Nein, ich bin kein Roboter - Klick
6.29 Uhr. Nicht 6.30 Uhr. Sein Handywecker der neuesten Iphonegeneration schleudert Dr. Robert F. Sollmüller aus dem Land der Träume. An dieses Land hat er schon lange keine guten Erinnerungen mehr. Eine Minute vor der eigentlichen Zeit möchte er sein. Er möchte schneller sein als die Zeit. Seine Autouhr ist auch 3 Minuten vorgestellt, dass er nie zu spät kommt. Als er noch jung war, hatte er noch Träume. Er träumte von hübschen Klassenkameradinnen. Wie sie aussahen mit und ohne hübsche Kleider. Träumte von Urlauben in einem fernen Land mit Buschhütten am Strand. Träumte von Kokosnüssen und eigenen Ziegen im Garten. Er träumte von Winfried Schäfer und dass sein Lieblingsverein im DFB-Pokalfinale stehen würde. Als Kind zog er mit seinen Kumpels nach der Schule immer wieder durch die Wälder. Baute Staudämme. Suchte Holz für das Lager und vergrub heimlich Biermischgetränke aus Papas Getränkekeller im Wald. Das war damals ein riesen Ding. Dabei verlor er ständig das Werkzeug seines Vaters im Wald. Und immer musste er durch die Waschküche die Wohnung betreten. So dreckig und gleichzeitig glücklich war er. Er hatte eigentlich eine glückliche Kindheit.
Dann stand man plötzlich auf irgendwelchen Bühnen. Man hatte Zeugnisse in der Hand. Zog immer schickere Sachen an. Irgendwann stand man im Anzug da. Er wohnt jetzt in einer Innenstadtpenthousewohnung. Muss sich ständig entscheiden. Warten oder klicken. Nach rechts oder links wischen. Wollen sie den nächsten Clip sehen? Dann warten sie 15 Sekunden, 14 Sekunden. „Ach, leck mich.“ Überspringen. Die Möglichkeiten nutzen. Alles rausholen. Nichts entgehen lassen. Chancen nutzen. Mindestens ein Bild pro Monat aus dem Ausland posten. Praktika und Berufserfahrung haben. Und ja nicht scheitern. Man musste Profile entwickeln und Captchas beantworten und ständig sagen. „Nein, ich bin kein Roboter. Ich lebe noch.“
Nun ist es schon 6.32 Uhr. Zwei Minuten Afterweckersnoozetime sind in seinem Schedule jeden Tag veranlagt. Um 6.34 Uhr beginnt die vollautomatische Kaffeemaschine mit dem Selbstreinigungsprogramm um betriebsbereit zu sein. Um 6.36 Uhr dann ein Fair-Trade-Kaffee aus Äthiopien genießen. Den Kaffee natürlich schwarz. Man tut ja schließlich was für die schwarzen Mitmenschen. Kaffee schwarz. Sein Erkennungsmerkmal. Klingt das geil, wenn man gefragt wird. Kaffee schwarz wie die Nacht. Mit ein bisschen Milch klingt bescheuert. Nichts verpassen. Süddeutsche Zeitung im Jahresabbo lesen. Ein Apple ins Müsli. You know the doctor. Mindestens zwei Kaffee mussten es sein.
Einen zum Frühstück.
Einen im Gehen, wenn er die Autoschlüssel schon in der Hand hatte. Die Tür zweimal abschließen. Die Welt ist ja böse geworden, oder? Überall lauern doch Gefahren. Phishing, Spam und Hacks.
Danach eine Pushmitteilung seiner Sekretärin auf dem Handy lesen. Seine Termine: Drei Meetings und zwei Videokonferenzen mit Indien und eine mit den Staaten.
Auf dem Weg zur Garage begegnet ihm jemand, der seinem Leben einen ordentlichen Arschtritt verpasst. Keine Tinderbekannschaft. Keine Traumfrau. Kein Zeuge Jewohas. Viel einfacher - aber so schön. Hinter den Altpapierkisten liegt eingewickelt in alte Süddeutsche Zeitung ein Obdachloser, der wohl die Nacht auf dem Anwesen in der Einfahrt des Herrn Sollmüllers verbracht hatte.
„Guten Robert, ich hoffe Du hast gut geschlafen. Ich habe mir ein paar Zeitungen geborgt. Die brauchst Du nicht mehr, oder? Ist ja Altpapier. Ich will Dich aber nicht aufhalten und deine kostbare Zeit stehlen. Tut mir Leid, dass ich ich hier…“ Stille.
Ein kurzer Moment. Knistern in der Luft legt sich auf diesen grauen Novembermorgen. Man hätte ihn definitiv anzeigen können. Hausfriedensbruch. Doch irgendwie erinnert ihn der lottrige Typ an jemand oder etwas. An eine Situation. Doch, ja er kannte ihn. Ein Gefühl. Irgendwas in seinem Synapsenzirkus ändert sich. Irgendwas zog ihn aus dem Hamsterrad, in dem er Tag für Tag den Strom des Lebens strampelt.
An diesem Tag geht der gute Robert nicht zur Arbeit. Er nimmt sich Zeit. Zwei Menschen in einer Großstadt gehen zusammen frühstücken in einer Cafeteria um die Ecke. Einer im Anzug. Einer in einem Bundeswehr-Parka. Sie reden viel und lange. Einer trinkt Kaffee schwarz und ein anderer Kaffee mit ein bisschen Milch. Sie hören sich zu und vergessen die Zeit. Sie reden über seine Spielsucht und über Roberts Trennung. Sie plaudern über Gemeinschaftsunterkünfte und Burn-Out-Symptome. Über Schlafstörungen und Tafelläden. Sie philosophieren über den sinnlosen Videobeweis und wie schwer es die Schiedsrichter haben. Zwei Männer, die Zeit haben und keine Termine. Sie reden über früher.
In der Nacht träumt Robert F. Sollmüller von der hübschen Bedienung in der Cafeteria. Die mit den goldbraunen Backen, Röhrenjeans und den hübschen blonden Zöpfen. Sie hat so lieb gefragt hat. „Ist alles in Ordnung bei euch?“ „Ja, danke, wir sind sehr zufrieden. Danke“
Dann klingelt der Wecker. Nun ist es 6.30 Uhr. Heute steht er später auf.