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Morgentau und Honigwein

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24.08.2003
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Morgentau und Honigwein

Der Geist ist willig, aber das Fleisch kann nicht mehr. Dünn geworden strömt das Blut durch meine Venen, antriebslos und müde bin ich, den ganzen Tag lang.
Ich denke viel nach, wenn ich nicht schlafe. Oder ich verbringe die Zeit vor dem PC, höre Musik, Qntal zum Beispiel, oder Enya. Nichts, was mir früher gefallen hätte. Die sanften Klänge lullen mich ein und tragen mich fort, in eine Welt jenseits von Tränen und Verlust und Tod. Manchmal greife ich noch zur Harfe, meine Finger huschen dann über die Saiten, die Töne beruhigen mich. Aber Harfe spielen ist anstrengend, und dann muss ich schlafen.
Ich liege hin und wieder in der Badewanne, habe das Wasser so heiß gemacht wie nur möglich. Dann wird meine blasse Haut manchmal noch rosig. Aber ich mache es nicht oft, denn mein Haar ist dann immer nass und strähnig. Damals, als es noch ausgesehen hat wie in der Shampoowerbung im Fernsehen, habe ich es immer über die Lehne des riesigen Ledersessels vor meinem PC gehängt. Damals, als es noch schimmerte und glänzte, als ich es jeden Tag wusch und Unmengen von Spülung verbrauchte, war es mein ganzer Stolz.
Jetzt ist es ein geflochtener Zopf. Er liegt auf meiner Schulter, rutscht unter die Bettdecke, kitzelt meinen nackten Po. Wenn ich mich anders hinsetze, sind die Haare an meinem Oberschenkel und kitzeln dort weiter.
Den ganzen Tag lang spiele ich blöde Spiele, verzocke meine Zeit. Morrowind hat es geschafft, mich für eine Woche zu fesseln. Dann kam Tetris. Seit zwei Wochen stapeln sich bunte Blöcke aufeinander, verschwinden mit einem Ton im Nichts und bauen sich höher, dem Game Over entgegen.
Ich lese eine Menge. Gedichte, Bücher, Zeitschriften, solange es mich nur beschäftigt. Morrowind ist kein guter Zeitvertreib. Man ist zu viel unterwegs, hat zu wenig Action.
Ich bin einsam geworden, seit die Medikamente mich blass und zerbrechlich gemacht haben. Meine Freunde sind mir nicht aus dem Weg gegangen – ich habe sie von mir gestoßen, als mir klar wurde, dass ich ihnen nicht wehtun konnte.

