Mitschuld
Meine erste Kurzgeschichte. Kritik ist absolut erwünscht.
MITSCHULD
Dicke Tropfen prasselten auf die Windschutzscheibe des Landrovers. Es regnete in Strömen. Binnen kurzer Zeit hatte sich der Sommerhimmel verdunkelt und seine Schleusen geöffnet. Clive Roberts fluchte innerlich. In einer scharfen Rechtskurve lenkte er seinen Geländewagen von der gut ausgebauten Straße in einen kleinen Waldweg.
Es begann zu dämmern.
Roberts schaltete die Scheinwerfer an, um dem kurvigen Verlauf des Waldwegs folgen zu können. Das grelle Licht ließ den Wald unwirklich erscheinen. Hier und da wucherten tiefhängende Zweige über den Weg, die den Wagen vom Weg abzubringen drohen. Gekonnt wich Roberts den Hindernissen aus und preschte in unheilvollem Tempo durch die Baumreihen.
„Nur die Ruhe bewahren“, dachte er. „Jetzt oder nie“.
Durch den Regen drang das dumpfe Wummern eines Helikopters, das immer mehr zu einem monotonen Knattern wurde. Der Helikopter kam schnell näher. Roberts schaltete einen Gang höher. Er verspürte ein leichtes Gefühl der Panik in sich aufkommen.
Auf dem Beifahrersitz saß Fiona Smith. Der Anblick, wie sie da saß, benommen und ausgelaugt, machte Roberts Angst. Ihre rechte Hand betastete vorsichtig eine blutende Wunde, die in ihrem Bauch klaffte. Die Erschütterungen des Jeeps ließen sie aufstöhnen.
„Wie weit ist es noch?“, brachte sie klagend hervor.
„Halte durch, noch fünf Minuten“
Aus den fünf Minuten sollten eine Ewigkeit werden.
Roberts lenkte den Jeep auf eine Lichtung und hielt an. Der Helikopter war jetzt bedrohlich nahe. Von der Lichtung verschwanden drei Wege in dem Dunkel des Waldes.
„Du musst wieder in den Wald“, schrie Fiona. „Hier sind wir leichte Beute“.
Nicht zum ersten mal fühlte sich Roberts handlungsunfähig. Instinktiv wählte er einen der drei Wege. Es dauerte einige Sekunden, wertvolle Sekunden, ehe der Jeep unter durchdrehenden Reifen wieder unter die schützenden Baumkronen verschwand.
Schweißperlen glitzerten jetzt auf Roberts Stirn. Lange würde er die Strapazen nicht mehr durchhalten. Seit mehr als drei Stunden waren er und seine Freundin nun schon auf der Flucht. Dabei hätte alles so einfach sein können.
Roberts merkte nicht, wie ihm die Augen langsam zufielen und die Geschehnisse der letzten Stunden an seinem geistigen Auge vorbeizogen.
Fiona und er hatten in einen Juwelierladen einbrechen wollen. Seit drei Jahren war seine Freundin in jenem Laden angestellt und genoss das volle Vertrauen des Inhabers Dr. Haverkamp. Mehr als einmal hatte sie dafür mit ihm ins Bett gehen müssen. Und alles nur, um seine Hirngespinste Wirklichkeit werden lassen. Nie hatte sie sich gegen seine Anweisungen gesträubt. Nie.
Nun wusste sie besser als kein anderer über die Sicherheitseinrichtungen bescheid. Eigentlich ein todsicherer Coup. Nur in der letzten Nacht war alles anders gewesen...
Der alte Sack war um ein Uhr nachts noch in seinem Laden gewesen – wahrscheinlich über seinen Büchern eingeschlafen. Der Lärm hatte ihn aufgeweckt und reflexartig den Alarmknopf drücken lassen. Von da an war alles schief gelaufen.
Sekunden später hatte eine Kugel den Bauch des Alten durchschlagen und Haverkamp war keuchend zusammengebrochen. Er, Clive Roberts, hatte einen Menschen auf dem Gewissen. Er war ein Mörder. Eigentlich war so ein Mord gar nicht geplant gewesen, doch die Situation eskalierte.
Die Polizei war schneller gewesen als je zuvor. Roberts hatte einen Polizisten angeschossen und war mit Fiona zum Wagen gerannt. Vielleicht hätten sie es durch den Wald noch rechtzeitig zum Flughafen geschafft, wäre da nicht der bescheuerte Polizist hinter dem Streifenwagen gewesen.
Fiona war auf dem kurzen Sprint plötzlich blutend und schreiend zusammengebrochen. Eine Kugel hatte sich in ihren Unterleib gebohrt.
Irgendwie hatte Roberts seine Freundin in den Wagen gezerrt und den Wagen gestartet.
Jetzt fuhren sie, angetrieben durch mehrere Streifenwagen und einen Helikopter, durch den Wald und hofften verzweifelt, irgendwie noch den Flughafen zu erreichen. Lebend.
Ein markerschütternder Schrei riss Roberts aus seiner Trance. Fiona griff ihm krampfhaft ins Lenkrad. Roberts riss die Augen auf und sah überall nur Bäume im Lichtkegel der Autoscheinwerfer aufblitzten. Sein Reflex wurde ihm zum Verhängnis. Ohne einen klaren Gedanken zu fassen drückte er auf die Bremse, in der Hoffnung den Jeep zu stoppen. Doch auf dem aufgeweichten Waldboden schien nichts den tonnenschweren Geländewagen aufhalten zu können.
