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Nervenkitzel

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02.01.2002
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Nervenkitzel

Mutproben, immer wieder Mutproben. Timo konnte nicht genug davon bekommen. Wir kletterten auf die Apfelbäume unserer Nachbarn, wir durchquerten barfuß den Fluss am Stadtrand und wir ärgerten den bissigen Hund des Metzgermeisters. Einmal wurden wir um ein Haar erwischt, wie wir auf dem Autodach unseres Lehrers herumtobten. Wir konnten gerade noch Reißaus nehmen, bevor er uns entdeckte. Anschließend hatte Timo über uns gelacht, während wir keuchend hinter der nächsten Ecke Schutz suchten. Ich hasste ihn in diesem Moment, hasste sein selbstgefälliges Grinsen. Ich schwor mir, nie wieder eine seiner blöden Mutproben mitzumachen, ihm beim nächsten Mal ins Gesicht zu blicken und mich zu weigern. Und gleichzeitig wusste ich, dass ich es nicht tun würde.

Es war ein Frühlingsabend. Der Nachhauseweg vom Kino führte am alten Friedhof vorbei. »Lass uns mal drübersteigen«, sagte Timo in selbstverständlichem Ton und zeigte mit seiner Bierflasche auf die Mauer. Es war nicht das erste Mal, dass er den Friedhof in seine dämlichen Mutproben miteinbezog. Kay, ein Junge aus unserer Clique, hatte vor ein paar Wochen einen Blumenstrauß von einem frischen Grab klauen müssen. Keine große Sache, aber mir war mulmig dabei zumute gewesen. Nicht wegen der Gefahr, erwischt zu werden. Sondern weil es ein Friedhof war. Timo hätte mich ausgelacht oder Schlimmeres getan, wenn ich es gesagt hätte, aber es gefiel mir nicht, diesen Scheiß an solch einem Ort durchzuziehen. Es gefiel mir damals nicht und es gefiel mir auch jetzt nicht.

Timo kniff die Augen zusammen. »Schiss, hm?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. Timo betrachtete mich nachdenklich, trank einen Schluck Bier und warf die leere Flasche ins Gras. Anschließend trat er so nah an mich heran, dass ich den Alkohol in seinem Atem riechen konnte. Er grinste. »Komm schon. Es wird Spaß machen.«

Das sagte er immer, wenn wir zögerten. »Es wird Spaß machen.« Manchmal machte es das tatsächlich. Manche Mutproben waren lustig und nicht so riskant, dass es schlimm wäre, wenn etwas dabei schiefging. Aber manche Mutproben waren so wie mit dem Auto unseres Lehrers. Oder wie mit dem Blumenstrauß.

Einen Moment lang wollte ich mich weigern. Ich fragte mich, was Timo dann unternehmen würde. Mich auslachen? Wütend werden? Mit beidem konnte ich leben. Außerdem war Timo mein Freund. Sicher, er war launisch und er wollte immer alles bestimmen, aber er war zweifelsohne mein Freund. Trotzdem gab es etwas, das mich davon abhielt, ihm zu widersprechen. Ich konnte nie genau festmachen, was mich dazu brachte einem Konflikt mit Timo aus dem Weg zu gehen. Vielleicht war es sein Tonfall, wenn er über frühere Freunde sprach, mit denen er sich einst gut verstanden hatte und die ihm heute mal im Mondschein begegnen konnten. Vielleicht waren es seine zusammengekniffenen Augen, wenn man ihm bei etwas nicht beipflichtete. Vielleicht waren es Erinnerungen wie an das Sportfest, als Timo derjenige gewesen war, der den wahren Grund herausgefunden hatte, warum der Junge aus der Parallelklasse nicht teilnehmen durfte. Kleinigkeiten. Kleinigkeiten, die sich zusammengenommen zu einer Facette in Timos Charakter verdichteten, mit der ich nicht konfrontiert werden wollte. Und vielleicht würde es ja wirklich Spaß machen.

Ich nahm einen kleinen Anlauf, sprang und zog mich an der Mauer hoch. Es war nicht schwierig. Timo nickte anerkennend. Wenn etwas nach seinen Vorstellungen lief, war er großzügig. Er wischte sich die Hände am T-Shirt ab und kletterte zu mir herauf. Mein Blick schweifte über die Gräberreihen.

