach, aber die meiste Zeit verbrachte ich in dieser Küche. Da meine Eltern beide arbeiteten, war meine Oma die geliebte „Rundum-Betreuung“. Morgens um sechs kam sie vom Zeitung-Austragen nach Hause. Dann spielten wir in der Küche Karten, wobei sie, müde von der Arbeit, fast immer einschlief - wie sie mir Jahre später erzählte. Ich merkte davon natürlich nichts, spielte mit Begeisterung Mau Mau, gewann fast immer und war glücklich. Auch als meine Eltern später eine eigene Wohnung mieteten, änderte sich nicht wirklich etwas, weil wir nur ein paar hundert Meter weiter zogen. Ich muss ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern sich dann scheiden ließen. Vater erhielt das Sorgerecht – mein Zuhause aber blieb meine Oma. Direkt von der Schule fuhr ich immer zu ihr, bis mein Vater mich spät abends abholte.

Gegessen wurde natürlich auch in der Küche. Meine Großmutter saß allerdings selten mit am Tisch. „Ich bin immer schon vom Kochen satt.“ So stand sie bei den Töpfen oder wusch das erste Geschirr ab, während wir es uns noch schmecken ließen. Wenn mein Großvater dann einen Nachschlag haben wollte, klatschte er mehrmals mit der flachen Hand auf den Tisch. Dieses Geräusch war laut genug für meine Oma. „Jaa, was ist denn“, schimpfte sie dann und drehte sich um, als ob es völlig unverständlich sei, dass hier jemand so einen Krach macht. Haben Sie schon einmal mit einem schwerhörigen Menschen gesprochen? Man hebt automatisch die Stimme, was nicht viel bringt, wenn sie so wenig hören, dass das Gesprochene eher Geräusch bleibt. Das meiste las meine Oma von den Lippen ab - „Oomaa, waas giibt es heeuute zuu eesseeen?“ - und aus fast unbewussten Handbewegungen, die mir in frühen Kinderjahren ebenso vertraut wurden wie das Reden. Innerhalb einer Familie entwickeln sich ganz eigene Zeichen.

Meinen Großvater mochte ich nicht sonderlich. Ich war eher ein sanftes Kind. Wenn er betrunken war, hasste und fürchtete ich ihn. Sonntag morgens probte er mit seinen Kollegen der Blaskapelle. Das hieß eine Stunde üben und zwei Stunden saufen. Mittags kam er dann abgefüllt nach Hause. Immer schlecht gelaunt. Soweit ich mich erinnern kann, schlug er mich nie. Aber sein pure Art machte mir Angst. Sein grobschlächtiges Äußeres und seine riesigen Pranken - an einer Hand fehlten seit dem Krieg zwei Finger, was es für mich noch gruseliger machte. Sein Stolz auf seine Zeit als Soldat. Seine Art mich anzusehen, wenn er betrunken war. Seine laute harte Stimme oder sein betrunkenes genuscheltes „Was ist, was ist, was ist“. Meine Oma versuchte dann immer, mich aus der Schusslinie zu nehmen: „Komm Junge, iss im Wohnzimmer“, sagte sie, während mein Großvater gerade mit seinen benebelten Gedanken beschäftigt war. Wenn es gut ging, lag er dann eine halbe Stunde später im Bett. Satt und voll. „Er schläft, Gott sei dank“, eröffnete meine Oma dann verschwörerisch den angenehmen Teil des Tages. Nachmittags war er wieder ausgenüchtert, erträglich und meist schaute er eine halbe Stunde mit mir mein Programm, bevor er wortlos umschaltete, um sich irgendeinen Tierfilm - die einzige akzeptable Alternative zu Blasmusik - anzusehen. Meiner Großmuter gegenüber wurde er häufiger laut, und einige wenige Male schlug er sie auch. Nicht oft, aber die Bilder brannten sich mir ein, weil sie mich vor allem in meiner Hilflosigkeit so zornig machten. Meine Großmutter war heilig, und ich wünschte mir als Kind wie als Jugendlicher oft, es gäbe ihn gar nicht mehr.

