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Operation des Grauens
Martin spürte, wie bleierne Müdigkeit seinen Körper befiel, kaum das der Narkosearzt die Injektionsnadel aus dem Schlauch in seiner Armbeuge zog.
„Sie werden gleich in einen tiefen Schlaf fallen. Wenn sie wieder erwachen, werden die Ärzte ihren Abszess entfernt haben. Ist nur ein kleiner Eingriff, kein Grund, sich Sorgen zu machen!“
Der junge Narkosearzt klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
„Bitte zählen sie doch mal rückwärts von Zehn nach Null“, wies er ihn an.
„10, 9“, Martin dachte an den Abszess, der ihn in den letzen Tagen doch sehr gequält hatte.
„8“, zuerst war er ja nur klein gewesen...
„7, 6“, dann aber schnell zu einem stechenden, spannenden Furunkel geworden, sehr unangenehm, weil er zu alledem auch noch in der Genitalgegend aufgetaucht war und nicht daran dachte, abzuschwellen oder aufzuplatzen.
„5, äh 3“, weil keine Behandlung geholfen hatte, stand jetzt eine kleine Operation an. Ein kleiner Schnitt nur, trotzdem unter Vollnarkose. Abszesse sitzen eben sehr tief im Gewebe.
Martin war eingeschlafen und die Ärzte begannen mit ihrer Arbeit,
*
Langsam kehrte das Leben in ihn zurück, Martin erwachte.
Hart drückte ihm seine Unterlage in den Rücken und er begann sich auf die Seite zu drehen.
„Er wird wach.“
Die Stimme schien von sehr weitem zu kommen.
„Seht nur die seltsame Kleidung, die er trägt. Was mag das für ein Bursche sein ? Der kommt nicht von hier!“
Martin blinzelte. Sonnenlicht blendete ihn. Sein Hals fühlte sich verdörrt an und er war kaum in der Lage, zu schlucken. Er versuchte sich aufzurichten.
„Er will aufstehen.“
„He Bursche. Was’n passiert ? Biste unter 'nen Karren gekommen ?“
Martin öffnete jetzt die Augen. Karren ? Er sah drei Männer vor sich stehen, ganz eindeutig keine Ärzte oder Krankenpfleger, wie er sie erwartet hätte. Drei derbe aussehende Gestalten, die ihn an Bauern oder Förster erinnerten.
Von Krankenhaus auch keine Spur! Sie befanden sich im Freien.
Er sah an sich herab. Hätte er nicht noch sein aufreizendes OP-Hemd anhaben müssen ? Tatsächlich hatte er aber, wie gewöhnlich, Jeans, T-Shirt und Sportschuhe an.
„Irgendwas läuft hier gewaltig schief“, brummte Martin immer noch benommen, „wo bin ich?“
„Hä? Na in Münster, wo sonst.“
Er sah sich um. Münster war schon richtig, dort war er operiert worden. Nur war er nicht in Münster. Eher irgendwo in einem kleinen Bauerndorf.
Mehrere Karren fuhren über die schlammige Strasse, neben der sie standen. Gezogen wurden sie von Maultieren oder Ochsen!
Weiter hinten befanden sich ein Markt mit etlichen windschiefen Verkaufsständen und einigen voll beladenen Karren.
Martin war jetzt hellwach. „Wo ist denn das Krankenhaus ? Wir sind doch niemals in Münster...“
Einer der Männer kratze sich am Kopf und schaute zu seinen beiden Bekannten.
„Wir sin’ in Münster, auf’m Domplatz. Heut’ ist Markttag, wie so oft Samstags.“
Er kaute schmatzend auf einem Apfelstiel.
Martin hielt sich den Kopf. Das konnte nicht sein. Er war sicher nicht im Herzen seiner Heimatstadt. Obwohl das große Bauwerk in der Mitte des altertümlichen Marktplatzes schon eine gewisse Ähnlichkeit zum Münsteraner Dom aufwies. Trotzdem sah es bei ihm zuhause ganz anders aus. Wo waren die Ampeln, Fahrräder, Busse und Reklameleuchten der Geschäfte ? Überhaupt sah er keinerlei technische Gerätschaft. Seltsam.
Dann kam ihm eine erschreckende Idee.
„Das Jahr, welches Jahr schreiben wir ?“
Die drei Bauern sahen ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
„Wir sind mitten im Jahre des Herrn 2004. Heute ist Samstag, der 28. August. Was haste denn erwartet ?„
Martin wusste nicht, was er erwartet hatte. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er denken sollte. Er wollte sich gerade aufrichten, als sein Handy klingelte und einen polyphonen Sound von Feinsten von sich gab.
Die drei Männer erbleichten.
„Zauberwerk! Er trägt ein ganzes Orchester in seinem Wanst!“
„Ein Dämon, ich dachte es gleich!“
Bevor Martin etwas erwidern konnte, beugte sich einer der Männer über ihn und schlug ihm einen Holzschuh über den Schädel.
Martins Lichter gingen aus.
*
Er erwachte im Finstern. Trotz seiner stechenden Kopfschmerzen drang der widerliche Gestank von Fäkalien und Blut in seine Nase.
Martin betastete die beachtliche Beule auf seiner Stirn. Wackelig versuchte er, sich auf die Beine zu stellen, was ihm erstaunlich gut gelang.
Er fröstelte. Jemand hatte ihm seine Kleidung genommen. Bis auf seine Unterhose war er nackt.
Trotz eines leichten Schwindelgefühls tapste er an der Wand entlang, bis er von irgendwoher stampfende Schritte vernahm.
