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Menschenopfer (a good-night-story)
Menschenopfer
Harold Bannerman war kein normaler Mann. Gut, er sah aus wie ein normaler Mann, er hatte dunkelbraunes Haar, grau-grüne Augen, war einen Meter und fünfundsiebzig Zentimeter groß, wog neunundachtzig Kilogramm - ein bißchen zu viel für seine Größe -, war ständig glatt rasiert und hatte gelb-orangene Nikotinfinger. Er trug immer irgendwelche teuren Anzüge, und seine Schuhe paßten grundsätzlich zur Farbe seiner Krawatte. Er war arbeitswütig und strebsam und reiste mit seinem bordeauxroten Ford, Baujahr 1976, von einem kleinen schäbigen Ort zum Nächsten. Harold Bannerman war Vertreter für Waschmaschinen. Und er erfüllte seinen Job zur vollsten Zufriedenheit seiner jetzigen Geschäftspartner. Vor gut einem Jahr hatte man ihm deshalb die Teilhaberschaft an der Firma angeboten und Harold hatte ohne zu zögern zugeschlagen.
Also im Großen und Ganzen war Harold Bannerman wie ein ganz normaler Mann. Eine Kleinigkeit unterschied ihn jedoch von anderen Menschen. Harold Bannerman verwandelte sich kurz nach Sonnenuntergang in eine Schlange.
Als er es zum ersten Mal entdeckt hatte, war er außer sich vor Schreck. Er stand vor dem Spiegel um sich zu rasieren; zum ersten Mal in seinem damals 29 Jahre andauernden Leben hatte er abends eine Verabredung. Harold Bannerman war nämlich, was Frauen anbelangte, eher schüchtern. Es sei denn, er schwatzte ihnen eine neue Waschmaschine auf, dann sprühte er vor Charme nur so über.
An jenem Abend sah er also zum ersten Mal seine Verwandlung. Er stand vor dem Spiegel und sah, wie sich sein Oberkiefer vorschob; er sah, wie seine Haut so dünn wurde, daß er durch ihr hindurch seine Zahnreihen erkennen konnte. Er sah, wie sich seine Eckzähne in Sekundenschnelle in nadelspitze, etwa 20 Zentimeter lange Dolche verwandelten. Sein Hinterkopf flachte ruckartig ab, so als hätte man die Luft herausgelassen und bildete eine Linie mit seinem Nacken. Dann brach Harold Bannerman zusammen und wachte am nächsten Morgen neben der Badewanne gekauert wieder auf.
Als er sich an die Verwandlung erinnerte lief er schreiend durch die Wohnung, fegte mit der Faust einige Gegenstände von ihrem Platz, übergab sich ein paar mal und wälzte sich in einem nicht enden wollenden Heulkrampf schließlich auf seinem Bett hin und her. Endlich sah er alles klar: die zerrissenen Kleider, wenn er morgens in irgendwelchen Ecken seines Hauses aufwachte, umgeworfene Möbelstücke, bis zur Unendlichkeit verstümmelte Tierkadaver in seinem Garten oder in seinem Keller. Jetzt wußte er alles, und er wünschte sich so sehr, er hätte es nie erfahren.
Mittlerweile, zwanzig Jahre nach diesem Zwischenfall hatte sich Harold mit dieser doch recht seltenen Eigenart seines Körpers abgefunden; ja er hatte sie sich sogar zum Nutzen gemacht. Wie schön war es doch, sich kurz vor Sonnenuntergang mit einem verhaßten Kollegen an einem einsamen Ort zu treffen; oder eine dümmliche Ziege von Vorstadthausfrau, die es nicht einmal für nötig hielt, ihn überhaupt hereinzubitten, wenn er versuchte ihr an der Haustür die Nutzen einer neuen Waschmaschine zu erläutern, am frühen Abend noch einmal zu besuchen.
Harold wußte nicht mehr, wieviel Menschen in seiner Nähe in den letzten zwanzig Jahren das Opfer einer wilden, hochgiftigen Schlange geworden waren. Es waren viele, sehr viele, soviel stand fest. Und genauso stand es fest, daß es noch mehr werden würden, denn Harold hatte die Möglichkeit des perfekten Mordes gefunden. Gut, er tötete nicht wahllos, aber wenn es eben sein mußte ...
Harold Bannerman saß in diesem Moment in seinem alten Ford und war wütend. Der Regen klatschte gegen die Windschutzscheibe und Harold verfluchte die Scheibenwischer, die, obwohl sie recht neu waren, mit jedem Wischen schmierige Streifen vor seinen Augen zauberten.