„Wo bist du die ganze Zeit gewesen?“, brüllt er über das Schlagzeug hinweg, das mit seinen hämmernden Rhythmen den Takt des Flashlights und der Tänzer vorgibt. Der Raum pulsiert, der Sänger schreit, die Gitarren sind akustisches Fieber. Doch die Klänge ergeben ein Ganzes, aus dem Chaos heraus destilliert sich eine Ordnung, die vielleicht nur ein Metaller erkennen kann.
In der ersten Reihe fliegen lange Haare, als schwarz gewandete Gestalten tanzen. Sie sind manchmal geschminkt, manchmal nicht, schimmernd weiße und dunklere Gesichter unter dem Schwarzlicht, sie werden vom Flash geschluckt und von der Dunkelheit wieder ausgekotzt. Meine Haut ist nicht bemalt, mein Gesicht leuchtet nicht, aber fast, weil ich so blass bin.
„Ich war beschäftigt…“ brülle ich zurück In der ersten Reihe fällt jemand, die Gestalten rechts und links halten mit ihren Schultern die Lücke offen, der Gestürzte steht wieder auf, schwarze Lippen, weiße Haut, Blitz, Dunkel, Blitz. Auf seiner Wange ist irgendein Zeichen zu sehen, vielleicht ein Drudenfuß.
„Was war denn?“
„Ich ziehe weg, nach Amerika“, erkläre ich, und wie jeder geübte Diskogänger liest er von meinen Lippen ab.
„Warum das denn so plötzlich?“
Ich blinzle, die blutleer gewordenen Lider halten die Tränen zurück.
„Studium!“
Er schließt die Augen, ein schwarzer Kajalstrich wird sichtbar, seine Wimpern sind kleine Halbmonde auf seiner weißen Haut. Früher hätten wir zusammen in der ersten Reihe gestanden, Schweiß, Blut und Tränen, nur, um dabei zu sein. Jetzt kann ich das nicht mehr, meine Zwanzigloch-Stiefel glänzen und sind wieder verschwunden, das Schlagzeug diktiert den Flash, das Schwarzlicht diktiert die Pausen. Irres Blitzlichtzucken, irrer Tanz, irre Schreie. Ekstase bei den Tänzern, Ekstase bei der Band, Ekstase in der Kasse am Getränkestand, der heute ein Vermögen verdient. Tanzen macht durstig, ich habe immer noch mein erstes Glas Met, der Wein ist immer noch eiskalt. Ich nippe daran, wärme ihn in meinem Mund, betrachte den Lippenstiftabdruck auf dem Rand des Glases, schmecke die bittersüße Flüssigkeit, die durch meinen Körper bis in meinen Magen rollt.
„Du bist so dünn geworden“, unterbricht er meine Gedanken. Wie früher legt er mir die Hand auf die Hüfte, wie früher, als wir die Nacht durchgetanzt haben, eine wirre, alkoholisiert-bekiffte Party, als morgens um sieben ein Walzer aus den Boxen kommt und wir die Tanzfläche für uns allein haben. Es ist der letzte Tanz des Morgens, danach bringt er mich nach Hause, umarmt mich zum Abschied. Ich habe noch seinen Geruch in der Nase, Schweiß, After-Shave, Zigarrettenrauch, Honigwein. Der Morgentau war auf den Blüten der Rose, die er vom Stängel brach, die er mir ins Haar steckte. Später würde sie auf meinem Nachttisch liegen, bis sie verdorrt sein würde, aber weggeworfen haben würde ich sie nicht, bis heute nicht.
Seine Hand liegt glühend heiß auf meinem Hüftknochen, er sticht aus dem Fleisch. Ich wiege noch fünfundfünfzig Kilo, mit Absätzen bin ich einen Meter und fünfundsiebzig Zentimeter groß. Meine Haare sind weich auf meinen Schultern, das Kleid schlackert an meinem Körper, ich hätte es enger nähen müssen.
Seine Lippen nähern sich meinem Ohr, er nimmt mich in den Arm. Dankbar lehne ich meine Stirn an seinen Hals, wundere mich darüber, wie warm er ist. Ich kann seinen Puls spüren, er hat getanzt, wirre Strähnen umrunden sein Gesicht.
„Du darfst nicht nach Amerika gehen“, sagt er leise, so leise, dass ich fast nur den Sänger höre, der Texte von Blut und Tod und Tränen in sein Mikro schreit. „Du musst doch bei mir bleiben, Prinzessin, ich liebe dich doch…“
Er weicht zurück. Seine Augen glänzen, das Licht zuckt, das Schwarzlicht lässt ihn leuchten.
Ich schließe die Augen. Das hat er mir nie gesagt.
„Blut, Blut, Angst und Tod, Angst vor Tränen, deine Angst, komm wieder, reiß mich doch in Stücke, töte mich doch, wenn du kannst…“ Der Text ist kristallklar zu verstehen, das Schlagzeug pausiert, die Gitarren untermalen mit rhythmischen Riffs den Gesang.
„Das kann ich nicht, ich kann nicht bleiben.“
Das Weinglas stürzt, zerbricht, Scherben auf dem Boden. Kalter Wind auf meiner Haut, seine Rufe in meinem Ohr, aber der Weg nach Hause ist nicht weit. Er steht nicht unter meinem Fenster, er ist gar nicht da.

Das Fleisch würde können, aber der Geist ist schwach geworden. Ich liege in der Badewanne, die Haare aufgesteckt, der Schlaf in den Augenwinkeln lauernd. Ich lese, aber die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. „… fass dir ein Herz, nur Mut, greif wacker in die Saiten, dann führt der Tod dich sanft und gut in unbekannte Weiten.“ Ein Lied, ich würde gern die Melodie dazu kennen, aber in dem Buch steht sie nicht, es ist ein Roman.
Die Katze springt auf das Klo und miaut. Ich betrachte sie, sage nichts. Auf meinem Körper, Blutergüsse, wo seine Hände mich berührt haben. Das Wasser wärmt mich, der Sarg wird kalt sein. Auch das Buch kann nichts daran ändern, nicht einmal das Gedicht. Wenn das Wasser kalt wird, muss ich dann sterben?

 

Ha, ich bin die erste!!!
@Vita Da hast du ja die halbe Nacht durchgemacht! Ja, der Text hat mich auch sofort gefangen, berührt. Wunderbar, wie du mit den einzelnen Bildern die Stimmung der Jugendlichen (richtig?) und die Verzweiflung dieses totkranken Mädchens andeutest, Klasse! :thumbsup: Merkwürdige Beziehung, wenn er nicht merkt, wie es ihr geht, ihr nicht folgt! Mir war nicht garnz klar, ob sie wirklich ein Paar sind oder nicht. Aber vielleicht soll das ja auch gerade ein Zeichen für die Unverbindlichkeit sein.
Das einzige, was ich zum Text anzumerken habe: Wenn ihr Haar sie am Po und auf den Oberschenkeln kitzeln, dann müsste sie doch nackt sein oder? ;)
liebe Grüße
Charlotte