Zu den Lieblingsmomenten meiner Kindheit gehörte der tägliche Weg in den Keller. Das einzige WC im Haus lag dort. Auf ihrem Rücken trug mich meine Oma jeden Tag die Kellertreppe rauf und runter. „Wie lange ich Dich wohl noch so tragen werde?“, fragte sie zum Spaß. Mir gefiel es, und ich fühlte mich wunderbar. Zu der Zeit durfte ich selbst nicht laufen. Zumindest nicht richtig. Mit sieben Jahren wurde eine Hüftkrankheit bei mir diagnostiziert, die zwei Operationen notwendig machte. Und für die folgenden Jahre durfte ich nur mit einer Eisenschiene laufen. Die Schiene war etwas länger als mein Bein und wurde an meiner Hüfte mit einem breiten Lederriemen befestigt, so dass die beiden Eisenstangen bis einige Zentimeter unter meinen Fuß reichten. Mein Bein hing also in der Schiene und wurde nicht belastet. Zum Ausgleich trug ich an dem anderen Fuß einen Schuh mit 15-Zentimeter-Absatz. Sobald ich zuhause war, machte ich das Ding ab und robbte auf dem Hintern durch die Wohnung oder hüpfte auf einem Bein – beides allerdings mit beeindruckender Geschwindigkeit. Oder ich ließ mich von meiner Oma in den Keller tragen.

Natürlich gab es Kinder, die mich mit meiner Schiene hänselten. Klick-Bum war ein Spitzname. Klick für das Geräusch der Schiene, Bum für den Schuh mit Absatz. Aber das war die Ausnahme. Es gab eigentlich nichts, was nicht ging. Beim Rollhockey – das war mal eine zeitlang mega in, als die Skateroller Ende der Siebziger aufkamen – stand ich zwar im provisorischen Tor. Aber ich war dabei. Bei Fahrradjagd spielte ich immer auf einem der Gepäckträger mit, wobei ich mich nicht daran erinnern kann, dass es Diskussionen gab, wer mich transportieren musste. Zu zweit durch die umliegenden Wälder zu fahren, war viel spannender. Wenn ein Jäger uns sah, raste mein Fahrer um die nächste Ecke, ich versteckte mich irgendwo im Gebüsch, während er alleine die Flucht ergriff und mich später wieder abholte. Auch wenn wir uns mit imaginären Pistolen als Agenten in irgendwelchen Schlammlöchern oder Bergen frischer Erde von Baustellen erschossen, konnte ich mindestens genauso theatralisch sterben wie jeder andere auch. Beim Fußball war ich gefürchteter Abwehrspieler. Allerdings bin ich mir bis heute nicht sicher, ob das an meiner fußballerischen Leistung lag oder an der Angst der Gegner, von dem Riesenabsatz getroffen zu werden. Oder so: Jahre später gestand mir ein Freund, er wäre in Zweikämpfen immer etwas langsamer gelaufen. Damit ich ihn noch rechtzeitig erreichte.

So lebte ich gut mit dieser Behinderung – auch wenn sich zwei Mal pro Jahr das selbe traurige Schauspiel wiederholte: Im Krankenhaus untersuchten die Ärzte, ob meine Hüfte schon wieder voll belastbar wäre. Meine Oma erwartete mich und meine Mutter schon vor der Tür, wenn wir aus dem Krankenhaus zurück kamen. Ihr Blick war noch trauriger als meiner, wenn sie sah, dass die Schiene noch mein Bein stützte. „Bestimmt aber beim nächsten Mal“, sagte sie dann. Ich weiß nicht, wer am meisten befreit wurde, als das Ding nach fünf Jahren nicht mehr notwendig war.

Kinder spüren Liebe eher unbewusst. Das messbare Glück drückt sich vordergründig in monetärer und natureller Versorgung aus. „Haast duu maal zwaanziig Pfeeniig?“, hieß es mit sieben Jahren, wenn ich mir ein Eis kaufen wollte. Natürlich blieben meine Bitten nie ungehört. Es war immer dasselbe Ritual in all den Jahren. Ich fragte mit wahlweise flehendem oder verzweifelten Blick, sie ging ins Schlafzimmer, holte ihre Geldkassette heraus, die irgendwo zwischen der Wäsche versteckt war, schloss sie auf und gab mir das Geld. Meine Gegenleistungen begannen erst mit 14, nachdem ich meine Schiene los war, und waren bescheiden: Einmal pro Woche wollte meine Oma ein, zwei Flaschen Bier trinken, die ich ihr holen durfte. Ich schwang mich auf ihr altes Hollandfahrrad - eine dieser typischen Großmutter-Einkaufs-Ledertaschen hinten in einem Korb, der den Gepäckträger ersetzte - und radelte den Kilometer bis zum nächsten Kiosk. Dabei war ich immer auf der Hut, nicht von meinen Freunden gesehen zu werden in dieser für einen Jugendlichen sehr lächerlichen Konstellation.