»Und wenn uns der Wärter erwischt?«, murmelte ich. Timo stieß einen verächtlichen Laut aus. »Was glaubst du, wer schneller rennen kann - wir oder er?«

*

Das Wort »Totenstille« kam mir in den Sinn und beinah hätte ich nervös aufgelacht. Die Ruhe auf dem Friedhof war anders als sonst. Nicht die andächtige Stille eines Nachmittages, die einen mahnte, sich ruhig zu verhalten. Sondern das bedrückende Schweigen des Abends, das einem verriet, dass man unerwünscht war.

Timo unterbrach die Atmosphäre hin und wieder mit einer albernen Bemerkung, während wir durch die Reihen schlenderten. Ich spürte seine Energie in jeder seiner Bewegungen. Es war die Art wie er den Weg entlangschritt, die Art wie er den Kopf drehte, die Art wie er sich umblickte. Alle alkoholisierte Lethargie war von ihm abgefallen. Er blühte auf in seinen kleinen Nervenkitzeln. Wenn ich Timo sah, konnte ich die Menschen verstehen, die einen riskanten Beruf wählten. Sie gingen darin auf. Genau wie er.

Völlig unvermittelt blieb Timo stehen. »Das ist ja cool«, flüsterte er heiser. Ein Leuchten überzog sein Gesicht. Ich wagte es kaum, seinem Blick zu folgen. Als ich es doch tat, entdeckte ich am Wegrand einen Schuppen. Und ich bemerkte noch etwas: Die Tür stand einen Spalt offen.

Timo ignorierte meine Warnungen, dass uns ein Arbeiter ertappen könne und ging zu der verfallenen Hütte. Ich folgte ihm. Aus der Nähe betrachtete war der Schuppen größer als gedacht. Timo spähte durch den Türspalt. Er grinste und zeigte dabei zu viele Zähne.

»Sieh mal an«, sagte er. »Jetzt weiß ich endlich, wo man die alten Särge zwischenlagert.«

Mit klopfendem Herzen hörte ich mir seinen Vorschlag an. Wenn ich den Mut besäße, sollte ich mich in die Hütte wagen und dort mindestens fünf Minuten bleiben. Bei verschlossener Tür. Ich sah zum Schuppen hinüber. Er hatte kein Fenster.

»Warum soll ich alleine reingehen?«, fragte ich. »Hast du etwa Angst?«

Einen Augenblick lang sah Timo überrascht aus. Dann verfiel er wieder in sein unangenehmes Grinsen. »Im Gegenteil. Ich komme gerne mit.«

Ich glaubte ihm sogar.

*

Die Tür quietschte beim Öffnen. Die Luft in der Hütte war staubig und ich unterdrückte ein Husten. An der hinteren Wand erkannte ich einen Stapel Bretter. Sargbretter. Manche waren auf den Boden gerutscht. Ich schluckte.

Sekundenlang schossen mir Horrorszenarien durch den Kopf. Timo, wie er die Tür hinter mir zusperrte. Ratten, die über meine Füße liefen. Schatten, die sich aus der Wand lösten und auf mich zutraten. Näher und immer näher ... Hatte sich dort in der Ecke nicht eben etwas bewegt? War dort nicht eben etwas über den Boden gehuscht? War da hinten nicht ...

Ein ersticktes Keuchen ließ mich herumfahren. Timo starrte auf eine Stelle an der Wand. Sein Gesicht war weiß. Ich sprach ihn an, doch er reagierte nicht.

Ich folgte seinem Blick zu den aufgetürmten Sargbrettern. Der matte Lichtstrahl von draußen erhellte eine Stelle in der Ecke. Timo fixierte einen Deckel. Ich sah das morsche Holz, die abgeblätterte Farbe und das Moos. Und ich sah noch etwas. Mehrere lange Kratzspuren, die sich tief eingegraben hatten. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff.

Sie waren nicht außen.