 

Hallo vita,

mit hat deine Geschichte in ihren Andeutungen auch gut gefallen, auch wenn ich nicht genau weiß, ob du in den Symptomen der Krankheit immer richtig liegst. Aber die lässt du ja ohnehin im Dunkeln.
Ein paar Anmerkungen noch:

vielleicht ein Drudenfuß
Druidenfuß ?
Ekstase in der Kasse am Getränkestand, der heute ein Vermögen verdient.
Die Kasse?
Es war der letzte Tanz des Morgens, danach brachte er mich nach Hause, umarmte mich zum Abschied. Ich habe noch seinen Geruch in der Nase, Schweiß, After-Shave, Zigarrettenrauch, Honigwein. Der Morgentau war auf den Blüten der Rose, die er vom Stängel brach, die er mir ins Haar steckte, die ich später auf meinen Nachttisch liegen hatte, bis sie verdorrt war.
Dieser Tempuswechsel scheint mir bei aller Motivation dazu falsch zu sein. Versuche es mal so:
Es ist der letzte Tanz des Morgens, danach bringt er mich nach Hause, umarmt mich zum Abschied. Ich habe noch seinen Geruch in der Nase, Schweiß, After-Shave, Zigarrettenrauch, Honigwein. Der Morgentau perlt auf den Blüten der Rose, die er vom Stängel brach, die er mir ins Haar steckt. Später würde sie auf dem Nachttisch verdorren.
den Schlaf in den Augenwinkeln lauernd.
mE der Schlaf (jedenfalls erschließt sich mir der Akkussativ nicht.

Lieben Gruß, sim

 
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Hallo sim und tamara,

vielen lieben Dank fürs Kritisieren :) Die von dir bekrittelten Fehler, sim, habe ich, wenn nicht verbessert, doch wenigstens bearbeitet ;)


Zitat:
vielleicht ein Drudenfuß
Druidenfuß ?
Nein, das ist schon richtig, das ist das richtigrume Pentagramm, ein Bannsymbol gegen den "Druden". Ich würde das ja raussuchen, als Link, aber ich sitze nicht an meinem PC, und Norton sagt, das sind alles böse Satanistenseiten und ich habe da nichts zu suchen.

Ekstase in der Kasse am Getränkestand, der heute ein Vermögen verdient.
Die Kasse?
Nö, der Getränkestand :)

Ob ich mit den Symptomen der Krankheit richtig liege, weiß ich nicht. Was nicht der Krankheit zuzuschreiben ist, bewerte ich erstmal als psychosomatisch, bis mich jemand eines Besseren belehrt ;)

Die von tamara bekrittelte Anmerkung habe ich auch editiert, vielen Dank fürs Lesen

Nachts um drei - ja, tja, ich brauche zwei PCs, ich betreibe Multiaccounting bei MUonline, weil sonst mein Account gehackt und meine Items geklaut werden könnten, und mein Bruder wollte früh ins Bett, sonst hätte ich ja noch gezockt... :comp:

vita
die jetzt gleich auf einen Con fährt...
:bounce:

 

@vita: Nachts um drei scheinst du aber noch reichlich fit zu sein, um so eine gute Geschichte zu schreiben? Wenn sim da was über die Symptome der Krankheit andeutet, habe ich da was nicht mit gekriegt? Ich finde es eigentlich nicht sooo wichtig, was sie nun genau hat, bin jetzt nur verwirrt. Übrigens ist mir eingefallen, dass ich damals, als ich ungefähr 17 war, den Blindarm raus bekam. Und ich habe mich nicht getraut, auf meinen Schwarm zu zugehen.
Klar, ist nicht soo gefährlich, aber ich dachte wirklich: Wenn ich jetzt sterben würde, erfährt er nie, wie sehr ich in ihn verknallt bin. Manchmal hat man mehr Angst vor dem Leben als vor dem Sterben. *seufz*
viele liebe Grüße
tamara

 

Hi tamara,

jo, mein Schlafrhytmus tehdiert gegen "von fünf bis achtzehn uhr schlafen aber von skrupelloser mutter um zwei aus dem bett geworfen werden" ;)

schön, dass dir meine geschichte gefallen hat. und danke für die kritik, hat mich gefreut, das von dir zu lesen

gruß
vita
:bounce:

 

Hi Red Right Hand,

auch solche Kritiken muss es geben, und ich freue mich, dass du deine doch so unkonstruktive Kritil aufgeschrieben und abgeschickt hast! ;)
danke!

vita
:bounce:

 

Hi Vita!

Ich hab da auch nicht mehr viel hinzuzufügen.
Tolle Geschichte, gut geschrieben.

In diesem Sinne
c

 

hi chazar,

auch dir ein herzliches Danke!

gruß
vita
:bounce:

 

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