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Meine Lisbeth

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17.10.2004
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Meine Lisbeth

Da verlangen Sie aber was von mir! Junger Mann, ich bin über achtzig Jahre alt, wie soll ich mich da kurz fassen?
Also, Sie wollen wissen, wieso ich jeden Morgen zwei Polster aus dem Schuppen hole und mich dennoch immer allein in den Garten setze, hab ich das richtig verstanden? Nun, man weiß nie, wann man Besuch bekommt. Sie lächeln? Haben Sie etwa Angst, meine Geschichte könnte vorbei sein, ehe sie überhaupt angefangen hat? Tja, dann lächele ich fein zurück und spanne Sie ein wenig länger auf die Folter.
Gut, gut, das soll reichen. Sie haben natürlich recht. Das ist nicht der Grund. Welch einsamer Hund ich wäre, wenn das stimmte! Aber so ist es nicht. Ich lebe zwar schon seit Jahren allein in diesem großen, alten Haus, aber einsam? Nein, einsam bin ich nicht. Bei Gott, ich habe mir immer gesagt, einsam ist der, der sich nicht zu beschäftigen weiß. Aber sehen Sie, ich gehe jeden Tag meine Runde im Dorf, ich lese viel, nicht nur das Försterhausener Heimatblatt. Ich habe eine ganze Bibliothek in meinem Haus. Da finde ich immer was, das ich noch nicht gelesen habe. Neulich entdeckte ich ein kleines Büchlein von Samuel Chapuis. Christ ging vorüber. So lautet der Titel. Das ist ein richtiges Kleinod. Ich habe keine Ahnung, woher ich dies Büchlein habe, aber es steht dem kleinen Prinzen in nichts nach. Den kleinen Prinzen kennen Sie, oder? Sie haben studiert, junger Mann, den müssen Sie kennen. Ah ja, dann bin ich ja beruhigt. Jedenfalls ist das Buch von Chapuis auch eine Perle der Literatur. Aber kennen Sie die? Sie brauchen gar nicht so verlegen in meine Beete zu schauen, die werden Ihnen die Antwort auch nicht zuflüstern. Sie haben doch studiert! Literatur, wie ich meine. Und da haben Ihre Professoren Ihnen nichts von diesem Büchlein erzählt? Na, soll mir egal sein, ich habe es Ihnen ja jetzt gesagt.
Ich wollte Ihnen von Lisbeth erzählen, richtig? Ach, das habe ich noch gar nicht gesagt? Also, es hat was mit meiner Lisbeth zu tun, dass ich immer zwei Stühle beziehe. Wie Sie sehen, hat es sich heute auch gelohnt. Sie sitzen auf dem zweiten Stuhl. Ja, da lachen Sie, aber lassen Sie es sich gesagt sein: Man weiß nie, ob man Besuch bekommt. Schon gar nicht an einem solch schönen Tag wie heute. Ehe man sich versieht klopft es an der Tür und schwups, schon steht jemand vor Ihnen, der ein Interview mit Ihnen machen will. Das ist mir zwar heute zum ersten Mal passiert, aber ich bin kein Miesepeter. Sie gehen Ihrem Beruf nach, ich meiner Redseligkeit. Das passt doch hervorragend. Sie drücken den Knopf an Ihrem Aufnahmegerät, stellen ein paar Fragen und ich erzähle, und schon sind wir beide zufrieden. Wer will sich da schon beschweren? Ich sehe Ihnen an, dass es Ihnen auf der Zunge liegt, genau das jetzt zu tun, weil ich nicht auf den Punkt komme. Nicht wahr? Ja, werden Sie erst einmal achtzig Jahre alt, dann wissen Sie genau, was Ihre Mitmenschen denken und sagen wollen. Wollen Sie eigentlich etwas trinken? Nein, also gut. Meine Lisbeth. Ich habe sie kennen gelernt, da war ich dreizehn Jahre alt. Es war keine Liebe auf den ersten Blick. An so etwas glaube ich nicht. Das ist was für Romantiker und für solche, die keine Zeit und Lust haben, sich ernsthaft auf Partnersuche zu begeben. Das klingt unfair? Nein, glauben Sie mir: Liebe auf den ersten Blick ist ganz und gar unmöglich. Man fühlt sich vom anderen vielleicht sexuell angezogen, aber das ist doch keine Liebe! Mein junger Herr, so etwas lernen Sie also auf der Uni? Aber warum werden Sie jetzt rot? Weil ich in meinem Alter von Sex rede? Ja, meinen Sie, ich war nicht auch mal jung und hatte Wünsche und Träume? Das muss Ihnen nicht peinlich sein, ich dachte auch immer, ich werde nicht älter. Aber plötzlich schaut man in den Spiegel und denkt sich: Mein lieber Herr Gesangsverein, da hat der Herrgott dir aber einen üblen Streich gespielt. Im Herzen kann man jung bleiben, aber der Körper macht da nicht mit. Auch wenn heutzutage alles wie blind dem Jugendwahn hinterherläuft. Mit den ganzen Operationen und Muckibuden und fettfreien Lebensmitteln und dem ganzen Schmarren. Auch damit werdet ihr alle sterben. Vielleicht seht ihr dann nicht aus wie achtzig, wenn ihr es überhaupt werdet. Aber eure Knochen werden auch wehtun, euer Gehirn wird langsamer, und dann sterbt ihr achtzigjährig und habt ein Gesicht, als seid ihr erst fünfundsiebzig. Und dafür der ganze Aufwand? Da hätte ich an eurer Stelle aber besseres zu tun, glauben Sie mir.
