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Noch nicht

Seniors
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02.11.2001
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679

Noch nicht

Ich erwache zögernd. Etwas zwingt mich aus meinen Träumen, die nur widerwillig weichen wollen und wie dunkle Schatten um mich hertanzen.
Allmählich tauche ich auf, fühle den glatten Stoff des Kissens an meiner Wange, Sebastians warme Hand auf meiner Seite und ich frage mich, was mich eigentlich geweckt hat, als die nächste Wehe schon Besitz von mir ergreift. Kraftvoll breitet sie sich über den großen Muskel aus, preßt ihn zielstrebig zusammen und nimmt mir für einen Moment den Atem. Unglaublich, daß man so etwas vergessen kann.
„Heute ist ein wundervoller Tag, um geboren zu werden“, denke ich zu meinem Kind, als die Wehe mich aus ihrer Umklammerung entläßt, und ich streichle meinen Bauch, lächle, richte mich auf, damit die nächste Kontraktion nicht so schmerzhaft wird.

Sebastian schnarcht leise, Celina dreht sich zur Seite und seufzt im Schlaf. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, schlüpfe ich zwischen den beiden aus dem Bett.
Ich schließe die Tür, damit sie nicht aufwachen, will ungestört sein, allein mit mir und dem Kind, und gehe ins Wohnzimmer, um es mir dort gemütlich zu machen. Unterwegs kommt wieder eine Wehe, ich halte mich vornübergebeugt an der Lehne eines Stuhles fest und atme tief und langsam. So heftig. So schnell...
Unschlüssig gehe ich ein wenig auf und ab, weiß nicht recht, wie ich mir die Zeit vertreiben soll. Die nächste Wehe kommt bald und läßt mich wieder innehalten. Ihre Kraft und Stärke läßt mich staunen, und ich brauche einen Moment, um sie als meine eigene zu erkennen. Gelöst fühle ich mich, eine seltsame, feierliche Ruhe ergreift von mir Besitz. Ich hole mir ein Buch aus dem Regal, lege eine CD auf und lasse mich in meinem gemütlichen, häßlichen Sessel nieder.
Ich habe kein Bedürfnis, auf die Uhr zu sehen. Draußen wird es langsam hell und ich schätze die Abstände auf zwei oder drei Minuten. Mir ist es gleich, ich überlasse meinem Körper die Führung, gebe mich hin und versuche, zwischen den Wehen zu lesen, was ich aber bald aufgebe, denn das Buch ist sterbenslangweilig und meine Gedanken kreisen um das Baby und darum, wie lange ich mir meine beiden Süßen werde vom Hals halten können.
Ich beschließe, mir einen Tee zu machen und gehe in die Küche. Der Wasserkocher summt leise, während ich Himbeerblätter in die Glaskanne gebe. Dreimal muß ich innehalten und laut atmen, dann trage ich Kanne und Tasse ins Wohnzimmer zu meinem Sessel, wo ich es mir wieder im Schneidersitz gemütlich mache.

Mein Kater steht vor mir und beobachtet mich, während ich konzentriert den Schmerz veratme. Er sieht aus, als würde er die Stirn runzeln, während er ruhig das Ende der Wehe abwartet. Dann erst springt er auf die Lehne, läßt sich nieder und beginnt mit halbgeschlossenen Augen leise zu schnurren.
Ganz still ist mein Sohn in meinem Bauch. Ich meine, seine Anspannung zu spüren, eine leise Furcht vor dem Unbekannten, Aufregung und Neugier.
Lächelnd streichle ich sein kleines Füßchen durch die Bauchdecke und erzähle mit leiser Stimme von der Welt hier draußen, von seiner großen Schwester und seinem Papa, die sich schon so auf ihn freuen, von weichem Katerfell und von dem blendendweißen Schnee, der die Stadt bedeckt. Ich erzähle von Sonnenstrahlen, von warmer, süßer Milch aus weichen Brüsten, von offenen Armen und liebevoll streichelnden Händen. Sanft drückt er mir seinen winzigen Fuß entgegen, und mein Bauch antwortet mit einer Wehe. Doch die ist nicht so kraftvoll, wie die anderen, fühlt sich weniger entschlossen an.
Nachdenklich nippe ich an meinem Tee, streichle den Kater und warte. Noch eine sanfte Wehe folgt, dann kehrt Ruhe ein.

Lächelnd sehe ich auf Celina herab, die noch genauso daliegt wie vorher, und auf Sebastian, der sich zur Seite gerollt hat.
Ich hebe die Decke an und schlüpfe zu ihnen, schmiege mich ganz nah an ihre warmen, vertrauten Körper. Nichts als Geborgenheit und Liebe fühle ich, als Sebastian seinen Arm um mich legt.

