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Meine Schwester Sarah
Es dauerte eine Ewigkeit bis der Wecker von 2:31 auf 2:32 umsprang. Martin schwitzte unter seiner Decke. Er schloss die Augen und versuchte zu entspannen. Aber dann merkte er, dass er Durst hatte, stand auf und holte sich ein Glas Wasser. Er setzte sich damit auf das Bett und ließ die Tür offen stehen. So würde er gleich hören, wenn sie nach Hause kam. Eigentlich sollte sie schon längst da sein. Der letzte Bus war um eins angekommen. Sie brauchte normalerweise nicht mehr als zehn Minute von der Haltestelle nach Hause.
Vielleicht war er ja doch eingeschlafen und hatte sie nicht kommen hören. Er tastete sich durch den Flur zu ihrem Zimmer. Im Dunkeln fand er ihr Bett und kniete davor nieder. Die Decke war fest unter die Matratze gestopft, auf dem Kissen lag ihr altes Monchichi. Martin legte seinen Kopf daneben und schloss die Augen. Es roch nach Sarah – nach Sarah wie sie schlief, wie sie ihm zuhörte, wie sie zu lauter Musik im Zimmer herumtanzte - nach seiner Sarah.
Martin wachte auf, als er im Schlafzimmer seiner Eltern den Wecker klingeln hörte. Das Monchichi war vom Kissen gerutscht. Martin steckte es unter sein Schlafanzugsoberteil und schlich leise in sein Bett zurück. 6:43. Bald würde die Mutter kommen und ihn wecken. Er drehte sich zur Wand und nahm das Monchichi fest in beide Hände. Dann versuchte er nochmal einzuschlafen.
Am Frühstückstisch fehlte ein Gedeck.
„Wo ist Sarah?“ fragte Martin und starrte auf sein Marmeladenbrot.
„Bei Holger“, sagte die Mutter und griff nach ihrer Kaffeetasse. „Ich bin ja froh, dass sie jetzt mal einen Freund hat. Mit achtzehn ist es wirklich nicht zu früh, vor allem für Mädchen nicht.“
„Naja, so dringend war das jetzt auch nicht“, sagte der Vater.
„Kannst du dich vielleicht, wenn sie weg ist, um Apostolos kümmern?“ fragte die Mutter.
Martin nickte und versuchte sich vorzustellen, was Sarah jetzt gerade tat, während sie ihren Kater Apostolos vernachlässigte. Holger, diese Fratze, tauchte vor seinen Augen auf. Holger mit der braven Scheitelfrisur; Holger in der coolen Lederjacke; Holger, der strebsame Jurastudent; Holger mit den Blumen für die Mutter; Holger, der unter dem Tisch Sarahs Knie streichelte.
„Ich bin auf jeden Fall froh, dass es nicht so ein Halodrian ist“, sagte der Vater.
Holger, wie er Sarahs Hand zerquetschte; Holgers Zunge an Sarahs Ohrläppchen; Holger, wie er sich auf sie legte; Holger, wie er in Sarahs Schenkel biss.
„Ich finde ihn auch sehr nett“, sagte die Mutter und legte zwei Mandarinen neben Martins Schulbrote.
Draußen war es kalt. Normalerweise gingen er und Sarah immer gemeinsam zur Schule. Als Kinder hatten sie sich dabei an der Hand gehalten. Dann hatte mal jemand darüber gelacht, und von dem Zeitpunkt an ließen sie los, wenn sie in die Straße kamen, in der die Bushaltestelle war.
Während Martin heute zur Bushaltestelle trottete, stellte er sich vor, Sarah liefe neben ihm, die schöne große Schwester, um die ihn alle beneideten. Ihre blonden Haare wippten auf dem schwarzen Mantel, darunter zwei schlanke Jeansbeine. Auf dem Rücken trug sie einen grauen Rucksack, an dessen Reißverschluss die kleine Schildkröte hing, die Martin ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Plötzlich legte sich ein nasser Schleier vor Martins Augen. Die Häuser um ihn herum verschwammen. Er bog in eine Seitenstraße ein, weg von der Bushaltestelle und den Blicken der Mitschüler. In seinem Kopf hämmerte es pausenlos: Holger, die Fratze, und Sarah, seine Schwester Sarah.
Er kam zu einem Spielplatz und setzte sich auf eine der Bänke. Sie war feucht. Die Schaukel bewegte sich leicht im Wind. Das rote Eisenkarussell stand still. Martin stellte sich vor, Sarah säße darauf, und er würde sie drehen, schneller und immer schneller, bis ihr ganz schwindlig würde. Sie müsste sich an ihm abstützen, um wieder aufstehen zu können.
Es war schon heller Mittag, als Martin von lautem Gejohle und Geschrei geweckt wurde. Auf dem Karussell saßen drei Kinder.