Also, Liebe auf den ersten Blick, nein, so etwas war es bei mir und Lisbeth nicht. Sie war in den Sommerferien 1933 mit ihren Eltern nach Försterhausen gezogen. Als ich sie das erste Mal sah, trug sie ein blaues Blümchenkleid. Ich habe es noch genau vor Augen. Es reichte ihr bis über die Knie und war so blau wie der Himmel an jenem Morgen. Weiße und gelbe Blüten waren zu einem Potpourri darüber verstreut und es sah einfach himmlisch aus. Ihre Augen, ebenfalls ein Spiegel des Himmels, strahlten hell in das warme, staubige Klassenzimmer. Herr Wannicke stellte sie uns vor. Darf ich euch mit eurer neuen Mitschülerin Elisabeth Schneider bekannt machen? Sie wird ab heute mit euch die siebte Klasse der Adolf von der Mark Volksschule besuchen und mit euch den Abschluss anstreben. Also, seid nett zu ihr. Das hätte er nicht sagen müssen. Die Blicke all der rauffreudigen Jungens in der Klasse sprachen Bände. Herr Wannicke wies ihr den Platz direkt neben meinem zu. Die anderen Jungs straften mich mit funkelnden Augen. Aber das war mir egal. Mein Herz pochte schneller, als sie mich anlächelte und sich neben mich setzte. Sie stellte ihre Tasche neben den Stuhl und legte ihre gefalteten Hände auf das Holzpult. Sie sah so aus wie die Mutter Gottes höchstpersönlich.
Sie grinsen mich schon die ganze Zeit über so an. Sie glauben jetzt sicherlich, dass ich sehr wohl in sie verliebt war. Verliebt vom ersten Augenblick an. Wenn Sie das schon als Liebe bezeichnen, dann tun Sie mir Leid. Gemessen an dem, wie wir uns liebten, als wir uns neun Jahre später in der St. Malois Kirche trauen ließen, war das keine Liebe. Es war eine Faszination, dass ein Mensch so hübsch sein konnte. Nicht mehr, nicht weniger. Und ich hoffe für Sie, dass, wenn Sie einer jungen Frau begegnen, nicht gleich von Liebe sprechen, wenn Sie Ihnen gefällt. Das kann unnötigen Kummer für beide bedeuten. Glauben Sie mir das.
Da saß nun also die kleine Elisabeth neben mir. So schön wie ein neuer Morgen, wenn die Sonne über taubedeckte Wiesen aufgeht. Lachen Sie nur, Sie werden schon noch sehen, was wahre Liebe bedeutet. Ein Sonnenaufgang macht noch keinen herrlichen Tag. Wenn Sie verstehen was ich meine. Und so war es denn auch, dass ich die ersten Wochen und Monate einfach nur hoffnungslos vor mich hinträumte. Doch dunkle Wolken zogen auf, als der blöde Peter sie in der Pause einmal küsste. Sie scheuerte ihm eine, was sie in meinen Augen noch traumhafter werden ließ. Dem Peter hätte ich zumindest keine verpasst. Er hat mich natürlich nie geküsst, aber selbst wenn, vom Peter ließen alle die Finger. Auch zu zweit war bei im nicht viel zu machen. Er war einen Kopf größer als wir und mindestens dreißig Kilo schwerer. Ein Mordskerl. Er ist im Krieg gefallen, wie viele aus meiner Klasse. Aber als er Lisbeth auf dem Schulhof küsste, war er noch putzmunter und ein unverschämter Lümmel. Und als Lisbeth ihm eine Ohrfeige verpasste, waren auch die vorher etwas zurückhaltenden Mädchen unserer Klasse von ihr angetan.
Sie freundete sich mit den Naderhofmädchen an. Deren Vater gehörte die Schneiderei am Marktplatz. Die war direkt neben der Metzgerei Bomke. Wissen Sie, wo ich meine? Gut, jedenfalls waren die Naderhofmädchen die Anführerinnen der Mädchenbande. Wenn etwas in der Klasse angesagt war, dann waren sie es, die beschlossen, was das war. Das machte es für mich und meinen Träumen natürlich noch schwerer, da sie somit unerreichbar wurde. Niemand mit diesem Status wollte etwas von einem kleinen Waschlappen wie mir wissen. So war es dann auch, dass sie ein Jahr, nachdem sie den ersten Fuß in meine kleine Welt setzte, mit Willi ging. Sie hielten Händchen in den Pausen und schrieben sich kleine Briefchen. Was hab ich den Kerl gehasst! In Gedanken stellte ich mir vor, wie ich ihn, na, das sage ich jetzt lieber nicht, sonst bringen Sie das auch noch in Ihrem Artikel. Also, ich war sehr unzufrieden mit der Situation. Hört sich das blöd an? Dann