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Orwells Busfahrt
Graue Felder spannten sich über Hügel - endlose Ackerfurchen im Regen. In Diagonalen liefen Tropfen die Scheibe hinab. Orwell wandte den Blick ab.
Links vor ihm saß die Busfahrerin, ein Sinnbild preußischer Zucht und Tugend: die grauen Haare zum Knoten gebunden, das Gesicht faltig und bitter. Nur die Brille wollte nicht passen, sie war grün, mit runden Gläsern und dickem Rahmen.
Aus einem Kofferradio, das am Armaturenbrett lehnte, säuselten Schlager. Orwell ging die Musik auf die Nerven. Lieber hätte er hinten gesessen, direkt überm Motor und hinter sich die Straße, die länger wurde, je weiter sie fuhren; aber da saßen Angestellte, mit blasser Haut und entzündeten Augen, und eine Gruppe Jugendlicher, alle auf dem Weg nach Hause. Die Jugendlichen unterhielten sich, er konnte ihre Stimmen, ihr Lachen hören, der Rest schwieg eisern.
Der Bus fuhr in ein Dorf. Häuser aus Klinkerstein reihten sich an der Straße und gelb leuchteten die Fenster, aber Gardinen versperrten den Blick auf Familienleben und Einsamkeit. In den Vorgärten standen Blumen und Gartenzwerge. Der Bus hielt und feucht-kalte Luft wehte herein.
„Ich hab meine Tasche vergessen.“
Orwell wandte sich um. Einer der Jugendlichen lief zum Ende des Busses, hielt dabei mit einer Hand seine Hose fest. Seine Kameraden lachten und johlten. Unter einem Sitz fischte er seinen Rucksack hervor und wandte sich wieder zum Ausgang. Zischend schloss sich die Tür.
„He, warten Sie.“
Der Bus fuhr weiter.
„Was soll das?“ Keine Reaktion der Fahrerin, sie blieb preußisch steif und starr.
Orwell konnte sich die Schadenfreude nicht verkneifen, als der Junge sich unter Gelächter zu seiner Gruppe setzte - sein Tag war schlecht gewesen.
„Hallo.“
Die junge Frau gab Orwell das Buch. Hübsch sah sie aus, mit Sommersprossen, rotem Haar und einem Strickpullover. Er lächelte ihr zu, nicht nur aus Vorschrift.
Während Orwell den Preis scannte und den Roman in eine Plastiktüte steckte, spürte er Faaks Blick auf sich. Sein Chef stand zwei Meter hinter ihm. Mit einem Lächeln für die Kunden überwachte er die Arbeit der Kassierer.
„Auf Wiedersehen und viel Spaß beim Lesen.“
Die Frau mit Sommersprossen ging und machte einer Matrone Platz. Ihr Gesicht war aufgedunsen, grell geschminkt, ihre Finger fett und kurz. Sie klatschte ‚Aurelia – Nymphe der Lust‘ auf die Theke.
„Guten Tag.“
Er nahm das Buch, scannte den Preis.
„Das macht dann 12,99, bitte.“
Die Augen der Frau schienen vorzuquellen - wie bei einem Fisch, dachte Orwell und hätte fast lachen müssen.
„Da steht drauf, es kostet 9 Euro 99.“
Er sah auf den Einband – die Frau hatte Recht, ein Aktionsaufkleber verdeckte den ursprünglichen Preis.
„Entschuldigen Sie, da liegt wohl ein Fehler vor. Jemand musst das falsche Preisschild angebracht haben.“
„Da steht es kostet 9,99. Ich werde dafür nicht mehr zahlen.“
„Wie gesagt, es handelt sich um einen Fehler.“
„Das ist ihre Sache.“
Die Frau patschte mit den Wurstfingern auf der Theke herum, ihre Wangen schwabbelten und zeigten lila Flecken.
„Wenn Ihnen der Preis nicht passt, können Sie ja gehen.“
Orwell spürte einen sanften Händedruck auf seiner Schulter. Faak stand neben ihm. „Ich übernehme kurz.“ Er trug einen maßgeschneiderten Anzug und eine Hornbrille ohne Stärke. Sein schwarzes Haar war Borstenkurz. Während er sich bei der Frau entschuldigte und den Rabatt gewährte, stand Orwell abseits und hasste sie beide.