Außer der nächste Baum.
Mit ungeheurer Wucht prallte der Jeep frontal auf. Im nächsten Moment sah Roberts seine Freundin durch die Windschutzscheibe fliegen. Wie eine Filmsequenz wiederholte sich das Horrorszenario wieder und wieder. Roberts begann zu schreien. Es war ein verbitterter Schrei.
Fetzen von Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Inständig hoffte er, Fiona sei noch am leben.
Doch Fiona Smith war tot. Sie hatte sich nicht angeschnallt und war durch den Aufprall durch die Windschutzscheibe und schließlich gegen den Baum geschmettert.
Genickbruch.
Nach einer hoffnungslosen Flucht hatte sie in diesem Waldstück ihren unehrenhaften Tod gefunden..
Benommen vom Schmerz taumelte Roberts aus dem Jeep. Er konnte es einfach nicht realisieren. Träumte er etwa immer noch? Das durfte einfach nicht wahr sein. Bestimmt würde er noch träumen.
Zum zweiten Mal wurde er unsanft aus seiner Trance gerissen.
Durch den prasselnden Regen sah er Licht aufblitzen. Licht, das eindeutig von Autoscheinwerfern herrührte und sich seinen Weg durch die dichten Baumreihen suchte.
Es war die Vorankündigung der Katastrophe.
Waren die scheiß Bullen wirklich so dicht hinter ihnen? Jetzt blieb ihm nicht mal mehr genug Zeit, sich von seiner Freundin zu verabschieden. Nie würde er Fiona wiedersehen.
Nie. Nie. Nie.
Er traute sich kaum, den leblosen Körper seiner Freundin zu berühren. Apathisch war ihr Kopf von der Wucht des Aufpralls verdreht worden. Doch er konnte in diesem Augenblick nichts mehr für sie tun.
Roberts rannte zum Wagen und holte die Beute. Ein Koffer voller Diamanten. Schöne, funkelnde Diamanten von ungeheurem Wert. Nein, scheiß Diamanten. Verdammte scheiß Diamanten, für die er das Leben seiner Freundin riskiert hatte. Und er, Clive Roberts, hatte verloren. Was nützten ihm da noch irgendwelche Diamanten? Dabei hätte alles so schön werden können. Jetzt küsste er ein letztes Mal Fiona, und suchte krampfhaft nach den richtigen Worten.
„Es tut mir leid“, wimmerte er.
„Das alles habe ich nicht gewollt“.
Im nächsten Augenblick verschluckte ihn die Dunkelheit. Die Illusionen und die Habgier des jungen Mannes waren ihm und seiner Freundin zum Verhängnis geworden. Doch er würde für seine Taten, seien sie noch so schlimm, nicht büßen. Nie würde sich Clive Roberts der Polizei ausliefern. Er war eine Kämpfernatur. Er gab nie auf.
Bis zu diesem Zeitpunkt.
Seit einer Ewigkeit, so schien es den Beamten jedenfalls, verfolgten John Scott und sein Partner Peter Warner nun schon das Fluchtfahrzeug. Nur die roten Schlussleuchten des PKW zeigten ihnen ungefähr den Weg. In regelmäßigen Abständen bekamen die Verfolger die genauen Positionsangaben von der Helikopterbesatzung.
Plötzlich war der Wald dunkel.
Dunkel, kalt und ...tot.
Keine roten Leuchten mehr, kein Motorengeräusch. Nichts.
John Scott schluckte. Er ahnte nichts Gutes.
Seit mehr als zwanzig Jahren war er nun schon im Polizeidienst und hatte weiß Gott viel Scheiße miterlebt. Doch was er jetzt sehen musste, als er mit seinem Partner an dem verunglückten Wagen ankam, ließ ihn sich übergeben.
„Das darf nicht wahr sein“, brachte sein Partner voller Entsetzen hervor.
„Hätten wir sie doch nur mit ihrer Beute ziehen lassen“.
Es war das Szenario des Todes. Blut strömte, vom Regen angetrieben, in alle Richtungen. Das Fluchtauto war mit hohem Tempo direkt in einen Baum gerast und dabei völlig zerstört worden.
Warners blickt wanderte nach links. Wenige Meter vom verunglückten Wagen entfernt lag die junge Frau. Ihre Bilder waren vor wenigen Stunden noch durch die Medien gewandert. Schön hatte sie auf den Fahndungsfotos ausgesehen. Lange, braune Haare und ein auffallend schönes Lächeln. Jetzt lag ihr lebloser Körper im Schlamm. Umspült von Blut.
Ihr Genick war gebrochen – offensichtlich.
Noch bevor Verstärkung eintraf, hörten die Beamten einen Schuss. Vögel flogen ganz in der Nähe erschreckt in den Nachthimmel. Der Schall bahnte sich seien Weg durch den Wald, bis er die beiden schockierten Polizisten erreichte.
Scott musste sich abermals übergeben.
Dann Stille.
Der Regen prasselte beständig auf den Waldboden nieder und nichts schien die angenehme Stille des Waldes an diesem verregneten Spätsommerabend je gestört zu haben.
Wären da nicht Clive Roberts und seine verhängnisvollen Visionen gewesen.