Bis ich 14 Jahre war, schlief ich auch bei meinen Großeltern im Bett. Auf der Seite meiner Oma natürlich. Am schönsten war es, wenn mein Großvater auf der Terrasse übernachtete, was er im Sommer häufig und manchmal auch im Winter tat: „Der Körper muss warm, der Kopf muss kalt und frisch sein.“ Ich erinnere mich an eine Nacht - damals muss ich ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein - in der meine Oma und ich lange wach waren. Wir sprachen über Heiraten, Hochzeit und Ehe. Sie erzählte mir, dass auf der Innenseite des Ringes das Datum ihrer Hochzeit eingraviert war. Und um es mir zu zeigen, nahm sie den Ring ab. Zum ersten Mal nach 30 Jahren. Es dauerte lang bis sie ihn abziehen konnte, und es war für mich unfassbar und faszinierend, dass er so lange fest auf diesem Finger saß und ich ihn jetzt als erster in der Hand halten durfte.

Am schrecklichsten war es hingegen, wenn mein Großvater mit im Bett schlief, Sonntag morgens um fünf Uhr wach wurde und sein Radio im Schlafzimmer anmachte. Blasmusik natürlich. Irre laut. Ich habe mir dabei die bis heute beibehaltene Gewohnheit zugezogen, nicht nur mit einem Kissen unter meinem Kopf sondern auch mit einem darüber zu schlafen. Diese Art der musikalischen Folter wurde nur einmal im Jahr überboten. Am 1. Mai. Gab es in Ihrer Jugend auch den Brauch, in den 1. Mai hinein zu feiern, beziehungsweise sich hinein zu be-trinken? Unsere Clique hat das immer kräftig ausgelebt. Bis morgens um vier, fünf Uhr wurde das schöne Maibock-Bier getrunken, erst dann ging es schwankend ins Bett. Gibt es bei Ihnen auch den Brauch der Musikkapellen am Morgen des 1. Mai? So zwischen sieben und acht Uhr zog die Blaskapelle der Siedlung mindestens dreimal mit vollem Getöse am Schlafzimmerfenster meiner Großeltern vorbei. Jedes Jahr starb ich denselben Tod, wenn dieser unglaubliche Krach mich aus den ersten zwei, drei Stunden meines Schlafes weckte. Die Tuba meines Großvaters dröhnte mir dabei besonders in den Ohren.

Auch während meiner Studentenzeit blieb meine Großmutter Anlaufstation Nummer 1. Ich schlief jetzt auf dem Sofa im Wohnzimmer, wenn ich aus dem 50 Kilometer entfernten Studienort am Wochenende nach Hause kam. Bis ich irgendwann einen Schlüssel vom Haus erhielt – mein Großvater war da immer sehr eigen – musste ich mich ganz an den Rand der kleinen Außentreppe vor der Haustür stellen, mich mit einer Hand festhalten und dann an der Wand entlang hangeln, um mit der anderen Hand fest an das kleine Küchenfenster zu klopfen. Dies war die einzige Möglichkeit, dass mich meine Oma in der Küche hörte und mir öffnete. Gott sei Dank saß sie meistens dort bei ihren Zeitschriften. Dann folgte unser Begrüßungsritual: „Hallo, mein liebster Michi.“
„Hallo meine liebste Oma.“ Das änderte sich auch mit den Jahren nie. Sonntagnachmittags fragte sie immer in genau dem selben Tonfall: „Michi, wann kommst du wieder?“
„Nächstes Wochenende“, lautete die prompte Antwort. Rituale gab es auch beim Abschied. Wenn ich auf dem Bürgersteig in Richtung Busstation ging, tauchte sie am Schlafzimmerfenster auf und winkte mir bis ich um die Ecke bog. Eigentlich veränderten sich im Laufe der Zeit die wenigsten Dinge zwischen mir und meiner Oma. Nur die Geldbeträge, die ich von ihr erflehte, stiegen bis auf 100 Mark, wenn ich besonders klamm war.