Nachdem die Frau gegangen war, winkte Faak Mario herüber: „Übernehmen Sie kurz die Kasse, ja?“
Mario kam angetrottet und Faak nahm Orwell mit in sein Büro. Dort hing moderne Kunst an den Wänden und standen Blumenvasen am Boden. Hinter dem Schreibtisch öffnete sich der Blick auf die Innenstadt – ein Platz, wo Touristen einen gefrorenen Brunnen fotografierten, dahinter das Gebäude der Gema.
„Setzen Sie sich doch.“
Faak nahm auf dem Sessel hinterm Schreibtisch Platz, Orwell auf einem Stuhl ihm gegenüber.
„Ich verstehe ja, die Arbeit ist ziemlich stressig und sicher nicht immer leicht. Und manche Kunden können einem wirklich auf die Nerven gehen.“ Er lächelte verständnisvoll – als er wäre er Lehrer und Orwell sein Schüler, dabei war Faak zwei Jahre jünger.
„Aber solches Fehlverhalten kann ich nicht tolerieren. Ihre Aufgabe ist es dem Kunden ein angenehmes Einkaufserlebnis zu bieten. Egal, ob sie Ihnen persönlich liegen oder nicht. Haben Sie mich verstanden?“
„Ja.“ Und nickte zur Bekräftigung. „Es tut mir Leid. War mein Fehler. Ich bin heute etwas angespannt.“
„Gut. Diesmal werde ich noch ein Auge zudrücken. Aber beim nächsten Mal …“ Er breitete die Hände aus als seien die Konsequenzen gottgegeben.
„Machen Sie sich keine Sorgen, es wird nicht wieder vorkommen.“
„Ich denke, dann wir sind fertig. Sie können gehen.“
Orwell ging raus zu den Kunden und machte seine Arbeit – immer lächelnd, immer froh und könnte kotzen dabei.
Später war Feierabend. Orwell stand mit Mario vor der Garderobe der Mitarbeiter, rüstete sich gegen die Kälte.
„Hat Faak dich rund gemacht, wie?“ Mario grinste und schlang sich seinen Schal um den Hals. „Kann man ja auch nicht bringen. Einfach die Kunden anschnauzen. Wenn ihnen der Preis nicht passt, dann können Sie ja gehen“, äfft er Orwell nach. „Schon ne reife Leistung, muss ich sagen. Traut sich nicht jeder.“
Orwell verließ den Buchladen durch den Hinterausgang, Mario folgte. Regenböen leckten ihre Gesichter. Licht floss aus Schaufenstern, wischte vor Autos die Straße entlang. Die Menschen liefen geduckt vorüber.
„Kannst du nicht den Mund halten?“
„Sag ich doch, er hat dich fertig gemacht.“
Mit einem spöttischen Lächeln drehte Orwell sich zu Mario.
„Weißt du. Faak ist mir egal. Soll ich dir sagen, wie er ist, wenn er Feierabend hat? Dann ist der so klein.“ Mit Daumen und Zeigefinger gab er seinen Worten Ausdruck und wusste doch wie lächerlich er klang. „Glaubst du etwa der hat Freunde? Der lebt doch nur für seinen Job. Dämlicher Karrierearsch.“
„Klar, jetzt spuckst du Töne.“ Marios Grinsen wollte nicht weichen, schien ihm ins Gesicht geschnitten – ein hässlicher Halbmond. „Aber wenn du vor ihm stehst, kneifst du doch den Schwanz ein.“ Und lachte.
„Du nicht?“
„Doch klar. Aber ich kann es mir wenigstens eingestehen.“
Mit einem Ruck hielt der Bus – wieder ein Dorf, wieder gelbe Fenster, leere Gärten.
„Meine Vögel. Es ist ja schon dunkel.“ Eine Frau stieg. Sie trug einen flickenbunten Regenmantel und ihre Stimme klang überdreht, leicht panisch. Sie setzte sich neben Orwell. „Wissen Sie, es hat einfach länger gedauert. Also länger als gedacht. Und jetzt ist es schon dunkel.“ Ihr Gesicht glich dem eines Kindes, rosige Wangen und erschrocken große Augen.
