Mondenkind
Der Tag neigte sich dem Ende. Sehnsüchtig erwartete Anna diesen, für sie magischen, Moment. Anna drückte ihre Nase an die Fensterscheibe und beobachtete, wie die Sonne hinter der Häuserreihe gegenüber verschwand. Ihre Augen glänzten mit jedem Stück mehr. Anna streifte wie jeden Abend ihren schwarzen Kapuzenpullover über und griff nach der Sonnenbrille.
„Jetzt, Mama?“, fragte sie und sprang nervös von einem Fuß auf den anderen.
Ihre Mutter lugte aus dem Fenster.
„Noch ein wenig, Schatz. Dann gehen wir.“
Sie beugte sich zu ihrer Tochter hinab und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Anna spinkste wieder aus den Fenster. Die Sonne war fast vollständig verschwunden. Nur ein dünner Rand war noch zu sehen.
„Aber jetzt, Mama? Oder?“, quengelte sie wie jeden Abend.
„Ja, Liebling. Jetzt gehen wir raus. Hast du deine Brille?“
Anna schob ihre Kapuze tief ins Gesicht und reckte ihre Sonnenbrille triumphierend wie einen Pokal in die Höhe.
Der Sprung von der letzten Treppenstufe war ein allabendliches, liebgewordenes Ritual geworden. Es war ein Sprung in die Freiheit. Eine kurze zwar nur, aber sie war frei von dieser schweren, klobigen und hässlichen Schutzkleidung, die sie sonst tragen muss.
Ein lautes Kinderlachen hallte durch die kleine Straße.
Die Mondsichel versteckte sich hinter einer Wolke während Anna auf ihrem Rad in der Straße hin und her fuhr und spielte. Für einen kleinen und viel zu kurzen Moment waren beide glücklich.