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Nichts

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11.09.2003
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Nichts

Der Raum war weiß. Die Wände, der Boden, die Decke, das Licht. Kniff man die Augen zusammen, konnte man fast meinen, sich in einem absoluten und endgültigen Nichts zu befinden. Keine Kontur, keine Form, kein Ton störte die Wahrnehmung. Das genaue Gegenteil von einem schwarzen Loch. Hier schienen die Gedanken wahrhaft frei zu sein. Frei, zu dem zu werden, was ihnen beliebte. Man konnte die Kameras in den Ecken des Raumes nicht sehen, aber sie waren da, in der Wand versenkt wie Implantate.
Mit einem skeptischen Blick auf den Monitor schüttelte der Quacksalber den Kopf. Der Splitscreen zeigte ihm vier Perspektiven des Rauminneren.
Vielleicht würde der Alte heute etwas mitteilsamer sein als sonst. Der Alte, der, angeschlossen an zahlreiche Schläuche, welche ihn intravenös ernährten, in der Mitte des Raumes hockte und mit sich selbst sprach. Ein künstlicher Darmausgang auf seinem Bauchnabel führte Unverdauliches in einen kleinen Plastikbehälter ab, welcher jeden Tag gewechselt wurde.
Der Quacksalber betrat den Raum.
Kein Ton. Unbemerkt baute er sich hinter dem Alten auf, beobachtete diesen und machte sich einen Haufen nichts sagender Notizen. Gedanken und Fremdwörter, größtenteils also Interpretationen, Spekulationen und Nonsens.
„Guten Tag, Mr. Silverman.“
Der Alte ignorierte ihn oder hörte ihn nicht. Vielleicht bedingte das Eine das Andere, doch das konnte nur er selbst wissen.
Der Quacksalber war an Schweigen gewöhnt. In seiner Branche waren Dialoge sehr selten. Meistens hörte man ihm zu oder ließ ihn einfach nur reden. Es war seine Aufgabe, Menschen Dinge zu entlocken, über die sie nicht sprechen konnten oder wollten. Oft war dies lediglich auf deren Unvermögen zurückzuführen, in Worte zu fassen was in ihnen vorging und so empfand sich der Quacksalber in einem möglichen Dialog lediglich als Initiator, jedoch nie als Sender.
„Wie geht es ihnen?“
Wieder nichts.
Er ging um den Alten herum, um zu sehen was vor diesem lag und kam sich dabei vor wie ein Spion, der etwas Geheimes und Intimes erblickte. Umso größer war seine Enttäuschung, als er feststellen musste, dass er nicht erkennen konnte, worum es sich bei dem Ding handelte, denn der Alte hatte seine Hände darüber gefaltet, als wäre es eine Kerze, welche er vor dem Regen schützen müsse.
Unablässig purzelten kaum hörbare Silben und Laute aus dem Mund des Alten. Der Quacksalber bemühte sich Augenkontakt herzustellen und startete einen neuen Versuch eines Gespräches.
„Fühlen sie sich wohl?“
Der Alte verstummte in seiner Litanei herunter gebeteter Wortfetzen, sah dem Quacksalber in die Augen und grinste. „Gehen sie weg.“ Die Worte waren nicht mehr als ein Flüstern, doch der Quacksalber war sicher, dass die Tonbandgeräte sie aufgefangen hatten.
„Mr. Silverman. Warum soll ich gehen?“
Schritt für Schritt. Bisher hatte der Alte kaum auf Gesprächsversuche reagiert. Die Sache hatte sich also bereits zur Diskussion entwickelt.
Die lachfaltengesäumten Augen des Alten blickten müde und distanziert hinauf in die Augen des Quacksalbers, der jetzt ein wenig mutiger wurde und sich hinkniete, um sich auf eine Höhe mit seinem Gegenüber zu bringen.
„Sie haben es noch nicht gesehen. Noch können sie…einfach gehen.“
Der Quacksalber zog die Brauen herunter und schüttelte abermals den Kopf.
„Ich habe sie gesehen, Mr. Silverman. Ich kann nicht gehen, ohne zu wissen, was es ist und was es für sie bedeutet.“
Ein kurzes Zögern, Überlegen, strategische Offensive.
„Was ist es?“
Der Alte blickte wieder auf seine Hände, welche das Ding vor dem Rest der Welt versteckten. Seine Antwort war sachlich und hatte nicht den geringsten Beigeschmack von Trotz oder Hohn. „Nichts.“
„Darf ich es dennoch sehen?“
Der Alte schien unschlüssig zu sein. Er blickte in die Ecken des Raumes, als wüsste er, wo die Kameras hingen. „Gehen sie.“ Mehr ein Seufzer als eine Bitte.
„Es gibt nichts zu sehen.“ Er schloss die Augen. Seine Hände bewegten sich, als wärmten sie sich an einem Feuer und für einen kurzen Moment erblickte der Quacksalber das Ding, das unter die Hände des Alten gekrochen war, doch es war ein Ding der Unmöglichkeit zu sagen, worum es sich dabei handelte.
„Was ist das?“ Schweiß trat auf die Stirn des Quacksalbers.
„Das ist unwichtig, Doktor. Ich habe es gefunden. Es ist mein.“
„Wozu benutzt man es?“
„Man benutzt es nicht.“
„Aber, welchen Sinn hat das Ganze?“
Der Alte lachte kurz auf. „Das ist eine sehr gute Frage, jedoch muss ich zu bedenken geben, dass die Antwort den Sinn zerstören würde.“ Er stöhnte begierig und herzhaft, sodass es fast wie ein Knurren klang und sein Blick verbiss sich erneut in das Ding. „Ich könnte mein ganzes Leben damit verbringen, darüber nachzusinnen, was es ist, woher es kommt und warum gerade ich es gefunden habe.“
„Mr. Silverman. Sie haben bereits ihr ganzes Leben damit verbracht. Seit über fünfunddreißig Jahren sind sie hier in diesem Raum, auf dem Boden und beschäftigen sich mit diesem….Ding. Finden sie nicht, dass es an der Zeit wäre zu hören, was jemand anderes dazu zu sagen hat? Eine zweite Meinung.“
Der Alte dachte kurz darüber nach und gab es frei.
Der Quacksalber sah es nun in seiner ganzen Pracht. Es war absolut und endgültig. Keine Kontur, keine Farbe, kein Ton trübte die Wahrnehmung. Er vergaß die versteckte Tür, die Kameras, die Mikrophone und die Techniker. Ohne den Blick von dem Etwas auf dem Boden abzuwenden, setzte er sich im Schneidersitz neben den Alten und die Suche nach dem Sinn wurde zum Sinn selbst.