Mit zunehmendem Alter fragte ich aber auch häufiger, was ich ihr denn kaufen könnte, wenn ich einmal viel Geld verdiente. „Du kannst mir dann mal eine Tafel Schokolade mitbringen“, lautete ihre stete Antwort. Meine Großeltern gaben kaum Geld aus. Die Erfahrungen des Krieges, aber auch eines Lebens mit vier Kindern und dem kargen Lohn eines Bergmannes saßen so tief, dass auch nun, wo etwas mehr Geld da war, eisern gespart wurde. Ich glaubte, meine Oma hätte sich etwas mehr geleistet – aber mein Großvater hatte es verboten. Häufig dachte ich, es würde meiner Oma und uns allen besser gehen, wenn es meinen Großvater nicht gäbe.

So sah ich es auch eher mit gemischten Gefühlen, als er an Krebs erkrankte. Ein Jahr dauerte es nach der ersten Diagnose bis er starb. Nur einmal tat er mir wirklich leid, der Mann, der immer so stolz war auf seine Kraft und Stärke: Ich kam ins Schlafzimmer und er fragte mich, ob ich ihm seine Krücke ans Bett geben könnte, die er mittlerweile zum Gehen brauchte. Ich reichte sie ihm, und ohne ein Wort zu sagen, stemmte er sich mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war, aus dem Bett, hielt sich mühsam aufrecht und hinkte langsam in Richtung Keller. Als er dann nicht einmal mehr den Gang hinunter zur Toilette schaffte, sondern mit einer Glasflasche und einer Pfanne versorgt werden musste, war es auch mit seinem Lebenswillen vorbei. Später habe ich innerlich meinen Frieden mit ihm gemacht, ihn sogar hin und wieder vermisst. Menschen werden von ihrer Zeit, ihrer Erziehung und Umgebung zu dem gemacht, was sie schließlich sind. Und viele Szenen, die mich heute lächeln lassen, ängstigen Kinder und auch Jugendliche, die sich ihrer Selbst noch nicht sicher sind.

Damals freute mich sein Tod für meine Oma – auch wenn mir ihre Trauer nicht verborgen blieb. Als wir ihn beerdigt hatten, gab es Vieles, was endlich möglich war. Ich scherzte mit ihr über eine WG, die wir zusammen mit meinem Patenkind und ihrer Enkelin machen könnten. Meine Mutter plante mit ihr Reisen in ihre Heimat Rumänien. Sie war nie allein, da mein Onkel mit seiner Familie inzwischen in ihrem Haus wohnte. Die Enkelkinder lebten viel lieber mit der Oma als mit dem strengen Großvater. Ich besuchte sie wie eh und je.

Aber schon ein halbes Jahr später war es auch bei ihr soweit: Von Krebs zerfressen. Noch sechs Monate vielleicht. Es sollten nur acht Wochen werden. „Ich gehe zu Opa“, sagte sie.

Irgendwann durfte sie aus der Klinik heraus und nach Hause, um hier die letzten Wochen zu leben. Eines Montagmorgens saßen wir noch bei einem Kaffee, bevor ich zur Uni fuhr.
„Bis zum nächsten Wochenende, Oma“, sagte ich.
„Wenn ich dann noch da bin.“
„Sicher bist du das.“
„Ich glaube nicht.“

„Du bist meine liebste Oma.“
„Und Du bist mein liebster Michi.“

Ich schulterte meinen Rucksack mit der frischen Wäsche und schloss die Haustür hinter mir. Sie ging ans Schlafzimmerfenster, schob den Vorhang beiseite und winkte mir. Ich drehte mich um. Sah sie dort stehen. Erstaunlich wie scharf und klar manche Bilder auch nach vielen Jahren noch vor dem geistigen Auge leben. Dann ging ich weiter und bog um die Ecke.