 

Also ich finde Sargbretter mit Kratzspuren innen sehr beängstigend. Sicherlich ist es eine der ureigensten Ängste des Menschen, lebendig begraben zu werden. Dass das tatsächlich einmal jemandem passiert ist, darauf weisen diese Kratzspuren hin. Zumindest liegt die Intention nahe. Heute würde ich deshalb wahrscheinlich keine schlaflosen Nächte mehr haben. Mit zunehmendem Alter hat man einfach schon so viel Schreckliches gesehen, gelesen und erlebt, dass man weiß, dass man an einigen Dingen einfach so oder so nichts ändern kann und ein Sich-Verrückt-machen auch nicht hilft. Nach dem Motto: Che sera, sera (sollte hier ein Fehler vorliegen, mögen mir den bitte alle Italienischkundigen verzeihen). Aber als Kind / Jugendlicher kann man da sicher noch Alpträume bekommen. Deswegen finde ich diesen Aspekt sehr wohl gruselig - ob als Jugendliche oder als Erwachsene. Es geht ja auch gar nicht darum, ob man denjenigen kennt, dem das passiert ist. Schließlich stellen sich so Gedanken ein wie: "Ob mir das auch passieren wird? Oder einem Menschen, den ich kenne / liebe?" Und das ist nun wahrlich erschreckend.
Soviel aus meiner Sicht zur Rubrikendiskussion.

Auch am Ende fehlte mir nichts. Alles, was Ginny ausdrücken wollte, habe ich mir so auch zusammengereimt. Ich finde, die Charaktere werden im Text sehr deutlich geschildert. Und was danach mit ihnen (jedem Einzelnen, aber auch mit der Freundschaft) passiert, ist so gut vorbereitet, dass man sich das leicht ausmalen kann. Nicht unbedingt im Detail, aber hier denke ich, darf die Phantasie der Leser ruhig greifen. Jeder wird für sich das Passende finden. Mir war jedenfalls klar, dass hier ein Wendepunkt im Leben zweier Jugendlichen und in ihrer Freundschaft zueinander stattfindet.

Hmmm, jedenfalls glaube ich, dass Ginnys Intention mit dem Text bei mir gewirkt hat. Aus meiner Sicht also noch einmal ein großes Lob für die Geschichte. :)

 

Hi ginny,
also ich bin nicht so ganz überzeugt von deiner „netten“ Gruselstory. Sicherlich muss Horror/Grusel/Spannung nicht immer greifbar sein, aber leider hat es hier nicht ganz mit der Umsetzung geklappt. Die Geschichte endet einfach zu früh. Man hätte den Augenblick, indem die Jungen die Kratzspuren als solche ausmachen, einfrieren und die Angst förmlich zelebrieren sollen.
Ansonsten eine solide story.

Liebe Grüße...
morti

 

Hallo, Ginny-Rose!

Ich schliesse mich den anderen an: Du darfst da nicht einfach aufhören! Schreib weiter! Irgendwas!
Ja gut, nicht irgendwas, hihi. Halt was, das zu vorher passt.
Ansonsten: Ich bin beeindruckt, wie gut das geschrieben ist. Wie war noch mal das Wort: Professionell.

Liebe Grüsse
Arry

 

Kurz bevor ich zur Uni zische ...

@Kerstin: Danke nochmal - du triffst den (Sarg :D -)Nagel auf den Kopf mit deiner Darstellung, so hab ich's mir vorgestellt. :-)

Allerdings gibts es jetzt mit @morti, @ProgMan und @Arya nochmal drei Meinungen, die sich eher Rel anschließen. Soll heißen - ich denke über ein alternatives Ende, über eine Parallelversion, nach. Mir gefällt der Text so wie er ist zwar nach wie vor - aber ich bin ja nur der Autor und wenn mehrere Leser anderer Meinung sind dürfte da was dran sein.

P:S.:

Meisterin des ganz sanften Horrors
Hehe, gefällt mir. :D

cu
Ginny

 

Tag,Ginny!

Wie üblich eine warmherzige Charakterisierung junger Leute. Punktlandung. Kann ich nicht.
Extrem gutes letztes Drittel, hammerharte Pointe. Richtig, richtig gut.
Da gehen aber die Probleme los.

Diese Pointe hätte eine Andeutung, eine Verknüpfung, irgendwas im ersten Drittel vertragen, ja verdient!
Wäre die Story etwas homogener, hätte man mehr Spass an der Pointe.
Bin trotzdem neidisch auf «Sie waren nicht außen».