Harold war auf dem Weg nach Currie, Nevada, um einen neuen Geschäftsfreund und eventuell zukünftigen Partner seiner Firma zu treffen. Er hatte den ganzen Vormittag herumtelefoniert, aber in ganz Currie war kein einziges Zimmer mehr zu bekommen. Resigniert hatte er daraufhin seinen Cousin angerufen, der mit seiner Familie ein kleines Haus in Curnie Falls, einem kleinen Ort in der Nähe von Currie, besaß.
„Natürlich kannst Du bei uns übernachten, Harry, das ist doch wohl selbstverständlich.“ Oh, wie er dieses Gesülze haßte! Aber es blieb ihm ja nichts anderes übrig, und im Freien übernachten war ein wenig zu riskant, denn wenn irgend welche Hobbyjäger des Weges kamen ... Nicht auszudenken.
Er würde sich bei James einquartieren und seine Zimmertür von innen verschließen - wegen des kleinen Rotzblags, welches James seinen Sohn nannte -. Und am nächsten Morgen würde er dann, frisch zurückverwandelt, wieder abhauen.
Zwei Stunden später, es war fast halb fünf und hatte immer noch nicht aufgehört zu regnen, hatte er Curnie Falls erreicht. James begrüßte ihn freudestrahlend, seine Frau Elli etwas weniger, und dann sah Harold das fette Kind! Es stand direkt neben der Mutter und glotzte ihn aus zugequollenen Augen an.
„Und das ist unser kleiner Sohn Jonathan, aber wir nennen ihn alle nur Johny. Sag Guten Abend zu Onkel Harry, Johny!“ Doch der kleine fette Johny glotzte nur weiter vor sich hin, wie ein qualliger Frosch inmitten eines stinkenden Tümpels. Harold verspürte den Drang ihn heute Nacht in seinem Zimmer noch einmal zu ´begrüßen´.
„Ach Harry, entschuldige bitte, er ist noch ein wenig schüchtern, aber das legt sich bald, du wirst sehen.“ Sein Cousin schien beinahe zu zerschmelzen vor schmieriger Freundlichkeit.
Harold grinste.
Das vorgezogene Abendessen - Harold hatte behauptet, er müsse heute früh zu Bett gehen, da er morgen einen wichtigen Termin habe -, war ausgezeichnet. Harold mußte sich allerdings anstrengen, nicht auf den fressenden Johny zu schauen, sonst hätte er sich übergeben.
Die Sonne ging heute um 21.08 Uhr unter, Harold hatte für jeden Tag die genaue Zeit in seinem Kalender eingetragen, denn es wäre mit Sicherheit unangenehm, wenn er sich einmal verspätete. Mittlerweile war es 19.52 Uhr - auch Harolds Uhr ging auf die Sekunde genau -, und sie setzten sich noch aufs Sofa, um einen Kognak zu trinken und zu rauchen. Elli räumte den Tisch ab, nachdem Harold nicht mit Lob über das Essen gespart hatte, und der fette Johny saß vor dem Fernseher und verdaute.
„Erzähl mir, was du so treibst, Harry. Bist du immer noch nicht in festen Händen?“
Harold lächelte äußerlich. „Ach weißt du, James, wenn man wie ich jeden Tag an einem anderen Ort ist ... Das macht selbst die verständnisvollste Frau auf die Dauer nicht mit.“
Das Gespräch zog sich weiter belanglos dahin, Harold nippte an seinem Glas und schaute verdächtig oft zur Uhr. Elli klapperte in der Küche mit dem Geschirr und Johny saß immer noch vor dem Fernsehgerät und stieß dabei von Zeit zu Zeit hörbar auf.
Harold haßte Kinder, schon seit jeher, aber was er noch mehr haßte als Kinder, waren fette Kinder. Und dieser Junge, der da im Schneidersitz mit auf den Händen aufgestütztem Doppelkinn in einer Entfernung von knapp einem Meter vor dem Fernsehgerät hockte, war fett. Er war sogar fürchterlich fett!
Harold schielte über sein Glas hinweg. Er wollte nicht wissen, wie dieses Kind nackt aussah, mit seinen ganzen Fettpolstern und seiner Orangenhaut; hatten Jungs überhaupt Orangenhaut? Er wollte nicht weiter darüber nachdenken. Harold spürte, wie seine penetrante Abneigung - ja beinahe schon Haß - gegen diesen Jungen bedrohliche Ausmaße annahm, und er stellte fest, daß eine gewisse Erregung in ihm aufstieg, bei dem Gedanken, dem Jungen heute Nacht einen kleinen Besuch abzustatten.
„Um was für ein Gespräch handelt es sich morgen, Harry?“ James riß ihn aus seinen Gedanken.