 

Hallo Alexander,
Zum Inhalt:
Die ersten Zeilen deiner Geschichte führten mich gleich zu dem Thema um was es hier geht. Es geht um Wahrnehmung und Erkenntnis.
Alles dreht sich um einen Mann, von dem niemand sich erklären kann, warum er sich so verhält, wie er sich verhält. Diese „Sinnlosigkeit“ seines Handelns macht neugierig, weil der Zusammenhang seines Handelns nicht sichtbar, d.h. unverständlich wirkt. Um den Zweck zu erkennen, also sichtbar werden zu lassen, untersucht ein dubioser Wissenschaftler mit noch seltsameren Methoden in einem unmenschlichen Raum diesen alten Menschen.
Der Zweck heiligt die Mitte, scheint es, dennoch um welchen Preis? Der Alte macht Andeutungen hinsichtlich von Existenz und Sein. Es erscheint, als ob er warnen wollte, seine Erfahrung nachzuvollziehen, oder als wolle er seinen Schatz nicht teilen. (Diese Szenerie erinnerte mich irgendwie an Herr der Ringe) ;) Der Wissenschaftler überedet den Alten, erfährt den Grund, aber was passiert mit ihm?

Zur Sprache:
Der Text ist zum größten Teil, flüssig zu lesen. Teilweise störend fand ich den Gebrauch von den zahlreichen Adjektiven.
Beispiel:

Mit einem skeptischen Blick auf den Monitor schüttelte der Quacksalber den Kopf. Der Splitscreen
Kein Ton. Unbemerkt baute er sich hinter dem Alten auf, beobachtete diesen und machte sich einen Haufen nichts sagender Notizen. Gedanken und Fremdwörter, größtenteils also Interpretationen, Spekulationen und Nonsens.

Wenn du die Grundhaltung des Wissenschaftlers erzählen möchtest, machen die Adjektive vielleicht Sinn. Aber warum lässt du sie nicht weg?
Die Geschichte wird gestrafft und ist viel spannender im Ablauf. Versuche deine Geschichte doch noch mal da hingehend zu überarbeiten. Ich denke es würde ihr gut tun.

Dieser Satz:

Der Alte, der in der Mitte des Raumes hockte, angeschlossen an zahlreiche Schläuche, welche ihn intravenös ernährten, und mit sich selbst sprach.
macht so keinen Sinn.

Vorschlag.
Der Alte hockte in der Mitte des Raumes. Er war an Schläuche angeschlossen, die ihn ernährten. Er sprach mit sich selbst.