streichen Sie es, und schreiben stattdessen, ich war todunglücklich, wann immer ich die beiden zusammen sah. Und das war in einem Nest wie Försterhausen leider nicht sehr selten. Aber eines Tages waren die beiden nicht mehr zusammen. Peter erzählte, dass Willi zu weit gegangen war. Ich hatte keine Ahnung, was er damit gemeint haben konnte. Aber die Tatsache, dass Lisbeth mit etwas nicht einverstanden war, das Willi getan hatte, machte mich wütend. Zugleich witterte ich aber auch meine Chance. Meine kleine, bescheidene Chance. Also schrieb ich ihr einen kleinen Zettel, und fragte sie, ob sie schon mal etwas von dem Hexenhaus gehört hatte. Sie glauben nicht, dass es ein Hexenhaus ist, nicht wahr? Aber erstens: Sie haben nicht die leiseste Ahnung, was dort alles vorgefallen ist, und zweitens: Es war die einzige Idee, die ich hatte. Und es funktionierte. Ja, machen Sie ruhig große Augen. In einer Zeit, wo es kein Fernsehen gab, und Autoren wie Stephen King, jaha, den kenne ich. Nur vom Hörensagen, aber was mein Enkel mir über diesen Amerikaner alles erzählt hat, reicht mir, um diesen Vergleich aufstellen zu können. In unserer Jugend war es noch unheimlich, sich einem uralten, dem Anschein nach verlassenen Haus zu nähern. Vor allem, wenn es immer wieder seltsame Geschichten über dieses Haus zu berichten gab. Wissen Sie, welches Haus ich überhaupt meine? Es ist nur ein paar hundert Meter von hier entfernt. Es steht immer noch, auch wenn es mittlerweile wirklich unbewohnt ist. Vorn am Ginsterweg, das Haus mit dem Schieferdach und den zwei kleinen Dachgauben. Aber was erzähle ich Ihnen das so genau. Es steht ja eh nur ein Haus auf dem Ginsterweg.
Jedenfalls gab mir Lisbeth den Zettel zurück und, ich lüge nicht, wenn ich das jetzt so melodramatisch schildere, und ich hörte Engel singen, so froh war ich. Ich dankte dem Himmel für dieses kleine „Na gut“, das sie mir zurück schrieb. Nach der Schule trafen wir uns am Ausgang, erst waren wir beide etwas verlegen, warteten darauf, dass alle das Gebäude verließen, und schließlich lächelte sie mich an und sagte, dass sie ganz aufgeregt wär‘. Ich wollte ihre Hand nehmen und mit ihr hinaus in den Sommer springen, so wie ich es mir immer ausgemalt hatte, aber dafür war ich viel zu schüchtern. Ich sagte trocken, fast schon so, als wäre es nicht meine, sondern ihre Idee gewesen, dass sie mir dann folgen sollte.
Nun, am Haus selbst passierte an diesem Tag nichts, was zu erzählen wert wäre. Aber der Tag mit ihr war mit dem Besuch des Hauses nicht vorbei. Im Gegenteil. Warum auch immer - ich stand so neben mir, dass ich kaum einen vernünftigen Satz zustande brachte – sie fragte mich, wo ich mich den ganzen Tag über so aufhielt. Und da fiel mir nur ein Ort ein. Am Ende der Felder, die hier vorn am Ginsterweg liegen, ist dieses kleine Wäldchen. Wie ich sehe, kennen Sie es. Und ihr Lächeln verrät mir, dass Sie dort auch früher oft gespielt haben. Es ist aber auch ein herrlicher Ort. Die alten Weiden, der kleine Bach. Man kann sich überall verstecken, im Sommer seine Füße ins kalte Wasser halten. Das reine Paradies. Dorthin führte ich sie und sie war begeistert. Sie war ein richtiges Naturmädel. Das hätten Sie jetzt nicht erwartet, stimmt’s? Nun, ich hatte es auch nicht, aber es war so. Es war damals ein heißer Tag, sie zog ihre Schuhe aus, zog ihren Rock bis über die Knie hoch und spazierte über das Kieselbett des Baches. Ich stand mit großen Augen da und beobachtete dieses von Gott mit einer solchen Schönheit gesegnete Geschöpf, wie es mit herzhaftem Lachen die Butterblumen mit Wasser bespritzte, die überall am flachen Ufer wuchsen. In diesem Augenblick brach der Damm in mir und ich zog ebenfalls meine Schuhe aus und sprang in den Bach. Welch Lachen durchdrang den Wald!