„Na und?“
„Ja aber meine Vögel. Die sind doch noch draußen. Ich hab sie ja fliegen lassen. Und jetzt können die gar nichts mehr sehen. Wenn sie wo gegen fliegen.“ Wie Nebel umgab sie Veilchenparfüm, fast konnte Orwell es schmecken. Er rückte ab, lehnte sich ans Fenster – Vibrieren der Scheibe an seiner Schulter, seinem Kopf. Aber die Vogelfrau war breit, ihr Oberschenkel berührte sein Bein. Draußen zog die Welt als Schatten vorbei; Orwell versuchte die Frau zu ignorieren.
„Aber eigentlich müssten die doch still halten, oder? Ich mein die haben doch den … wie heißt es noch mal? … den, den Selbsterhaltungschutztrieb. Wissen Sie. Die fliegen, dann doch nicht im Dunkeln und stoßen wo gegen. Stimmt doch, oder?“ Sie stupste ihn an. Orwell bewegte sich nicht.
„Können Sie nicht still sein? Ihre Vögel sind mir egal. Ich bin müde.“
„Aber die sind doch noch draußen. Und es ist dunkel. Ach, es hat einfach länger gedauert als gedacht. Normalweise bin ich ja immer pünktlich. Wissen Sie. Immer pünktlich.“
„Seien Sie still.“ Die Stimme der Busfahrerin klang frostig und die Vogelfrau verstummte – aber der Geruch blieb und ihr fettes Fleisch an Orwells Schenkel. Er schloss die Augen, ließ sich weiter schaukeln, hinein in den Abend, hinein in sanfte Müdigkeit.
Er dachte an Angela, an das letzte Mal in ihrer Wohnung. Nackt hatte sie ihn im Wohnzimmer empfangen, nur ein Glockenkettchen am Fußgelenk, und leises Klingen begleitete sie, als sie zu ihm kam, ihn küsste. Ihre Titten waren prall vom Silikon, ihr Körper straff von Sport und Yoga. Blonde Locken fielen ihr über die Schultern. Sie nestelte an seiner Hose.
„Können wir nicht erst essen?“
„Ach komm schon.“ Sie zog einen Schmollmund – süß sah der aus und sexy. „Ich mach auch alles, was du willst.“ Jetzt kniete sie vor ihm. Mit manikürten Fingern kraulte sie seine Hoden, mit geschminkten Lippen lutschte sie seinen Schwanz. Sie war gut, aber Abendessen wäre ihm lieber gewesen.
„Manchmal frage ich mich, ob wir nicht ein normales Paar sein können?“ Mit einer Hand streichelte er ihr Haar.
Unter dichten Wimpern blickte sie auf. Ihre Augen waren blau. „Wie meinst du das?“
„Naja. Erst ein wenig Streiten, weil ich schon wieder zu spät bin. Uns dann beim Abendessen wieder versöhnen. Dann schauen wir Fern. Und vorm Einschlafen machen wir noch ein wenig bürgerlichen Sex.“
„Du stehst also auf Schläge. Willst du, dass ich dir den Hintern versohle, weil du ein böser Junge warst? Du musst es nur sagen, ich habe alles da.“ Sie lächelte – geile, kleine Schlampe.
„Nein, nein. Mach nur weiter.“
Sie stupste ihn auf den Massagestuhl und während ihm Rollen Gesäß und Rücken walkten, ließ sich Angela auf seinem Penis nieder. Ihre Locken kitzelten seine Brust. Sie küsste ihn. „Weißt du, ich liebe dich.“
Die Vogelfrau stieg aus und mit ihr zwei Jugendliche. Orwell hörte ein Lachen und dann die Stimme der Frau, weinerlich und dünn: „Frau Fahrerin, ich bleibe hier nicht. Die ärgern mich.“
Die Türen schlossen sich, der Bus fuhr weiter. Im Lichtkegel einer Laterne blieb die Vogelfrau zurück.