Fazit:

Wenn Menschen über den Sinn des Lebens spekulieren, ist meistens vorweg ein existenzieller Abgrund erfahren worden. Deine Geschichte impliziert mit dem Schluss eine Umkehr dessen. Der Abgrund eröffnet sich erst, nachdem die Erkenntnis vollzogen wurde. Ich weiß nicht, welche Intensionen daraus zu schließen sind. Aber vielleicht kannst du mir noch ein paar Tipps geben, weil sonst der Text insgesamt in philosophischer Hinsicht für mein Empfinden zu wenig hergibt.

Liebe Grüße
Goldene Dame

 

Hi Goldene Dame.
Ich mag Dein Fazit, dass der Abgrund sich erst öffnet, nachdem die Erkenntnis vollzogen wurde, schön beschrieben. Ich sag aber nicht, wie ich das meinte, damit noch diskutiert und philosophiert und interpretiert werden kann. Den einen verschachtelten Satz habe ich a bissl umgestellt. Ansonsten kann ich nur noch sagen, dass ich auf Adjektive stehe:-)Ausserdem bin ich eigentlich gar nicht im philosophischen Bereich beheimatet, aber trotzdem finde ich ihn passend eingeordnet, da ich ihn selbst erlebt und nur als Metapher wiedergegeben habe, es ist nicht nur so drauflosgeschrieben. Vielleicht macht es universell eher Sinn, nicht nach einem Sinn zu suchen?!?
Liebe Grüße
Alex;-)

 

Hallo Alexander,
Im Prinzip ist es für einen kognitiven Verstand unmöglich nicht nach einem Sinn zu suchen, weil er dazu universell ausgebildet wurde. Die Sinnsuche erfogt quasi automatisch, weil der Verstand die Informationen, die auf ihn einwirken mit denen in seinem Gedächnis abgleicht. Erst wenn dieser Abgleich keinen Sinn macht, enstehen sozusagen Fehlermeldungen, die wiederum mit dem Gedächnis auf ihren Sinn hin abgeglichen werden. Du siehst, die Sinnsuche ist obligatorisch;) Daher bin ich auch weiterhin bestrebt, den Sinn deines Textes zu erfassen
Wenn dein Text aber eine Methapher für einen Traum sein sollte, denke ich dass diese Rubrik verkehrt ist, es sei denn dass aus dem Unbewußten eine allgemeine philosphische Erkenntnis abgeleitet werden kann. Vielleicht verätst du ja doch, was so absolut und so endgültig ist. Mir fällt sonst nur der Tod ein. Ich habe mehrfach gelesen und gehört, dass der kognitive Verstand Nahtoderfahrungen mit der Farbe weiß sich selbst sehen usw. Tunnel abgleicht.
Liebe Grüße
Goldene Dame

 

Hi,
also was soll ich nach den Ausführungen der Dame noch dazu sagen.
Ich kann nur bestätigen, dass dein Text flüssig zu lesen ist, aber auch für mich gibt er zu wenig preis. Es ist zwar richtig, dass grade bei solchen Philo Sachen eine gewissen Offenheit erhalten bleiben muss, aber wenn als einziger Anhaltspunkt die Frage nach dem Sein zu finden ist, ist mir das einfach zu wenig.
Ansonsten eine grundsolide Geschichte, ohne Ecken und Kanten. Nur manchmal sind es grad diese Ecken, die eine Geschichte wirklich interessant machen.

Grüße...
morti

 

Servus Alexander!

Ich fand deine Geschichte interessant und gut erzählt. Dass du die Geschichte "Nichts" benannt hast zog mich einerseits an, andererseits fürchtete ich, dass alles was nun folgt bereits vorweggenommen wäre. Dem ist aber nicht so. Während des Lesens führst du den Leser geschickt immer mehr in das Verhalten eines Betrachters und als solcher beginnt man das Nichts als ein Etwas zu suchen. Das fand ich unglaublich gelungen. Auch einige Wortspiele finde ich gekonnt, z.B. die implantatgleich in eine Wand versenkte Kamera

Eine ganz kleine Einschränkung am Rande - "Quacksalber" finde ich nicht gut zum Stil passend.

Lieben Gruß an dich, schnee.eule

 

Wow, das ist ja echt ne Menge Holz, bzw Resonanz. Find ich klasse, dass es Menschen gibt, die sich so ausgiebig mit "Nichts" auseinandersetzen. Mir würde eigentlich auch nix einfallen, was absolut und endgültig sein könnte, außer "Nichts" (häh, häh). Gerade in dieser Sparte, in der ich eigentlich gar nicht beheimatet bin, möchte ich mich tunlichst davon distanzieren den Sinn meiner Geschichten zu erklären, denn bei diesen soll es dem Leser ebenso gehen wie dem Protagonisten: die Suche nach dem Sinn ist der Sinn selbst.
MfG:-)
Alex
PS: Noch mal vielen Dank für Lob und Anregungen.

 

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