Nachdem wir uns gegenseitig nass gemacht hatten, legten wir uns auf die Wiese und erzählten uns, an was uns die Wolken erinnerten, die über uns hinwegzogen. Es war einfach herrlich. Bis sie plötzlich und ohne Vorwarnung aufstand und meinte, ihr Vater erwartete sie und sie müsste jetzt gehen. Nun, was sollte ich machen? Sie aufhalten? Nein, ich wünschte ihr noch einen schönen Tag und sie verschwand zwischen den Weiden. Am nächsten Tag war sie wie verwandelt. Sie grüßte mich mit einem Lächeln, aber wechselte kein weiteres Wort mit mir. Ja, da gucken Sie. Sie hätten mich da erstmal sehen müssen, wie ich da geguckt hatte. Ich hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht. Meine Mutter vermutete schon, dass ich Fieber hatte oder sonst eine Krankheit. Schließlich drückte sie, also, Lisbeth, mir in der Pause einen Zettel in die Hand, und, na, wissen Sie’s? Genau, wir trafen uns wieder. So ging es eine ganze Zeit lang. In der Schule war ich Luft für sie, und am Nachmittag waren wir unzertrennlich. Es kam mir ein bisschen seltsam vor, aber gestört hat es mich nicht. Mein Gott, ich verbrachte Stunden mit dem Mädchen meiner Träume. Was wollte ich mehr?
Bei den Wasserspielchen blieb es natürlich nicht. Ich fragte sie, ob sie mich küssen wollte. Das war ein paar Monate später. Ende Oktober. Die Bäume waren kahl, weil der Herbst mit mächtigen Schritten ins Land zog. Ich hielt sie fest im Arm, weil sie fror. Und nun, sie sagte, ja. Und wieder hörte ich Engel singen und dankte dem Himmel. Sie wissen sicher selbst, wie man sich bei seinem ersten Kuss fühlt.
Wollen Sie jetzt etwas trinken? Hm, nicht dass Sie mir hier verdursten. Hinterher bekomme ich noch eine Anzeige wegen Körperverletzung oder so was. Und das will ich nicht. Also, wenn Sie etwas benötigen, an dem Baum da vorn wachsen zum Beispiel köstliche Birnen. Wenn Sie etwas benötigen, sagen Sie einfach bescheid. Es macht mir keine Umstände, etwas zu holen. Sie sind schließlich mein Gast. Auch wenn Sie so unangemeldet ins Haus geplatzt sind. Na gut, das nehme ich zurück. Ich hätte Sie nicht hineinbitten müssen, wenn ich etwas dagegen gehabt hätte. Aber das hatte ich nicht. In meinem Alter hat man Zeit, auch wenn die jungen Menschen immer meinen, man hat im Angesicht des Todes keine Zeit mehr. Da machen Sie große Augen, wie? Aber lassen Sie sich es gesagt sein: Wenn man auf ein erfülltes Leben zurückblicken kann, dann muss man nicht irgendwelchen verblassten Träumen seiner Jugend hinter rennen oder gar trauern. Man ist zufrieden. Wer kann das heut schon von sich behaupten? Und deswegen habe ich Zeit. Weil ich zufrieden bin.
Also, ich war damals mehr als zufrieden. Ich fühlte mich als der glücklichste Mensch der Welt. Mit der Zeit kam es natürlich raus, dass wir mehr oder weniger ein Paar waren. Aber wir waren in der Abschlussklasse. Die Raufereien unter den Jungs hatten nachgelassen. Und niemand machte mehr eine große Szene aus der Sache. Es war für alle eine Überraschung, nicht mehr. Ich machte nach meinem Abschluss eine Ausbildung beim Schreinermeister Tiller. Der war so ernst, dass ich manchmal dachte, er hielt Lachen für eine Todsünde. Aber ihm habe ich es zu verdanken, dass ich nicht in diesen scheußlichen Krieg ziehen musste. Denn weil er so ernst war und sich durchzusetzen wusste, bekam er seine Klage beim Reichsgericht durch, dass er nicht auf seinen Lehrling verzichten konnte, weil er, so makaber das jetzt auch für Sie klingen mag, Särge für die Front anfertigte. Und alleine hätte er der Nachfrage nicht nachkommen können. Also blieb ich in Försterhausen. Lisbeth machte eine Ausbildung zur Lehrerin. Die ersten Jahre arbeitete sie in der Volksschule, aber nach dem Krieg studierte sie noch einmal ein paar Jahre und ging nach Westenheide zum Gymnasium. In all der Zeit waren wir ein richtiges Liebespaar. Wir wohnten zwar beide noch bei unseren Eltern, damals war das nicht so einfach, sich mal eben eine eigene Wohnung zu nehmen, wie es mein Enkelsohn erst vor einigen Jahren gemacht hat. Schon gar nicht, wenn man unverheiratet war. Da wohnte man bei seinen Eltern. Aber das hinderte uns natürlich nicht daran, uns hin und wieder den Annehmlichkeiten einer Beziehung hinzugeben. Jaha, da werden Sie wieder rot. Ich sagte doch, ich war auch mal jung, auch wenn Ihre Phantasie dazu nicht ausreicht, um sich das vorzustellen. Lachen Sie ruhig. Wenn Sie sich in fünfzig Jahren im Spiegel betrachten, werden Sie sich an meine Worte erinnern. Mit dem Alter ist es wie mit den Jahreszeiten. Auch wenn im Oktober noch so viele Bäume Blätter tragen, im November sind sie alle nackt und man sieht ihre runzeligen Äste. Also, wo heute eine Glatze in der Morgensonne glänzt, wuchs einst braunes, glattes Haar. Und auch mein Bäuchlein, das Lisbeth im Laufe unserer Ehejahre sehr lieb gewonnen hatte, war einst schmal und glatt. Und auch wenn es Ihre Vorstellungskraft nun völlig übersteigt, ich habe früher regelmäßig bei dem Drei-Dörfer-Lauf mitgemacht. Da staunen Sie, ja! Aber es ist wahr. Beim ersten Mal habe ich sogar den dritten Platz gemacht. Lisbeth hat mich darauf hin sehr verwöhnt, und ich schwor mir, wenn das der Preis ist, laufe ich die nächsten Male auch wieder mit. Und das war eine gute Idee. Denn auch wenn ich es nicht mehr unter die besten zehn schaffte, sie pflegte mich, als wäre ich ihr ganz persönlicher Sieger.
