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Nichts
Der Raum war weiß. Die Wände, der Boden, die Decke, das Licht. Kniff man die Augen zusammen, konnte man fast meinen, sich in einem absoluten und endgültigen Nichts zu befinden. Keine Kontur, keine Form, kein Ton störte die Wahrnehmung. Das genaue Gegenteil von einem schwarzen Loch. Hier schienen die Gedanken wahrhaft frei zu sein. Frei, zu dem zu werden, was ihnen beliebte. Man konnte die Kameras in den Ecken des Raumes nicht sehen, aber sie waren da, in der Wand versenkt wie Implantate.
Mit einem skeptischen Blick auf den Monitor schüttelte der Quacksalber den Kopf. Der Splitscreen zeigte ihm vier Perspektiven des Rauminneren.
Vielleicht würde der Alte heute etwas mitteilsamer sein als sonst. Der Alte, der, angeschlossen an zahlreiche Schläuche, welche ihn intravenös ernährten, in der Mitte des Raumes hockte und mit sich selbst sprach. Ein künstlicher Darmausgang auf seinem Bauchnabel führte Unverdauliches in einen kleinen Plastikbehälter ab, welcher jeden Tag gewechselt wurde.
Der Quacksalber betrat den Raum.
Kein Ton. Unbemerkt baute er sich hinter dem Alten auf, beobachtete diesen und machte sich einen Haufen nichts sagender Notizen. Gedanken und Fremdwörter, größtenteils also Interpretationen, Spekulationen und Nonsens.
„Guten Tag, Mr. Silverman.“
Der Alte ignorierte ihn oder hörte ihn nicht. Vielleicht bedingte das Eine das Andere, doch das konnte nur er selbst wissen.
Der Quacksalber war an Schweigen gewöhnt. In seiner Branche waren Dialoge sehr selten. Meistens hörte man ihm zu oder ließ ihn einfach nur reden. Es war seine Aufgabe, Menschen Dinge zu entlocken, über die sie nicht sprechen konnten oder wollten. Oft war dies lediglich auf deren Unvermögen zurückzuführen, in Worte zu fassen was in ihnen vorging und so empfand sich der Quacksalber in einem möglichen Dialog lediglich als Initiator, jedoch nie als Sender.
„Wie geht es ihnen?“
Wieder nichts.
Er ging um den Alten herum, um zu sehen was vor diesem lag und kam sich dabei vor wie ein Spion, der etwas Geheimes und Intimes erblickte. Umso größer war seine Enttäuschung, als er feststellen musste, dass er nicht erkennen konnte, worum es sich bei dem Ding handelte, denn der Alte hatte seine Hände darüber gefaltet, als wäre es eine Kerze, welche er vor dem Regen schützen müsse.
Unablässig purzelten kaum hörbare Silben und Laute aus dem Mund des Alten. Der Quacksalber bemühte sich Augenkontakt herzustellen und startete einen neuen Versuch eines Gespräches.
„Fühlen sie sich wohl?“
Der Alte verstummte in seiner Litanei herunter gebeteter Wortfetzen, sah dem Quacksalber in die Augen und grinste. „Gehen sie weg.“ Die Worte waren nicht mehr als ein Flüstern, doch der Quacksalber war sicher, dass die Tonbandgeräte sie aufgefangen hatten.
„Mr. Silverman. Warum soll ich gehen?“
Schritt für Schritt. Bisher hatte der Alte kaum auf Gesprächsversuche reagiert. Die Sache hatte sich also bereits zur Diskussion entwickelt.
Die lachfaltengesäumten Augen des Alten blickten müde und distanziert hinauf in die Augen des Quacksalbers, der jetzt ein wenig mutiger wurde und sich hinkniete, um sich auf eine Höhe mit seinem Gegenüber zu bringen.
„Sie haben es noch nicht gesehen. Noch können sie…einfach gehen.“
Der Quacksalber zog die Brauen herunter und schüttelte abermals den Kopf.
„Ich habe sie gesehen, Mr. Silverman. Ich kann nicht gehen, ohne zu wissen, was es ist und was es für sie bedeutet.“
Ein kurzes Zögern, Überlegen, strategische Offensive.
„Was ist es?“
Der Alte blickte wieder auf seine Hände, welche das Ding vor dem Rest der Welt versteckten. Seine Antwort war sachlich und hatte nicht den geringsten Beigeschmack von Trotz oder Hohn. „Nichts.“
„Darf ich es dennoch sehen?“
Der Alte schien unschlüssig zu sein. Er blickte in die Ecken des Raumes, als wüsste er, wo die Kameras hingen. „Gehen sie.“ Mehr ein Seufzer als eine Bitte.
„Es gibt nichts zu sehen.“ Er schloss die Augen. Seine Hände bewegten sich, als wärmten sie sich an einem Feuer und für einen kurzen Moment erblickte der Quacksalber das Ding, das unter die Hände des Alten gekrochen war, doch es war ein Ding der Unmöglichkeit zu sagen, worum es sich dabei handelte.
„Was ist das?“ Schweiß trat auf die Stirn des Quacksalbers.
„Das ist unwichtig, Doktor. Ich habe es gefunden. Es ist mein.“
„Wozu benutzt man es?“
„Man benutzt es nicht.“
„Aber, welchen Sinn hat das Ganze?“
Der Alte lachte kurz auf. „Das ist eine sehr gute Frage, jedoch muss ich zu bedenken geben, dass die Antwort den Sinn zerstören würde.“ Er stöhnte begierig und herzhaft, sodass es fast wie ein Knurren klang und sein Blick verbiss sich erneut in das Ding. „Ich könnte mein ganzes Leben damit verbringen, darüber nachzusinnen, was es ist, woher es kommt und warum gerade ich es gefunden habe.“
„Mr. Silverman. Sie haben bereits ihr ganzes Leben damit verbracht. Seit über fünfunddreißig Jahren sind sie hier in diesem Raum, auf dem Boden und beschäftigen sich mit diesem….Ding. Finden sie nicht, dass es an der Zeit wäre zu hören, was jemand anderes dazu zu sagen hat? Eine zweite Meinung.“
Der Alte dachte kurz darüber nach und gab es frei.
Der Quacksalber sah es nun in seiner ganzen Pracht. Es war absolut und endgültig. Keine Kontur, keine Farbe, kein Ton trübte die Wahrnehmung. Er vergaß die versteckte Tür, die Kameras, die Mikrophone und die Techniker. Ohne den Blick von dem Etwas auf dem Boden abzuwenden, setzte er sich im Schneidersitz neben den Alten und die Suche nach dem Sinn wurde zum Sinn selbst.