 
Zuletzt bearbeitet:

den text finde ich in seiner gut geschilderten genauigkeit sehr schön, fast idyllisch, im besten sinn des wortes.

gruß
bobo

 

Eine Bilderbuchgeburt ist das was wir uns Frauen wünschen, aber ich denke es war nicht das was du aussagen wolltest. Obwohl das Kind in eine verheißungsvolle Welt geboren wird, zieht es sich in seine kuschelige Höhle im Mutterleib zurück, der Höhle nach der wir uns alle sehnen. Mir gefällt dein Text.
Liebe Grüße

Goldene Dame

 

oh raven,
was für ein stimmiger Text. Ein schöner, geduldiger Film, den du mit den Worten heraufbeschwörst. Er erinnert mich. Und er läßt hoffen.
Danke
alles liebe
*merlinwolf*********

 

raven, ich kann mich dem Lob nur anschließen...

wunderbar geschrieben, erscheint mir der Text wie eine Libeserklärung - an die gesamte Familie einschließlich dem ungeborenen Kind. Du schilderst da eigentlich einen sehr intimen Moment, aber die Art und Weise, wie Du es tust, wirkt auf mich so natürlich. So viel Liebe und Harmonie in dem Text... hat mir ganz toll gefallen.

schöne Grüße
Anne

 

Hallo Raven,
alles was ich beim Lesen deines Textes empfunden habe, haben die anderen bereits geschrieben, deshalb kann ich mich den positiven Kommentaren nur anschliessen. Schade dass nicht alle Kinder in solch eine liebevolle, harmonische Umgebung hineingeboren werden.
Liebe Grüsse
Blanca

 

Ein sehr ruhiger Text, der mich beim Lesen richtig mitfließen lässt. Sehr gut, wie Du die Ruhe durch Bilder wie den Wasserkocher und die schneebedeckte Stadt noch verstärkst.
Was mich etwas stört, ist der letzte Absatz.

Noch eine sanfte Wehe folgt, dann kehrt Ruhe ein.
Mit diesem Satz lässt Du die Geschichte eigentlich schon perfekt ausklingen, drehst sozusagen die Lautstärke bis auf Null herunter. Der nachfolgende Absatz ist meines Erachtens ein zu starker Bruch, Du holst mich damit aus meiner erlesenen Ruhe. Du brauchst den letzten Absatz nicht, die Liebeserklärung gibst Du schon in der Einleitung ab.

Trotzdem mal wieder eine sehr gute Geschichte von Dir, die absolut an die Qualität der "Muse" heranreicht.

 

Hallo, Raven!

Einen wundervollen, sanft fließenden Text hast Du da mit Zauberhand geschaffen. Diese Ruhe, die trotz der Wehen dominiert, ist körperlich spürbar.

Die Frau verläßt für einen kurzen Zeitraum die anderen Familienmitglieder (die Geborgenheit), um sich ihren Gedanken und dem ungeborenen Kind zu widmen und kehrt dann, ganz entspannt, wieder dorthin zurück. Für mein Empfinden schließt sich durch den letzten Abschnitt der Kreis, weshalb ich ihn stehen lassen würde.


Ciao
Antonia

 

Moin!

Zwei Texte an einem Tag, die gegensätzlicher nicht sein können. Hier überwiegt die Ruhe. Man kann sich richtig hineinversetzen, sich alles vorstellen, den Schnee beinahe spüren, den Wasserdampf aus dem Wasserkocher beinahe sehen... Du hast es geschafft, den Leser mitzunehmen in deine dir vertraut gewordene Umgebung.

...weichen wollen und wie dunkle Schatten um mich hertanzen.
"...um mich herumtanzen."

Sebastian schnarcht leise...
Ich schnarche nicht! :mad:

Eine schöne Geschichte, zumal du dieses Mal nicht wie "üblich" Probleme der Gesellschaft schilderst. :hmm:

:sleep: und :kuss:

 

ja eh, alles schön und gut. aber meiner auffassung von relevanter literatur nach, fehlt hier so etwas wie ein irritationspunkt.

 

Mirko, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll... :shy:

Danke Euch allen!

Harkhov: Was genau meinst Du damit?

 

es fehlt etwas, um die perfekte harmonie zu brechen, oder zumindest anzukratzen. zu viel harmonie, oder praktisch nur harmonie, das ist auch ein ungleichgewicht.

so sehe ich das. manche werden sagen, nein, es ist schade um die harmonische stimmung. aber durch das einbringen eines irritationspunktes, wertest du die harmonie nur auf, denke ich.

gruss,
harkhov der disharmonische.

 

Servus Raven!

Als ich noch Kind war, liebte ich Bilderbücher mit möglichst wenig Text. Deine Geschichte war wie das Blättern in so einem Bilderbuch.

Man fühlt, man sieht, man kann sogar die zukünftigen Lebensmomente des Babys vorempfinden durch das, was ihm seine, ihn noch bei sich tragende Mutter erzählt. Aber man darf auch den Fußdruck an die Bauchdecke spüren und die Geräusche des Teekochens wahrnehmen.

Die Frau die sich zurückzieht und in die Zweisamkeit desselben Körpers einlässt und erkennt "noch nicht". Also kuschelt sie sich wieder in die Gemeinschaft mit den anderen. Wunderschön!