Es winkt

J.

 

Hi Jack,

dankeschöööön auch an dich fürs Lesen und Kommentieren (und Schleimen :D).
Die Komplimente gehen runter wie Öl und schmecken wie Honig - aber das Ende scheint auch dir nicht ganz zu behagen. :-(

Ich überleg mir was, wie ich ne Verbindung zur Pointe herstellen kann ... diese Geschichte ist mir wichtig, da bin ich gerne bereit, dran weiterzuarbeiten.

Bis dann :kuss:

Ginny

 

Hi Ginny,

Deine Story war sehr gut aufgebaut. Sprachlich konnte ich keine Schwäche finden. Hast du dich bewußt auf die Charakterisierung der beiden Protagonisten konzentriert? Das ist besonders gut gelungen und hat zusätzliche Spannungsmomente eingebaut.
Der Spannungsbogen war fast perfekt. Nur am Ende und hätte es einen größern Schocker vertragen. Es kam zu überraschend und für eingefleischte Horrofans ist vielleicht zu wenig schockierend. Einmal um des längeren Lesegenußes und einmal um den Gänsehautfaktor zu erhöhen, wünsche ich mir nach den Kratzspuren noch etwas - Vielleicht, das die Spuren frisch sind. Vielleicht nähert sich schlurfend jemand und öffnet die Tür?

Grüße
Bernhard

 

Ich finde, die Schlichtheit des letzten Satzes ist eben dieser Bringer: Zen in der Kunst, Gänsehaut zu bereiten.

Eingefleischte Horrorfans bekommen von Relysium die kühle Kettensäge oder ein stumpfes Skalpell, geführt von kalter Vernunft.

Ginny züchtet Gänseblümchen...mit Zähnen.

 
Zuletzt bearbeitet:

JackTorrance schrieb:
Ginny züchtet Gänseblümchen...mit Zähnen.
... und dünge sie mit Arsen, ja ... Fein gesagt, Jack. ;-)

@Bernhard: Danke für dein Lob, was die Charakterisierungen angeht - klar, darauf hab ich Wert gelegt. Mir waren die beiden Jungs recht deutlich vor Augen und es freut mich sehr, wenn das den Lesern ähnlich ging.

Was das Ende angeht ...

Vielleicht, das die Spuren frisch sind.
Lässt sich unter Umständen vorher noch einbauen, ja. Wenn das den Gruseleffekt verstärkt - gerne.
Vielleicht nähert sich schlurfend jemand und öffnet die Tür?
Das allerdings ist ein Problem. Die Pointe der Geschichte soll sein, dass die Jungs von realem Horror überrascht werden. Bei einer Mutprobe auf dem Friedhof fürchtet man sich vermutlich vor Zombies, Vampiren, Skeletten - aber was ist das alles gegen den Beweis, dass es Menschen gibt, die lebendig begraben werden (und nicht das Glück haben, unter einer Sonnenbank wieder aufzuwachen)?

Vielleicht ist das zwar erschreckend, aber nicht im Sinne von Horror, sondern eher traurig, beklemmend - und somit einfach fehl in dieser Rubrik.

Aber again - ich überleg mir was.

Ginny

 

hi ginny!

ich geb jetzt meinen senf dazu.

warum der Junge aus der Parallelklasse nicht teilnehmen durfte.
durfte? wir haben uns immer versucht wenns irgendwie möglich war zu drücken. ;)

hat mir gut gefallen, sie war jetzt nicht gruselig, aber trotzdem spannend. (wie bei x-factor! :sealed: )

cu Tama

 

Huhu Tamira.

durfte? wir haben uns immer versucht wenns irgendwie möglich war zu drücken.
Klar, aber die Jungs waren immer versessen darauf. Ich hab mich nur drauf gefreut, wenn Badminton anstand. :D

Relysium hat mir am Freitag Tipps für ein alternatives Ende gegeben und auch wenn ich sehr an dem jetzigen hänge <Träne wegwisch> tendiere ich dazu, bei Gelegenheit eine neue Version dranzuängen, die dann vielleicht/hoffentlich in Grusel-Hinsicht überzeugender ist.

Danke für's Lesen (und den X-Factor-Vergleich will ich überhört haben. :susp: ;-)

Ginny

 

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