Grob wurde eine Tür losgestoßen, der flackernde Schein einer Fackel beleuchtete jetzt seine Behausung und Martin erkannte, das es sich um einen Kerker handeln musste.
„Ah, biste wach. Gut, brauch’ ich dich nicht zu schleppen. Komm’, der Schinder erwartet dich, Hexenmeister.“
Der grobe Kerl zeigte auf die Tür.
„Geh’ voraus! Und mach’ keinen Unsinn, oder du bekommst die Keule zu spüren.“
Drohend schwenkte er einen rohen Knüppel, aus dem einige Nagelspitzen heraus schauten.
Martin schleppte sich vorwärts, durch finstere Gänge, Treppen und Gewölbe.
Schreie verhallten markerschütternd.
Der Kerl mit der Keule stieß Martin grob durch eine hölzerne Türe.
„Rein da !“
Ein großer Raum mit flackernden Fackeln erwartete ihn. Allerhand seltsame Gerätschaft stand überall herum. Drei Personen im Raum musterten ihn aus misstrauischen Augen. Er wurde hart auf einen Schemel gedrückt, der in der Mitte des Raums standen.
„Du wirst beschuldigt, mit dieser Zauberschatulle die finsteren Mächte des Untergrunds herbeigerufen zu haben!“
Vorsichtig, fast schon ehrfürchtig, zeigte er allen im Raum Martins Handy.
„Ich als Beauftragter der heiligen Inquisition werde dich jetzt der Peinlichen Befragung unterziehen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Hast du uns vielleicht jetzt schon was zu sagen ?“
„Äh, das ist keine Zauberschatulle. Ist doch nur mein polyphones Handy. Kennt ihr keine Handys ? Ist ganz einfach zu bedienen, ich zeig es euch mal...“
Der Inquisitor trat entsetzt einen Schritt zurück.
„Ah ! Er gibt zu die Zauberschatulle zu beherrschen !“
Der andere Mann, ein beleibtes Individuum, der entfernt an einen Klosterbruder erinnerte, zog ein angewidertes Gesicht.
„Ein wahrhaftiger Hexenmeister !“
„Du gibst also zu, die dunklen Kräfte zu beherrschen ?“
Martin schüttelte den Kopf. Wo um alles in der Welt war er hier nur gelandet ? Und wie ?
„Ich beherrsche keine dunklen Kräfte, was soll der ganze Quatsch hier eigentlich ?“
Der Inquisitor gab Anweisungen an den Kerl mit der Keule und an den anderen, ähnlich grobschlächtigen Mann, der sich bisher nicht bewegt hatte.
„Binde ihn, Schinder. Er soll den zweiten Grad der Tortur spüren. Wir werden zunächst die Schwefelspäne anwenden. Gegen das Schreien die Mundbirne.“
Ungläubig musste Martin mit ansehen, wie der Schinder und sein Gehilfe ihn fest an einen Stuhl banden. Die Stricke saßen stramm und schnitten tief in seine Gelenke. In seinen Mund steckte einer der beiden eine Art eiserne Birne, die er durch drehen so weit auseinander dehnte, das Martin befürchtete, sein Mund könne einreißen.
Aus einem Becken zog der Schinder einen Holzspan, der dort wohl in Schwefel gelegen hatte. Er packte den Span mit einer Zange. Die Zange in der einen Hand und Martins Zeigefinger in der anderen Hand, so wollte der Schinder sein Werk beginnen.
‚Mein Gott, sie wollen dir giftige Holzspäne unter die Fingernägel schieben !’, dachte er und begann zu zittern. Sein Augen weiteten sich und sein Magen verkrampfte sich zu einem schmerzenden Klumpen.
„Gibst du zu, die dunklen Kräfte zu beherrschen ?“, fragte ihn der Inquisitor drohend.
Martin nickte hastig.
„Du gibst ohne weiteres zu, ein Hexenmeister zu sein ?“
„Mm hm.“, nickte Martin weiter.
„Somit wurde deine Schuld bewiesen. Du wirst beim nächsten Neumond auf den Pfahl gesetzt, bis der Tod eintritt. Anschließend soll deine toter Körper bis zur Unkenntlichkeit verbrannt werden, wie es für einen Hexenmeister vorgeschrieben ist.
Schinder, binde ihn los und bringt ihn zurück in den Kerker.“
Sie banden ihm los und entfernten die Mundbirne.
Der Inquisitor und der Pater wollten den Raum schon verlassen, als das Handy plötzlich klingelte.
Laut ertönte der polyphone Sound von „Lebt denn der alte Holzmichel noch“ durch die Folterkammer.
„Er versucht uns zu verhexen !“
„Schlag ihn tot, Schinder. Schlag ihn doch tot.“
Der Grobschlächtige kam rasch näher und begann, auf Martin einzudreschen.
„Ja er lebt noch, ja er lebt noch, ja er lebt noch...“, dudelte das Handy weiterhin.
Der Schinder schlug ihn wieder und wieder, Martin wurde schwindelig und musste würgen.
Er hustete, spürte die Schläge des Schinders im weißen Kittel.
Weißer Kittel ? Martin schlug die Augen ganz auf und sah den Assistenzarzt, der ihm leicht auf die Wangen klopfte, damit er aus der Narkose erwachte.
„Herr Winter, werden sie wach. Die OP ist gut verlaufen, alles ist in Ordnung.“
Im Aufwachraum dudelte leise Musik. „Ja er lebt noch, ja er lebt noch, ja er lebt noch...“