Sie wollen vielleicht doch etwas zu trinken? Oder eine Birne? Hauptsache ich stehe kurz auf und Sie können einmal laut losprusten. Tun Sie sich keinen Zwang an. Ich werde Sie mitnichten daran hindern, in meiner Gegenwart zu lachen. Es ist doch schön, wenn ich Sie zum Lachen bringen kann. Vielleicht fällt dann der Artikel wohlwollender aus. Nein, nein, ich weiß genau wie das bei euch Zeitungsfritzen abläuft. Wer euch blöd kommt, über den wird nicht viel und gut geschrieben. Wen ihr allerdings nett findet, der bekommt eine Titelstory. Ja, ja, so ist das, hab das alles schon erlebt. Sie wollen also immer noch nichts trinken. Na gut, aber beschweren Sie sich heute Abend nicht über Kopfschmerzen. Bei den Temperaturen kann das schnell passieren. Und es wird passieren, glauben Sie mir.
Also, weil alles so schön zwischen Lisbeth und mir war, dachte ich natürlich auch ans Heiraten. Wir waren Anfang zwanzig. Wir trafen uns schon lange nicht mehr am Wäldchen, und heute frage ich mich, wieso eigentlich nicht. Wieso gibt man die Orte seiner Kindheit so schnell auf? Ich weiß es nicht, aber wir trafen uns hier, in diesem Haus. Ich bewohnte zwei Zimmer im oberen Stockwerk, und ich sagte ihr, dass ich sie etwas Wichtiges fragen müsste. Sie war ganz gespannt, vielleicht vermutete sie schon etwas in dieser Richtung. Und als ich sie fragte, ob sie meine Frau werden wollte, sagte sie, dass sie gehen müsste, ihr Vater war krank und erwartete sie. Ich fühlte, wie meine Knie weich wurden. Ich ließ mich aufs Bett fallen und wusste nichts mehr darauf zu sagen. Hätten Sie darauf eine Antwort gewusst? Sie ging durch die Tür und ich dachte, auch aus meinem Leben. Aber wie schon vorher im Wäldchen kam sie am nächsten Tag wieder. Sie erklärte mir, dass sie einfach nicht gewusst hatte, wie sie auf die Frage reagieren sollte. Als ich ihr sagte, mit einem Ja, fiel sie mir um den Hals und flüsterte mir ein leises Ja ins Ohr. Ich hörte die Engel singen und dankte Gott für diese wundervolle Frau an meiner Seite. Es war wie in einem Traum. Wir liebten uns daraufhin direkt auf dem Teppich, auf dem wir standen. Man macht schon manchmal komische Sachen, finden Sie nicht? Ja, ja, schauen Sie sich noch mal in Ruhe meine Rosenbeete an. Haben Sie denn auch schon die herrlichen Petunien entdeckt, und da vorn, das Steinkraut? Ich finde ja, Steinkraut riecht nach Honig. Finden Sie das auch? Nicht? Hm, riskieren Sie doch mal mehr als einen Blick und schnuppern Sie dran. Natürlich nicht jetzt sofort. Es sei denn, Sie wollen das Ende der Geschichte verpassen. Wobei, das Gerät hier läuft doch auch ohne Ihre Anwesenheit weiter, oder? Nein, das heißt nicht, dass ich Ihre Gegenwart nicht schätze. Es war nur ein Angebot, damit Sie sich endlich lachen können. Ich bin nicht blind, ich sehe genau, was sich unter Ihrer professionellen Art verbirgt. Und das ist in diesem Augenblick ein kräftiger Lacher, der hinaus in die Welt posaunt werden will. Als wenn er Angst hätte, der letzte seiner Art zu sein. Ja, so ist’s gut. Und gut war es auch, als wir 1942 heirateten. Kurz nach dem Krieg brachte Lisbeth unser erstes Kind auf die Welt: Ulrich. Der lebt heute in Aachen. Ich bin ein bisschen stolz auf ihn, wissen Sie. Er hat seinen Doktor gemacht und ist Dozent an der Uni. Wenig später erfreute uns die Geburt von Vera. Sie lebt mittlerweile in Westenheide und arbeitet dort als Leiterin einer Boutique. Wissen Sie, Kinder sind ein Segen. Wer nie die Erfahrung gemacht hat, Kinder aufwachsen zu sehen, und Teil ihres Lebens zu werden, der hat nie wirklich gelebt. Es ist in meinen Augen die kostbarste Erfahrung, die ein Mensch machen kann. Haben Sie Kinder? Nein? Sind Sie denn verheiratet? Auch nicht. Mein Gott, warum leben Sie dann überhaupt? Sie können sich nicht ansatzweise vorstellen, was