Später lagen sie auf dem Teppich, der warm war von der Fußbodenheizung, und Orwell spürte das Hämmern seines Herzens an den Schläfen. Vor seinen Augen flimmerte es.
„Du siehst fertig aus.“ Angela klang besorgt.
„Nein, nein. Alles bestens.“ Die Worte kamen nur stoßweise.
„Wirklich, du solltest mehr Sport machen.“ Scherzhaft zwickte sie seinen Bauchspeck.
„Wann denn? Ich arbeite schließlich.“
„Ich doch auch. Aber du könntest ja auch weniger machen.“ Sie schmiegte sich an ihn. Ihr Körper roch nach Schweiß und Parfüm. „Du weißt, du musst nicht arbeiten. Ich verdiene genug für uns beide.“ Träge umspielte ihr Zeigefinger seine Brustwarze, zog Ellipsen und Kreise.
„Nein, das will ich nicht.“
„Wieso denn? Ich bin doch gerne für dich da.“ Sie küsste sein Ohrläppchen, knabberte daran. Ihre Stimme war ein Schnurren
„Ich finde das komisch, mich aushalten zu lassen.“
„Du kannst ja auch eine andere Arbeit machen. Eine die dir mehr Freiräume lässt. Künstler zum Beispiel.“
Orwell wollte lachen, verschluckte sich aber und musste Husten „Künstler? Meinst du ich soll Künstler werden, weil ich sonst nichts kann.“
„Du weißt, dass stimmt nicht. Ich meine dein Schwanz ist in Ordnung.“ Und massierte sein Glied, bis er einen Ständer hatte.
Während sie ihn ritt und ihre Brüste auf und nieder wippten, dachte Orwell, dass „in Ordnung“ minderwertig klang.
Orwells Handy klingelte. Er zog es aus der Hosentasche, sah auf den Bildschirm: Angela.
„Hallo.“
„Hi, Schatz. Du müsstest noch was zum Abendessen mitbringen.“
„Geht klar.“
„Ich meine keine Tiefkühlpizzen. Sondern Gemüse. Ich brauche Lauch und Auberginen. Für eine Quiche.“
„Aber ...“
„Danke, Schatz.“
„Ich mag …“
„Sei doch so lieb. Tu mir den gefallen. Es schmeckt dir bestimmt.“
„Okay.“
„Ach ja, ich brauche auch Milch, für die Katze.“
„Mach ich.“
„Danke. Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“
Er legte auf und seufzte, schloss für einen Augenblick die Augen. Das Brummen des Motors trug ihn fort in der Dunkelheit.
Angela lag neben ihm und schlief, aber Orwell war wach und sah zur Decke, wo er einen Sternenhimmel sah, mit dem er nichts anzufangen wusste. „Nächste Woche rufe ich bei deinem Chef an“, hatte sie gesagt. „Und dann kommst du mit mir ins Fitnessstudio und wir bringen dich wieder in Schuss.“
Jetzt spürte er ihren Atem an seiner Schulter, ein warmer Hauch, ein warmes Streicheln. Beiläufig spielte er mit seinem Penis. Vielleicht hatte sie Recht, vielleicht würde Sport helfen – er glaubte es nicht. Er musste die Dinge anders machen, sein Leben in die Hand nehmen. Ein Sternschnuppenschauer ging nieder und er wusste nicht, was er sich wünschen sollte.
Er bekam eine Erektion – sein Penis war in Ordnung.
„He, Sie. Müssen Sie hier nicht raus? Ist Stadtmitte.“
Orwell schrak auf. Die Augen der Busfahrerin waren auf ihn gerichtet, blass und klein hinter der Brille, die Schweinsaugen eines Offiziers.
„Ja, danke …“
Hastig verließ er seinen Platz und stieg aus dem Bus. Kalt war es draußen, und Wind ging über die Straße und fegte letzte Blätter an Orwell vorbei. Der Regen war nur noch Nieseln und brannte doch auf seiner Stirn und seinen Wangen. Der Bus fuhr weiter, sein Brummen wurde leiser und verlor sich zwischen Häusern. Orwell lief durch leere Straße zum Supermarkt, wo er Milch kaufte und Lauch, aber keine Auberginen.