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Servus Raven,

nach der Kinderfickersache wurde ich neugierig, was sonst noch in Deinem literarischen Repartoire liegt und hab mich halt für diese entschiedne und nicht bereut.

Selten habe ich eine so liebvoll zärtliche Beschreibung der Empfindungen einer schwangeren Frau gelesen. Vom Stil, von der Wortwahl war der Text wundervoll zu lesen. Ich finde den letzten Absatz angebracht. Meiner Ansicht nach, rundet er den Text ab.

Diese Passage fand ich besonders gelungen:

und erzähle mit leiser Stimme von der Welt hier draußen, von seiner großen Schwester und seinem Papa, die sich schon so auf ihn freuen, von weichem Katerfell und von dem blendendweißen Schnee, der die Stadt bedeckt. Ich erzähle von Sonnenstrahlen, von warmer, süßer Milch aus weichen Brüsten, von offenen Armen und liebevoll streichelnden Händen. Sanft drückt er mir seinen winzigen Fuß entgegen,

Die Geschichte benötigt auch keinen Irritationspunkt. Es ist eben möglich, einen tollen Text ohne Spannungsbogen o.ä. zu schreiben, wofür hier der Beweis ist.

liebe Grüße aus Wien

Echnaton

 

Hallo Sav!

Wirklich eine wunderschöne, gefühlvolle und beruhigende Geschichte, die Du hier niedergeschrieben hast. :)

Es ist Dir nicht nur gelungen, alles so zu erzählen, daß man mit der Protagonistin mitfühlen kann und sich in sie hineinversetzen - auch eigene Gefühle werden wieder hochgespült, beim Lesen von Sätzen wie diesem:

Lächelnd streichle ich sein kleines Füßchen durch die Bauchdecke und erzähle mit leiser Stimme von der Welt hier draußen
Mal sehen, ob ich das auch nochmal erlebe... ;)

Besonders schön fand ich auch diese Formulierung:

denke ich zu meinem Kind

Nur eins würd ich ändern:

"und wie dunkle Schatten um mich hertanzen."

- in meinen Augen umgangssprachlich - hier würde ich entweder "um mich tanzen" oder "um mich herumtanzen" schreiben

Zum Thema "Irritationspunkt" meine ich, daß er der ruhigen Stimmung schaden würde. Klar, entspricht es damit nicht der klassischen Kurzgeschichte, weil die einen solchen haben soll, aber wieviele der Geschichten hier sind schon klassische Kurzgeschichten?! :D
Und wenn ich jetzt nochmal drüber nachdenke: Er ist ja eigentlich da, denn es kommt nicht so, wie man denkt. - Jedenfalls noch nicht.
Ich zumindest dachte, es ginge geradewegs der Geburt entgegen - und dann legt sich die Protagonistin noch einmal ins Bett... :)

Alles liebe,
Susi

 

Verneigung und ein Danke für diesen Text, raven.
Wunschloses Glück.

Liebe Grüße - Aqua

 

Hallo raven,

mir gefällt Deine Geschichte weil die von Dir verwendete Sprache die Stimmung der Frau treffend widergibt: Sie ist geprägt von Fürsorglichkeit (dem Ungeborenen und der Familie gegenüber), von frohem Erwarten.
Die `kleinen´, aber bedeutenden Einflechtungen in den Text sind sehr gelungen, z.B. der „gemütliche und (trotzdem) häßliche“ Sessel, der beobachtende Kater (macht er sich Sorgen, oder hat er eine gewisse Skepsis gegenüber dem wunderbaren Geschehen?).
„... fühlt sich weniger entschlossen an“ - das Baby scheint trotz der positiven Schilderung seiner Zukunft lieber noch ein wenig abwarten zu wollen, dies passt gut zu „Furcht vor dem Unbekannten“. Zum Schluß kehrt die Geschichte wieder an ihren Ausgangspunkt zurück, Geborgenheit durch Gemeinsamkeit wird erlebt. Diese Szenen sind sorgfältig aufeinander abgestimmt, eine ausgefeilte Story.
Was den Irritationspunkt betrifft: Dieser kann auch außerhalb einer Geschichte liegen.

Bei „Mir ist es gleich ...“ wäre ein Punkt anstelle eines Kommas vielleicht angebracht. „... werde vom Hals halten können ...“ klingt für mich umständlich (wenn auch grammatikalisch korrekt), `wie lange ich noch ungestört sein kann (oder sein werde)´ ist mein Vorschlag.

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Vielen Dank Euch allen für Eure Kritiken.
Jetzt weiß ich einmal nicht mehr zu sagen. :)

 

Hallo Sav!

Will ja nicht die "Harmonie" in diesem Thread "irritieren", aber mir hat der Text weder inhaltlich noch formal viel gegeben. Soll nicht heissen er waere schlecht, aber es wird eben nur beschrieben, und nicht erzaehlt - und dafuer ist der Text strukturell zu herkoemmlich. Haette da lieber was an dem man mehr zu knabbern hat. Etwas was Fragen aufwirft.

Gruss,

I3en

 

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