Sie dadurch alles verpassen! Stimmt, mit Ihrer beschränkten Phantasie haben wir ja schon Bekanntschaft geschlossen. Schlimm steht’s um die Menschen, die den Wert einer Ehe und Elternschaft nicht mehr zu schätzen wissen. Das hat nichts mit meinem Gottesglauben zu tun, von dem ich ganz gewiss eine gute Portion habe. Aber die Verantwortung, die man fühlt, wenn man Ehepartner ist, nun, die ist so erfüllend, man lernt sich selbst nirgends besser kennen, als in einer Ehe. Da können noch so viele Heinis auf Klöster und einsame Wälder schwören. Das alles ist nichts im Vergleich zu einer Ehe. Und die ist wiederum nichts im Vergleich zum Elternsein. Es ist das Sichtbarwerden der Liebe, wenn ein Kind auf die Welt kommt. Zumindest sollte es das sein.
Lisbeth und ich waren glückliche Eltern, und wir dankten Gott jeden Abend dafür, nachdem wir uns liebten. Oh, Sie schauen nicht zu den Blumen. Das lässt hoffen. Ich mein‘, Ihre Phantasie wird sicherlich durch meine Geschichte nicht angeregt werden, aber immerhin geben Sie sich Mühe. Sich Mühe geben ist für alles ein guter Anfang.
Nun, kommen wir zum Ende. Lisbeths Vater starb 1971, und wenn es bisher noch nicht so rüberkam, so lassen Sie es mich jetzt klarstellen: Lisbeth liebte ihren Vater. Als er damals krank war, als ich sie fragte, ob sie meine Frau werden wollte, da war es nicht nur ein Vorwand, zu verschwinden. Nein, sie hatte mich auch stehen lassen, weil ihr in diesem Augenblick bewusst wurde, dass es ihm gar nicht gut ging, während sie Zukunftspläne schmiedete. Sie hat es mir zwar nie gesagt, aber ich weiß es auch so. Seien Sie fünfzig Jahre verheiratet, dann wissen Sie so etwas auch.
Als er starb, war das für sie, als wenn jemand einen Teil von ihr abgeschnitten hätte. Einem Arm oder so. Aber ich frage Sie: Für wen ist es schon leicht, wenn ein Elternteil stirbt? Was bin ich froh, dass es nicht andersherum war. Wie schlimm ist es erstmal für eine Mutter oder einen Vater, das Kind zu verlieren? Ich kann es mir gar nicht ausmalen. Sehen Sie, auch meine Phantasie ist begrenzt.
Nun, wir gedachten ihrem Vater regelmäßig. Nicht nur am 2. November. Nein, nein, nein! Er ist nicht am 2. November gestorben. Sie kommen vielleicht auf Ideen! Am 2. November ist Allerseelen. Ein kirchlicher Feiertag. Kirche sagt Ihnen noch etwas? Dieses große Gebäude mit dem spitzen Turm. Soll angeblich für Gott gebaut sein, wobei sein Sohn immer sagte, gebt den Armen, und, in euch selbst soll ein Tempel entstehen. Oder war das von Seneca? Egal. also, nicht nur am 2. November gedachten wir ihm, sondern auch an seinem Geburtstag, an seinem Todestag sowieso, auch an Weihnachten oder wenn eines der Kinder Geburtstag hatte. Er blieb ein Teil der Familie. Immer!
Ich glaube, so langsam brauche ich einen Schluck zu Trinken. Sie merken vielleicht schon, dass mir das Sprechen nun schwerer fällt. Aber wenn ich an den Tag denke, an dem meine geliebte Lisbeth starb, wird mir immer schwer ums Herz. Das verstehen Sie sicher, nicht wahr?
Sie starb an einem Oktoberabend. Es war schon dunkel draußen. Die ersten Herbststürme fegten über Försterhausen. Die Kiefern vor dem Haus rauschten und knarzten im Wind. Sie hatte hohes Fieber. Ich saß die ganze Zeit über an ihrem Bett. So wie damals, als meine Mutter starb. Das war im Sommer 1963, da saßen wir auch alle am Bett. Sie ist an einem Hitzeschlag gestorben, wissen Sie. Also, meine Mutter. Es war damals noch heißer als in diesem Sommer.
Na ja, meine Lisbeth starb an einem dunklen, kalten und stürmischen Herbstabend. Aber bevor sie endgültig die Hallen der Ewigkeit betrat, sagte sie noch etwas zu mir.
Bitte entschuldigen Sie meine leise Stimme. Ich spreche nur selten über das alles.
Ich lehnte mich über sie, weil ihre Stimme noch viel leiser war als meine jetzt. Sie sagte, sie müsste jetzt gehen, ihr Vater erwartete sie. Dann zeigte sie auf das Fenster, wo nur der Schein der Kerze zu sehen war. Nun, für mich war nur der Schein der Kerze dort zu sehen. Mich fröstelte es, und es war mir, als hörte ich Engel singen. Vielleicht war es nur der Wind, aber vielleicht waren es wirklich Engel. Lisbeth schloss ihre Augen. Als sie starb, hielt ich ihre Hände.
Ich dankte Gott. Wofür? Für alles. Ich war neunundsiebzig Jahre alt, als er sie zu sich nahm. Ich war dankbar für alles.