„Mama, jetzt schubs uns doch mal an“, sagte eins.
„Jetzt nicht, Melanie.“
Die Mutter hielt einen quengelnden Säugling im Arm.
„Soll ich?“, fragte Martin und brachte, als die Kinder nickten, das Karussell in Schwung. Sie kreischten vor Vergnügen. Dann klopfte die Mutter Martin auf den Rücken: „He, nicht so schnell. Den Kindern wird sonst noch schwindlig.“
Martin ließ los und ging auf die Straße hinaus. Weil es noch zu früh war, um nach Hause zu gehen, lief er zum nahegelegenen Neckarufer hinunter. Ein kleiner Weg führte am Fluss entlang. Zu der Zeit waren kaum Spaziergänger unterwegs. Martin begegnete niemandem. Schließlich kam er zu der Stelle, an der das grüne Ruderboot lag. Er setzte sich hinein und schaute auf die gegenüberliegende Neckarseite. Dort war der Minigolfplatz, zu dem sie manchmal sonntags eine Radtour machten. So früh war er noch ganz leer. Daneben lag das Freibad, was aber zu der Jahreszeit schon geschlossen war, davor bereits kahlgewordene Bäume. Als er im letzten Sommer hier mit Sarah gesessen hatte, waren sie noch saftig grün gewesen.
Zusammen hatten sie den Booten auf dem Neckar nachgeblickt. Er hatte sie gefragt, ob sie glaube, dass sie immer zusammenbleiben würden, und sie hatte geantwortet: „Verlässt du mich nicht, so verlass ich dich auch nicht.“ Daraufhin hatte er fest ihre Hand gedrückt, so fest, dass sie rot wurde und Sarah aufschrie. Er hatte erst losgelassen, als sie schrie und bat: „bitte, bitte, lass mich los.“ Dann war sie aus dem Boot gesprungen und weggelaufen. Aber er hatte sie schnell eingeholt, gepackt und gekitzelt, bis sie nicht mehr beleidigt sein konnte. Wie die Verrückten waren sie kichernd auf der Wiese herumgerollt. Schließlich hatte sie ihn unten gehabt und seine beiden Arme ins Gras gedrückt. Heftig schnaufend hatte ihr bebendes Gesicht über seinem gehangen. Er hatte so getan als könne er sich nicht wehren. Dann war sie mit ihrer langen Zunge immer näher gekommen. Er hatte den Hals eingezogen, „iii“ gejammert und schließlich die Augen geschlossen und ganz still gehalten, als sie mit dickem Nass über seine rechte Wange leckte.
Martin steckte seinen rechten Zeige- und Mittelfinger in den Mund, schloss die Augen und fuhr dann damit über seine Wange, ganz langsam, dann über sein Kinn, den Hals hinunter über Brust und Bauch. In seinem linken Oberschenkel krallte sich die Hand fest, bohrte die Nägel durch den dünnen Jeansstoff, sodass es wehtat. Dann öffnete er die Augen und stapfte durch das feuchte Gras so nah an den Fluss heran, dass er sein Spiegelbild darin erkennen konnte. Sarah sagte immer, er sehe gut aus. Er fand, dass er dumm aussah, zu lange Arme und zu lange Beine – schlaksig eben. Pickel hatte er auch.
Auf einmal spürte er etwas weiches um sein Bein schnurren. Er nahm Sarahs Kater Apostolos am Nacken hoch und setzte sich mit ihm ins Boot. Apostolos schmiegte sich in Martins Schoß und schloss genussvoll die Augen. Martin strich über seinen runden Rücken, die Samtpfoten, die Stirn und die Nase. Als er ihm das Kinn streichelte, fing Apostolos an, Martins Finger mit seiner rauen Zunge abzulecken, gründlich und ausdauernd.
Martin legte sich rückwärts auf die Bank des Bootes und setzte Apostolos auf seine Brust, sein kleiner Tigerkopf über Martins. Ruhig redete er auf ihn ein und streichelte sanft seine Schnauze. Aber Apostolos wollte nicht mehr lecken, auch nicht als Martin ihn dicht an sich drückte. Apostolos fing an zu maunzen und zu kratzen, und Martin umfasste mit beiden Händen seinen kleinen Hals. Er schloss die Augen und drückte, drückte Sarah, drückte Holger, drückte.
Da hörte Apostolos auf zu maunzen und zu kratzen, ganz ruhig wurde er. Martin streichelte ihn noch ein bisschen. Er hörte das Rauschen des Flusses und das dunkle, knatternde Geräusch eines vorbeifahrenden Bootes. Als er nur noch Wasser hörte, stand er auf und ließ den leblosen Katzenkörper in den Fluss gleiten.