„Oh, es geht um eine Teilhaberschaft in unserem Unternehmen, eine kräftige Finanzspritze, wenn alles klappt. Ich soll die Vorarbeiten übernehmen.“
„Das klingt ja interessant. Und was springt für dich dabei heraus, Harry?“
„Nun, ich denke mal, daß es sich lohnen wird.“ Mehr wollte Harold darüber nicht verlieren, er redete nicht gerne über Geld, und erst recht nicht, wenn es um Beträge ging, welche die Einhunderttausend bei weitem überschritten; wenn alles klappte ... Und wenn nicht? Na dann würde Harold sich noch einmal ganz intensiv mit seinem Gesprächspartner beschäftigen. Und zwar nachts!
„Nichts desto trotz, James, ich werde mich jetzt zur nächtlichen Ruhe begeben.“ Er stand auf und stellte sein Glas auf den Tisch. „Ich werde noch kurz deiner Frau eine gute Nacht wünschen.“
„Johny“, jetzt erhob sich auch James von seinem Platz, „sag Onkel Harry ´Gute Nacht´!“
Harold sah zum Fernseher. Der Fettkloß bewegte noch nicht einmal seinen Kopf. Wie alt mochte er wohl sein? Es war schwer einzuschätzen; fette Kinder wirkten immer älter. Vielleicht sieben oder acht?!
„Johny, bitte sag ´Gute Nacht´ zu Onkel Harry.“ James flehte seinen Sohn förmlich an.
„Ich will aber nicht!“ quoll es aus dem wulstigen Mund des hockenden Kloßes.
Harold grinste ihn an. ´Warte ab, du Klumpen, heute Nacht sehen wir uns wieder!´ Dann wand er sich mit einem angewiderten Gesichtsausdruck ab und ging zur Küche. Im Hintergrund vernahm er James Stimme: „Warum bist du so unfreundlich zu Onkel Harry, Johny?“
Oh Gott, was widerlich!
Nachdem er sich von Elli verabschiedet und noch einmal ihre Kochkünste gelobt hatte, machte sich Harold auf den Weg in den ersten Stock, in welchem sich das Gästezimmer befand.
Es war mittlerweile 20.35 Uhr. ´Wann dieser Fettsack wohl ins Bett mußte?´ Harolds Entschluß stand fest: er würde dieses Kind heute Nacht besuchen; er würde sich lautlos an sein Bett heranschleichen, würde sich vorsichtig um seinen fetten Körper schlängeln und dann durch eine plötzliche Muskelkontraktion ...
Nein, er würde ihn nicht sofort zerquetschen, er wollte seine vor Panik aufgerissenen, verquollenen Augen sehen, wie sie ihn anstarrten; und bevor sein jämmerliches Herz vor Schrecken und Angst aufhörte zu schlagen, würde er seine Zähne einsetzen. Wo genau, daß wußte er noch nicht; vielleicht der Hals? Oder die Augen?! Harolds Erregung wuchs von Sekunde zu Sekunde mehr an.
Und plötzlich dieser Schrei aus dem Wohnzimmer: „Jonathan! Leg´ das sofort weg!!“ Es war Elli! Dann wieder: „James, James, um Gottes Willen, der Junge hat ein Feuerzeug!“
Harold zuckte zusammen. So kurz vor der Verwandlung kamen bereits einige animalische Instinkte zum Vorschein; und da reichte schon das Wort ´Feuer´ aus, um die ersten Vorläufer einer Panik in ihm wach zu rufen. Tagsüber machte ihm so etwas nichts aus, aber so kurz vor Sonnenuntergang ...
„Elli, beruhige dich wieder. Ich habe es bereits.“ Das war James´ Stimme.
Harold versuchte sich ebenfalls zu beruhigen, und mit einigen kräftigen Atemzügen gelang ihm das auch. ´Meine Güte, warum machten die da unten einen solchen Aufstand?´ Es wurde Zeit für ihn, in sein Zimmer zu kommen; und für diesen Schreck sollte der Junge erst recht bezahlen. Vielleicht würde er auch nach getaner Arbeit ein Zimmer weiter kriechen. Ins Schlafzimmer der Eltern!
Auch bei diesem Gedanken stieg seine Erregung, und er beeilte sich auf sein Zimmer zu kommen.
Die Verwandlung ging schnell und schmerzlos von statten. Eigentlich wie immer. Trotz der Verformung sämtlicher Knochen, verspürte Harold Bannerman nicht den geringsten Schmerz. Mit den Jahren hatte er auch gelernt, sein zweites Ich bewußt wahr zu nehmen. Er konnte logisch denken und besaß trotzdem alle Instinkte und Fähigkeiten eines übergroßen Reptils.
Harold rollte sich vor dem Bett zusammen und blickte zur Tür. Die an der Spitze gespaltene Zunge schoß ununterbrochen aus seinem Mund. Gut, er konnte in seiner zweiten Gestalt nicht hören, aber das wurde durch die Fähigkeit kompensiert, Temperaturen zu sehen, und zwar auch dann, wenn sich zwischen ihm und der Quelle ein weiterer Gegenstand befand, wie zum Beispiel diese Tür!