Wieso ich dann nach wie vor zwei Polster aus dem Schuppen hole? Das war Ihre Anfangsfrage, nicht wahr? Ich habe sie nicht vergessen, keine Sorge. Nun, wann immer Lisbeth sagte, sie müsste jetzt gehen, weil ihr Vater sie erwartete, und glauben Sie mir, das kam häufiger vor, als ich Ihnen hier erzählt habe. Wann immer sie diese Worte zu mir sagte: Sie kam doch immer wieder zurück zu mir. Und weiß ich, ob das heute sein wird?

 

hallo oceansoul,

also gleich vorab, ich finde deine geschichte wirklich klasse. es war eine freude, sie zu lesen. sie war zwar sehr lang, aber die flüssige sprache und der saubere schreibstil waren sehr hilfreich, die geschichte in einem zug mit kurzweil durchzulesen. der alte mann der davon erzählt, dass seine jahre mit lisbeth ihn zum glücklichen menschen gemacht hat. typisch medien - dass alles wunderbar unkompliziert und positiv war. der leser beneidet den mann für dieses leben - herrlich herübergebracht. der erzählstil ist ein wagnis. ein monolog mit einem imaginären gesprächspartner. soetwas droht in die monotonie zu entgleisen, aber das war in deiner geschichte nicht der fall, du hast darauf geachtet, dass seine erzählung regelmässig eine pause bekommt. das gibt dem leser zeit, gedanklich luft zu holen.
das einzige negative, was ich einmal anmerken möchte, dabei ist es nur ein gefühl: ich denke, der mann war manches mal eine spur zu unverschämt zu seinem besucher.
also - kurz um - eine prima geschichte - gut gemacht!

bis dann

barde

ich bin über 80 Jahre alt,
schreibe zahlen besser weitmöglichst aus


Sie ist in den Sommerferien 1933 mit ihren Eltern nach Försterhausen gezogen. Als ich sie das erste mal sah, trug sie ein blaues Blümchenkleid.

also, 1933 - das ist aber schon eine vollende vergangenheit wert, besonders wenn du im folgesatz in die vergangenheit gehst! "ist" >> "war

"mal" gross

Und ich hoffe für Sie, dass wenn Sie einer jungen Frau begegnen, nicht gleich von Liebe sprechen, wenn Sie Ihnen gefällt.

hinter "dass" ein komma

Ich dankte dem Himmel für dieses kleine "Na gut", das sie mir zurückschrieb.
"zurückschrieb" auseinander

Sie hätten mich da erstmal sehen müssen, wie ich da geguckt habe.