Donnerstag morgens endete meine Uni-Woche, als meine Mutter anrief. Meine Großmutter lag seit der vergangenen Nacht wieder im Krankenhaus. Sonntags schon war sie nur noch in wenigen Momenten wach und konnte kaum erkennen, wer bei ihr war. Gegen neun Uhr abends fuhr ich zu ihr, setzte mich an ihr Bett und hielt ihre Hand. Sie schlief oder lag im Koma. Draußen verabschiedete sich der Tag. Im Zimmer brannte kein Lampe, so dass es um mich herum von Minute zu Minute dunkler wurde. Ich saß bei ihr, dachte an viele gemeinsame Erlebnisse, wischte ihre Stirn mit einem feuchten hellgrünen Waschlappen, der das einzige leise Geräusch verursachte. Ich dankte ihr im Geiste für Vieles und für das Wichtigste, was ich je gelernt hatte, ohne dass sie es jemals ausgesprochen hätte: Menschen zu lieben und ihnen zu geben, ohne an das Nehmen zu denken. Ich spürte den Unterschied in meinen Gefühlen zu ihr und zu anderen Menschen. Ich liebte auch andere – aber nur diese eine Liebe war bedingungs-los. Ich fing leise an zu weinen, drückte ihre Hand. Sie öffnete die Augen nicht, regte sich nicht, aber ich spürte wie sie für einen Moment leicht den Druck ihrer Finger verstärkte. Ich lächelte wieder etwas, nahm ihre Hand fest in meine und fühlte in diesem einen Moment Unbeschreibliches. Dann kam ich ihr zuvor und verließ das Krankenhaus.

Einige Wochen später machte ich einen dieser langen Spaziergänge, auf denen ich meinen Gedanken völlig freien Lauf lassen kann. Während ich durch kleine Straßen ging, Schulhöfe und öffentliche Plätze überquerte, aber nichts um mich herum wahrnahm, spürte ich, dass sie in mir noch sehr lebendig war. Ich hatte den wichtigsten Menschen verloren. Aber ich hatte auch die Gewissheit: Das Gefühl der Liebe zu ihr war mir nicht zu nehmen.

Trauer habe ich nach diesem Spaziergang nie wieder gefühlt. Nur Dankbarkeit und Liebe. Heute muss ich fast immer lächeln, wenn ich meine Oma im Geiste vor mir sehe. Meine Tochter wird so heißen wie sie. Katharina. Nur manchmal überkommt mich etwas Melancholie, wenn ich daran denke, wie gerne ich ihr heute die versprochene Tafel Schokolade schenken würde.

 

Oder ganz verschlüsselt:

Liebe ist süßbraun und etwas bitter


FLoH.

 

So, vielen Dank für die zahlreichen Überschriftenvorschläge - Ihr seid jetzt alle in meiner PM-Liste, die vor jeden neuen Geschichte aktiviert wird, falls ich mal wieder nach einer Überschrift suche..:D

Habe mich jetzt für "Meine liebste Oma" entschieden - weil sie ähnlich unaufgeregt daher kommt wie "Oma", was mir sehr wichtig ist. Die Schokolade wollte ich dann doch nicht im Titel haben, da sie zwar in gewisser Weise den Rahmen und Schluss der Story bildet, aber der Leser nicht unbedingt schon beim ersten "Auftritt" der Schokolade wissen muss, dass es damit etwas besonderes auf sich hat - ich finde, der Schluß funktioniert besser, wenn die Schokolade vorher als Nebensache dargestellt wird.

Trotzdem bin ich Nyx Vorschlag gefolgt und habe die Schokolade schon früher ins Spiel gebracht - um ihr mehr eine Rahmenfunktion zu geben.

Vielen dank für Eure vielen Gedanken.

Liebe Grüße Streicher

 

Allerdings musst Du den Mods Bescheid sagen, damit sie Deinen Titel auch in der Datenbank ändern. Bis jetzt ist die Änderung ja nur beitragsbezogen.

FLoH.

 

danke dir floh, hab schon bescheid gesagt - ist ja sonntag morgen..

;)

viele grüße, streicher

 

Hi Streicher,
hey, da bin ich ja richtig stolz, dass Deine Wahl auf einen von meinen Überschriftenvorschlägen fiel! :cool:

Und ich finde die Lösung mit der Schokolade jetzt auch besser. Ich finde auch nicht, dass sie unbedingt ganz vorne erwähnt werden muss. So wie du es gemacht hast, ist es schon okay. :)

Liebe Grüße und frohes Schaffen!
Nyx

 

Hi Nyx,

dann sind wir ja beide zufrieden...:)

apropos fohes schaffen: jetzt hoffe ich, dass du bald mit deiner zweiten Geschichte ums Eck kommst - die erste ist ja schon reichlich besprochen - damit ich auch mal was zu lesen habe......:D

liebe grüße, streicher

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Marius,

erst einmal vielen Dank für deine ausführlichen Bemühungen - das sieht man ja nicht oft. und es ist immer schön, wenn versunkene geschichten geborgen werden...