Aber im Moment war der Flur hinter seiner Schlafzimmertür kalt. Harold würde warten. Er öffnete seine Kiefer und die dolchartigen Eckzähne klappten nach vorne. Beim Schließen der Kiefer legten sie sich automatisch in eine Art Tasche direkt neben den unteren Kieferknochen. Völlig ungefährlich für ihn; aber nicht für sein Opfer. Harold rollte sich ein wenig enger zusammen und wartete.
Um 23.15 Uhr sah er sie! Drei Temperaturquellen passierten seine Schlafzimmertür. Er erkannte sofort die kleine, dicke Quelle, und er merkte, wie seine Giftdrüsen mit ihrer Arbeit begannen. Er würde noch eine gute halbe Stunde warten, bis alle schliefen, und dann war es endlich wieder einmal soweit!
Um 23.50 Uhr öffnete Harold seine Tür. Es war für ihn nicht das geringste Problem, derartige Dinge zu tun, sein Körper hatte schließlich eine Länge von knapp sechs Metern, und er konnte diesen bis zu einer Höhe von etwa zwei Metern aufrichten. Also, kein Problem für ihn, irgendwelche Türen zu öffnen!
Harold schlängelte sich an der Flurwand entlang und erreichte nach kurzer Zeit eine Tür zu seiner Linken. Etwa zwei Meter vor ihm befand sich eine Weitere. Er wußte nicht, welches das Kinderzimmer des dicken Jungen war, also öffnete er die Tür direkt neben sich. Er hatte Glück!
Das Mondlicht fiel durch das Fenster hinein und verwandelte das Zimmer in eine gespenstische Landschaft aus riesigen Stofftieren und umgeworfenen Spielzeugautos. Direkt neben dem Fenster befand sich ein großes Bett.
´Genau richtig für so einen fetten Kloß!´ dachte Harold zischelnd. Er wand sich über die Schwelle und schob die Tür mit seiner Schwanzspitze leise wieder ins Schloß. Er züngelte, doch aus Richtung des Bettes war keine Temperatur zu spüren. ´Wo war der Fettsack?´ Harold kroch vorsichtig näher an das Bett heran.
Und im selben Moment vernahm er von rechts eine unheimlich starke Hitzekonzentration. Sein Kopf fuhr herum. Der fette Junge saß in der hintersten Ecke des Zimmers im Schneidersitz, mit dem Rücken zu ihm gewandt. Harold konnte durch ihn hindurch die noch stärkere Hitzequelle erkennen. Dann drehte sich der Junge zu ihm um, und Harold erkannte den glitzernden Gegenstand in seiner verquollenen Hand. Der Junge hielt ein Feuerzeug! Und hinter dem Jungen begann die Tapete bereits Feuer zu fangen.
Harold riß die Augen auf. ´Dieser verdammte Idiot ist ein Pyromane´! schoß es ihm durch den Kopf.
Und dann gewannen seine Instinkte die Oberhand. Feuer! Tod! Sicherheit! Versteck! Feuer ...Versteck ...
Sein Körper schnellte nach vorne, Richtung Bett. Sicherheit ... Versteck ...Tod ...
Er kroch unter das Bett, rollte sich zusammen und preßte sich gegen die Wand.
Sicherheit ... Sicherheit ... Sicherheit ...
Sein logischer Menschenverstand sagte ihm, daß er hier heraus mußte, und zwar durch die Tür! Durch die Tür! Aber sein Körper bewegte sich keinen Millimeter.
Sicherheit ... Sicherheit ... Versteck ... Sicherheit!
Er sah, wie der fette Junge am Bett vorbei rannte; er sah, wie er die Kinderzimmertür aufriß; er sah, wie er sie wieder hinter sich zuwarf. Er sah zwei weitere Wärmequellen vor der Tür vorbei rennen, und er wollte hinterher. Seine Knochen begannen sich wieder zu verformen.
Sicherheit! ...
Die Feuerwehr aus Curnie hatte den Brand um 2.05 Uhr unter Kontrolle. Jedoch nur insofern, daß er nicht auf die angrenzenden Häuser übergriff. Das Haus von James und Elli Barrow brannte bis auf die Grundmauern nieder.
Die Trauerfeier für Harold Bannerman fand am übernächsten Morgen um 11.20 Uhr statt.
Jonathan Barrow mußte auf Anraten von Doc Richard J. Morse und mit dem Einverständnis seiner Eltern, für unbestimmte Zeit in die geschlossene Abteilung der Kinderklinik von Curnie, da seine letzte Brandstiftung erst drei Monate zurücklag und es sich hierbei um eine Folgetat handelte.
Eine Folgetat mit ´Menschenopfer´.