"habe" >> "hatte"

Ich hätte Sie nicht hineinbeten müssen

hineinbeten???? *hehe* richtig: "hineinbitten"

dann muss man nicht irgendwelchen verblassten Träumen seiner Jugend hinterrennen oder gar trauern.

"hinterrennen" >> "hinterher rennen"

Wer kann das heut schon von sich behaupten?

weil du nach perfektion strebst: "heut" >> "heut'"

Die Rauferein unter den Jungs hatten nachgelassen.

"Rauferein" >> "Raufereien"

dass ich sie etwas wichtiges fragen müsste.

"wichtiges" gross?

Immer.

bitte anstatt einen punkt ein ausrufezeichen

Ich glaube, so langsam brauche ich einen Schluck zu trinken.

"trinken" gross ?

Die Kiefern vor dem Haus rauschten und knarzten im Wind.
"knarzten" >> "knarrten" ?

 

N'Abend Barde,

Danke für Dein Feedback. Vor allem für die ganzen Hinweise bzgl. meiner Zusammenschreibschwäche bei Verben :o) Ich hoffe, das krieg ich irgendwann noch mal in den Griff...
Zu Deinem letzten Hinweis möchte ich noch Folgendes sagen: Mein Prof. hat einmal gesagt, dass Holz nicht knarrt, sondern knarzt. Und ich glaube ihm das 0:o) Es hört sich zumindest sehr passend an in Verbindung mit Holz.
Meinst Du wirklich, der alte Mann wär ein bisschen unverschämt seinem Gegenüber über? Ich finde, diese ganzen Nickeligkeiten machen ihn sympathisch, und dadurch, dass der Gegenüber nicht weggeht, scheint es auch in Ordnung zu sein ;o)

In diesem Sinne, hab Dank fürs Auseinandersetzen mit meinem Text.

Viele Grüße,
oceansoul

 

Hallo Oceansoul,

ich kann mich nur Barde anschliessen: Auch mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen.
Ich fand es schön, wie du die Beziehung der Beiden hast aufleben lassen und auch der Erzählstil des Alten gefiel mir, nach kurzer Eingewöhnungszeit, sehr gut.
War sicherlich nicht einfach zu schreiben?

Ein paar Dinge sind mir aufgefallen:

Nachdem dein Prot. betont, dass er kein besonders romantischer Typ ist, macht er, gerade als er Elisabeth beschreibt, zu romantische Äußerungen. Das hat für mich nicht so sehr zusammengepasst, vor allem, weil sein Erzählstil sonst eher humorvoll wirkt.

Ich würde außerdem versuchen den Text durch ein paar Absätze noch aufzulockern. Fällt beim Lesen etwas schwer, wenn der Text so aneinandergeschrieben hast. Vor allem am Bildschirm tut man sich da schwer.

Ansonsten sehr schön!

LG
Bella

 

Hallo Bella,

gegen alle Erwartungen war es recht einfach, diese Geschichte zu schreiben, weil ich mich nicht wie sonst lange an der Konstruktion aufhalten musste, sondern einfach mal "frei Schnauze" losschreiben konnte. :o) Das einzige, was ich im Auge behalten musste, waren die Einschübe, in denen der Gegenüber direkt angesprochen wird. Die mussten richtig portioniert werden. Und anscheinend hab ich richtig gemixt :o)

Dein Einwand bzgl. der "Romantik" ist, denke ich, Geschmackssache. 0:o) Für mich fällt das noch unter "falscher Bescheidenheit" des Alten, was ihn in meinen Augen noch sympathischer macht.
Bei den Absätzen bin ich mir nicht so sicher, ob das erzählfördernd wäre, weil der Alte ja die ganze Zeit über spricht und erst am Schluss die Pause hin zur "Auflösung" macht. Hm, muss ich noch mal drüber nachdenken.

Vielen Dank jedenfalls für Dein Feedback und Dein Lob. Hat mich gefreut!

Liebe Grüße,
oceansoul

 

Hi Oceansoul,

ja, ich verstehe dein Argument mit den Absätzen schon. Hätte ich wahrscheinlich auch so gemacht, weil er ja wirklich am Stück spricht.
Ist wirklich nur für die Augen "unfreundlich".

LG
Bella

 

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