Zu deinen stilistischen Anmerkungen: Einige wenige davon gefallen mir, die meisten leider nicht, weil sie mir Atmosphäre und Stimmung nehmen - aber stilistisch nicht viel bringen - mal ein Beispiel:

"Kinder spüren Liebe eher unbewusst. Das messbare Glück drückt sich (ihnen) vordergründig (manchmal) in monetärer (pekuniärer) und natureller Versorgung aus. „Haast duu maal zwaanziig Pfeeniig?“, hieß es (fragte ich) mit sieben Jahren, wenn ich mir ein Eis kaufen wollte."

ich brauche hier in diesem Satz weder das "Ihnen" noch ein "manchmal", der Leser weiß über wen ich schreibe und es ist jedem klar, dass es ausnahmen geben mag. also unnütz, also streichen. Ähnliches gilt für die folgende Anmerkung "fragte ich" - nein, denn in "hieß es" steckt weit mehr inhalt, drückt sich das thema Ritual aus, das sich durch die ganze geschichte zieht.

Gleiches gilt für umgangssprachliche ausdrücke, die zum kind ebenso wie zur sehr einfach gestrickten oma und damit zur geschichte passen. Viele deiner Anmerkungen sind akzeptable stilistische Alternativen - die mir aber zuviel Leben aus der Story nehmen...

In der bestehenden Form wimmelt Deine Geschichte von zu viel Unumsichtigkeit, z.B. in Sachen Interpretation, Doppeldeutigkeit und Zielrichtung.

Diese Anmerkung kann ich ebenfalls nicht bestätigen- die Interpretation der geschichte ist eindeutig - exakte, eindeutige formulierungen überlasse ich den textern von gebrauchsanweisungen oder meiner beruflichen zeit mit pressemitteilungen und lageberichten.. und vermittele in geschichten wie dieser lieber ein gefühl mit meiner Sprache... und dieses gefühl, diese atmosphäre ist mir - glaube ich - hier recht gut gelungen.. ich denke, um dies zu verstehen, kannst du die geschichte ruhig noch ein, zweimal lesen - vielleicht ohne stift in der hand oder fingern an der tastatur... es kann dich nur weiter bringen..

Dieser Satz ist zu zerstörerisch. Du wirkst in Anbetracht Deiner erzählerischen Fehler selbst noch sehr unsicher

verzeih, wenn ich hier etwas lächeln musste - und wenn ich mich da vielleicht eher an die ein oder andere kritik halte...derartig pauschale kommentare sind sowieso schwer zu beantworten...kurze anmerkung dazu: erzählen und leser "berühren" ist mehr als Exaktheit..

Wenn Du die Geschichte nicht nochmals überarbeitest, geht diese Form der "(H)Oma-ge" nach hinten los.

auch hier gilt: bisher gehörst du zu den wenigen ausnahmen, die diese hommage (besser mit zwei "m") nicht erreichte...das ist schade.. aber ich kann es ja nie allen recht machen..auch wenn ich es mir wünsche..vielleicht solltest du an deinem kritikstil, dann noch etwas in richtung "denke ich" feilen...feilen liegt dir ja..

natürlich trotzdem noch einmal vielen dank für deine bemühungen - ich werde sicher beizeiten ein paar (wirklich gelungene) anmerkungen übernehmen...

ebenfalls lg streicher

PS: zur titelwahl empfehle ich das studium der anderen beiträge...aber "ich" ist nun wirklich nicht hauptperson - mögen ihn noch soviele zeilen text beschreiben - auch eine sache des gefühls..

 

@MM - ich glaube alles per PM geklärt..

@wippi - danke, freut mich, wenn sie dir gefallen hat

viele grüße, streicher :)

 

Jetzt war ich länger nicht da, schau mal wieder rein, such meinen Lieblingsautor ;) ..... und bin wieder mal zutiefst beeindruckt.

Deine Geschichte ist für mich vom ersten bis zum letzten Satz nachvollziehbar; sie fasziniert durch ihre Einfachheit und durch ihre Echtheit - danke dafür!

 

hi rosanna,
vielen dank für das tolle kompliment - freut mich sehr.. fast so sehr, wie dass dir die geschichte so gut gefallen hat...

lg, streicher

 

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