Was ist neu

Niemand

Day

Mitglied
Beitritt
12.07.2004
Beiträge
10

Niemand

Niemand

Eines Tages, ich ging gerade im Wald spazieren, verlor ich mich.
Eine Krähe war aus einem Busch aufgeflogen, so plötzlich, dass ich mich erschrak und mit einem Fuß den Weg verfehlte; er suchte vergebens nach Halt, aber der Abhang hinter ihm bot keinen. Mit einem Aufschrei rollte ich die Schräge hinunter, büßte jede Orientierung ein. Mein Kopf schlug unten gegen einen Baumstamm und ich verlor nach dem Halt auch noch die Besinnung. Wie lange ich dort so gelegen hatte, wusste ich nicht; die Sonne war durch die Baumwipfel nicht mehr zu erkennen, und es war merklich kühler geworden. In meinem Kopf schwärmte ein ganzes Bienenvolk auf den Kriegspfad aus.
Zerschlagen betastete ich meinen Körper, konnte aber keine größeren Schäden feststellen. Gerade, als ich zu mir sagen wollte, ich solle mich nicht so haben, es wäre ja nichts passiert, stockte meine Zunge. Sie brachte meinen Namen nicht über die Lippen, bis ich feststellte, woran es lag: ich erinnerte mich nicht mehr an ihn!
Ich zuckte mit den Schultern, vielleicht hatte ich ja auch nie einen gehabt? Außerdem: wer sollte mich hier schon rufen? Und überhaupt: hatte ich jemanden, der mich suchen würde?
Mein Zittern gab mir zu Verstehen, dass ich hier nicht länger liegen bleiben könne, so erhob ich mich, und schleppte meinen geschundenen Körper in irgendeine Richtung. Bodennebel erhob sich langsam, was das Finden eines Weges unmöglich machte; nicht, dass ich gewusst hätte, welchen Weg ich suchte: ich wusste nicht woher und nicht wohin, nicht ein, noch aus. Doch, durch die merkwürdige Leere in meinem Kopf betäubt, empfand ich keine Angst, keine Hast. Alles war ruhig, bis auf das leiser werdende Summen in meinem Kopf. Nichts erschreckte mich.
Nachdem ich, wie es schien, eine Ewigkeit ziellos herumgeirrt war, fing ich an, mir Gedanken zu machen. War ich ein Waldgeist, der hier zu Hause war? Die eintretende Müdigkeit, der Hunger und die Kälte sagten mir etwas anderes. Nein, mein Körper schien durchaus stofflich zu sein, also musste ich irgendwo hingehören, irgendwo anders, als hierher, in den Wald.
Und so kam es, dass ich beschloss, nach Hinweisen zu suchen, nach Hinweisen wer ich war, wo ich hinging und woher ich kam. Doch gefunden habe ich nichts.
Gefunden habe ich auch mich immer noch nicht. Sollte mich jemand im Wald herumirren sehen, so möge er mir bitte helfen. Vielleicht werde ich aber auch nicht reagieren; woher soll ich wissen, ob ich gemeint bin? Und überhaupt: wer könnte mir die gesuchten Antworten geben? Ich kenne niemanden und ich bin vielleicht auch Niemand.

 

Hallo Day,

Eine Krähe war aus einem Busch aufgeflogen, so plötzlich, dass ich mich erschrak und mit einem Fuß den Weg verfehlte; er suchte vergebens nach Halt, aber der Abhang hinter ihm bot keinen.
Besser: "Eine Krähe war aus einem Busch aufgeflogen, so plötzlich, dass ich mich erschrak und mit einem Fuß den Weg verfehlte; ich suchte vergebens nach Halt, aber der Abhang hinter mir bot keinen."
Mein Kopf schlug unten gegen einen Baumstamm und ich verlor nach dem Halt auch noch die Besinnung.
Es ist eher unwahrscheinlich, dass die/der HeldIn in der Hektik noch mitbekommt worauf sie/er da tatsächlich mit dem Kopf aufschlägt...
In meinem Kopf schwärmte ein ganzes Bienenvolk auf den Kriegspfad aus.
Eine Spur zu blumig ausgedrückt, finde ich. Immerhin wird ja ansonsten eine recht ernste Geschichte erzählt.

Das ganze kommt mir wie eine Mischung aus Märchen (der Wald, die Krähe..) und einem kafkaesken Thema vor: Da ist jemand, der sich eines Tages in das großen Unbekannte begibt (der Wald), hinterhältig von etwas Unheilvollem aufgeschreckt wird (die Krähe) und anschließend die Macht über sich verliert (er wird ohnmächtig). Der Verlust von Macht manifestiert sich im Folgenden in Form eines Abhandenkommens persönlicher Identität.
Damit setzt sich eine Art Neugeburt in Gang: Der Held sucht nach sich selbst, wird von verschiedenen Identifikationen in Versuchung geführt (Waldgeist), kommt am Ende jedoch zu keinem Ergebnis. Damit wäre eine Identitätsfindung eingeleitet, die dem Helden von außen her aufgesetzt wird. Es wird infolgedessen nicht seine sein, sondern diejenige, wie ihn seine Mitmenschen sehen und verstehen werden.

Wie war das nochmal mit Kaspar Hauser? Erinnert mich irgendwie daran...

 

Liebe Philo-Ratte,

Erstmal Danke für meine allererste Rezension, ich hatte ganz schön Angst davor. Aber Deine gefiel mir! :) Vielen Dank nochmal.

Zu dem ersten Hinweis, mit dem Fuss, das war so gedacht, man sollte als Leser ein bissl über das veränderte Subjekt stolpern. Mit dem Baumstamm und der blumigen Ausdrucksweise muss ich Dir uneingeschränkt recht geben.

Deine Einsichten sind wirklich tiefgründig! Das einzige, was dazu zu sagen bleibt: Ich habe noch nie Kafka gelesen *zugeb* und man kann die Lesart noch ein bisschen ausweiten auf die allgemeinen philosophischen Fragen "Wo komme ich her?", "Wo gehe ich hin?" usw, wenn man das herauslesen mag.

Ansonsten: Deinen Kommentar zu lesen hat erst einmal viel Mut gemacht, denn dies ist wirklich meine allererste Geschichte, sowohl geschrieben, als auch veröffentlicht. Und deswegen noch ein kurzer Dank an Webmaster Grendel für das Anfeuern ;)

Gruss,

Dayday

 

Die philosophische Ratte hat seine Überlegungen so gut dargelegt, dem kann man eigentlich nichts hinzufügen
..danke für die Blumen!

Mensch, Leute.. studiert Philosophie! Dann könnt ihr sowas auch! :naughty:

 

Interessant finde ich bei allen Geschichten, die mich berühren, daß es jemand versteht, Gedanken, die ich selbst nicht in Worte fassen kann, auszudrücken.
Hier ist das auch sehr gut gelungen.
Im übrigen hinkt jedweder Vergleich mit Kaffka, denn der beabsichtigte keine Aussagen und hier wird offensichtlich, daß jemand auf der Suche und unsicher ist. Es wird wohl nach dem Sinn des Lebens geforscht. Ich halte es für eine gelungene Geschichte!
stambo

 

Im übrigen hinkt jedweder Vergleich mit Kaffka, denn der beabsichtigte keine Aussagen und hier wird offensichtlich, daß jemand auf der Suche und unsicher ist.
...das hab ich jetzt nicht verstanden.

 

In der ersten Kritik wird von einem anmutenden kafkaesen Thema gesprochen,
das hatte ich aus genannten Gründen für zu weit hergeholt gehalten. Wenn Du Kafka kennst, wirst Du verstehen.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom