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Papa zieht aus
„Nele, Julia, kommt ihr bitte mal ins Wohnzimmer. Mama und ich haben etwas mit euch zu besprechen.“
Während Nele ihrer kleinen Schwester die Treppe hinunter folgte, überlegte sie, was die Eltern wohl von ihnen wollten. Papas Stimme hatte so ernst geklungen. Ob es wegen ihrer Vier minus im Diktat war? Aber Mama hatte sich die Arbeit doch schon angesehen und gesagt, dass sie mit ihr mehr Rechtschreibung üben wolle. Und angestellt hatte sie doch auch nichts. Und überhaupt – wenn ihre Eltern sie ausschimpfen wollten, warum hatte Papa dann auch Julia ins Wohnzimmer gerufen?
Ihr Vater stand am Wohnzimmerfenster und sah hinaus. Ihre Mutter saß auf dem Sofa, und Julia kletterte sofort auf ihren Schoß. Sie war ja auch erst vier. Nele dagegen wurde im September schon elf, war also viel zu alt, um sich bei ihrer Mutter anzukuscheln.
Ihr Vater drehte sich um. „Also“, begann er. Dann begegnete er Neles gespanntem Blick und stockte. „Vielleicht kannst du das besser“, meinte er zu seiner Frau.
Die schüttelte zwar den Kopf, sagte dann aber: „Ihr habt ja sicher gemerkt, dass Papa und ich uns nicht mehr so gut verstehen.“
Nele starrte sie an. Dieser Anfang gefiel ihr nicht. Noch weniger gefiel ihr, was die Mutter dann sagte: „Daher haben wir beschlossen, dass es besser ist, wenn wir uns trennen. Ihr bleibt natürlich hier im Haus, bei mir. Aber Papa wird ausziehen. Er hat schon eine Wohnung gefunden.“
„Natürlich wird sich für euch“, begann nun ihr Vater zu sprechen.
Den Rest des Satzes hörte Nele schon nicht mehr, denn sie rannte aus dem Wohnzimmer, die Treppe hinauf, in ihr Zimmer. Wütend knallte sie die Tür zu und warf sich auf ihr Bett. Sie konnte nur noch an den einen Satz denken: Papa wird ausziehen. Leise sagte Nele die Worte vor sich hin: Papa wird ausziehen. Doch auch, indem sie sie aussprach, wurden sie nicht wirklicher. Denn Papa konnte doch nicht einfach so ausziehen. Sie waren eine Familie, Mama und Papa und Nele und Julia. Die konnte er doch nicht einfach so kaputtmachen.
Neles Gedanken wurden unterbrochen durch ihren Vater, der leise an die Tür klopfte und fragte: „Darf ich hereinkommen?“
„Nein“, sagte Nele unwirsch, aber er öffnete dennoch die Zimmertür und trat an ihr Bett. Klar: ein ‚Nein’ von ihr zählte für ihn nicht. Er war ja erwachsen, und Erwachsene bestimmten sowieso immer alles. Und wenn sie wegziehen wollten, dann taten sie das einfach, und kümmerten sich gar nicht darum, was ihre Kinder wollten.
Nele drehte ihrem Vater den Rücken zu. Er setzte sich auf die Bettkante und strich ihr übers Haar: „Ach, meine Große, ich verstehe ja, dass das für dich ein richtiger Schock war. Aber so viel wird sich doch gar nicht ändern. In der Woche war ich doch sowieso meistens arbeiten. Und an den Wochenenden könnt ihr mich doch besuchen. Und du kannst mich jederzeit anrufen.“
Nele hielt sich die Ohren zu. Sie wollte das alles gar nicht hören. Sie wollte einfach nur, dass alles so blieb, wie es bisher war.
Sie spürte, wie ihr Vater nochmals zärtlich ihren Kopf streichelte und dann das Zimmer verließ. Sie war wieder allein. Zunächst war sie froh, dass die anderen sie in Ruhe ließen, aber dann trug auch das noch zu ihrer schlechten Laune bei. „Keiner kümmert sich um mich“, dachte sie missmutig, „ich bin ihnen allen egal.“
In trüber Stimmung verbrachte sie den ganzen Nachmittag in ihrem Zimmer. Als Julia kam und rief: „Abendbrot ist fertig“, überlegte Nele kurz, auch nicht zum Abendessen hinunterzugehen. Aber langsam wurde ihr langweilig, und außerdem hatte sie Hunger. Still saß sie am Esstisch, und jeden Versuch, sie in ein Gespräch zu verwickeln, wehrte sie mit ihrer bitterbösen Miene ab.
Als sie fertig gegessen hatten, sagte ihr Vater: „Morgen fahre ich in meine neue Wohnung. Ich muss noch einiges ausmessen und so. Wollt ihr beide nicht mitkommen und sie euch ansehen?“
Julia rief: „Au ja“, aber Nele schüttelte heftig mit dem Kopf. Ihre kleine Schwester guckte sie etwas zweifelnd an, entschied jedoch: „Ich will aber trotzdem mit.“
Am nächsten Morgen blieb Nele wieder so lange in ihrem Zimmer, bis sie ihren Vater und Julia wegfahren hörte. Kurz vor Mittag kamen die beiden zurück. Julia stürmte ins Wohnzimmer, wo Nele vor dem Fernseher saß. „Papas Wohnung ist toll“, rief sie, „die Zimmer haben keine richtigen Türen, sondern welche, die man auf- und zuschieben kann. Und es gibt einen ganz kleinen Balkon. Und es gibt ein Zimmer extra für uns. Papa hat mich gefragt, wie er das Zimmer anmalen soll. Und ich habe gesagt, Blau, weil Blau doch deine Lieblingsfarbe ist.“
„Meinetwegen kann er es grün-lila-gestreift streichen“, knurrte Nele, „ich werde es mir sowieso nie ansehen.“
Die nächsten zwei Wochen tat Nele so, als ob sie die Anzeichen des bevorstehenden Auszugs des Vaters nicht bemerkte. Dabei waren diese unübersehbar: Es tauchten große Umzugskartons auf, die sich nach und nach mit Büchern, Geschirr, Kleidung und sonstigen Gegenständen füllten. Und je voller die Kartons wurden, desto mehr Lücken gab es in den Regalen und Schränken.
Als Nele eines Nachmittags von der Schule kam, fand sie ihre Mutter an der Nähmaschine sitzend. Sie war damit beschäftigt, aus hellgelbem Stoff Vorhänge zu nähen. „Für welches Zimmer sind die denn?“, fragte Nele neugierig.
„Für Papas neue Wohnung“, antwortete ihre Mutter.
Nele starrte sie mit offenem Mund an. Dann platzte sie heraus: „Das kann doch wohl nicht wahr sein. Papa zieht weg, und du hilfst ihm noch dabei.“
Sie wollte aus dem Zimmer stürmen, aber ihre Mutter, die schnell aufgestanden war, hielt sie am Arm fest: „Jetzt reicht es aber wirklich, Nele. Seit zwei Wochen rennst du mit einem langen Gesicht herum, aber du weigerst dich, mit uns darüber zu sprechen. Ich weiß, dass es dir wehtut, dass wir uns trennen, aber du wirst dich an den Gedanken gewöhnen müssen.“
„Aber ich will nicht, dass Papa weggeht“, rief Nele wütend, „alles soll so bleiben, wie es ist.“
Ihre Mutter nahm sie sanft in den Arm und zog sie zum Sofa. „Ich weiß, dass du dir das wünschst, aber Dinge ändern sich nun mal.“ Mit einem Lächeln fuhr sie fort: „Kinder werden größer, obwohl wir Eltern uns immer wünschen, ihr bliebet so klein und abhängig von uns wie als Babys. Und irgendwann wirst auch du ausziehen und dir ein eigenes Leben aufbauen.“
„Das ist doch ganz was anderes“, sagte Nele, „ihr seid doch verheiratet.“
„Stimmt“, räumte ihre Mutter ein, „aber eine Ehe heißt nicht unbedingt, dass man das ganze Leben zusammenbleibt. Natürlich, wenn man sich verliebt und wenn man heiratet, glaubt man, dass es für immer ist. Doch auch Menschen verändern sich im Laufe ihres Lebens, und auf einmal merkt man, dass man gar nicht mehr zusammenpasst.“
„Aber ihr habt doch Kinder“, warf Nele ein.
Wieder lächelte ihre Mutter. „Klar, aber deshalb muss man doch nicht zusammenbleiben. Außerdem bleibt ihr doch unsere Kinder und wir eure Eltern, ob wir nun zusammenleben oder in zwei getrennten Wohnungen.“
Nele hatte das Gefühl, dass sie über all das erst mal nachdenken musste. Aber eine Frage hatte sie doch noch: „Hast du Papa denn überhaupt nicht mehr lieb?“
Ihre Mutter antwortete nicht sofort, sondern musste einige Zeit überlegen. Dann sagte sie: „Doch, irgendwie schon. Aber anders als früher. Jedenfalls bedauere ich nicht, dass ich ihn mal geheiratet habe. Und ich bin froh, dass wir uns auch jetzt nicht streiten, sondern vernünftig miteinander umgehen. Allein schon wegen euch beiden.“
Sie drückte Nele nochmals fest an sich und stand dann auf. „Jetzt muss ich aber dringend weitermachen. Sonst werden die Vorhänge für Papas Wohnung nie fertig.“
Nele erhob sich ebenfalls und stieg langsam und nachdenklich die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Sie legte sich auf ihr Bett und starrte an die Decke. So richtig verstehen konnte sie zwar nicht, warum die Eltern nicht mehr zusammenbleiben wollten. Aber sie verstand jetzt, dass diese Entscheidung nichts mit ihr oder mit Julia zu tun hatte. Und sie verstand, dass sie nichts dagegen machen konnte.
Am nächsten Tag sollte der Umzug ihres Vaters sein. Beim gemeinsamen Abendessen schlug er vor: „Wollt ihr mich nicht gleich am nächsten Wochenende mal besuchen? Ich werde versuchen, dass ich bis dahin alles halbwegs vernünftig eingerichtet habe.“
Julia nickte begeistert. Nele stocherte mit ihrer Gabel im Kartoffelsalat herum und sagte dann, ohne den Vater anzusehen: „Klar, warum nicht? Ich habe deine Wohnung ja noch nicht einmal gesehen.“
Erstaunt sah ihr Vater sie an. Dann erschien ein dankbares Lächeln auf seinem Gesicht, und Nele, die nun den Kopf gehoben hatte, lächelte ihn ebenfalls an.
Julia fragte: „Mama, kommst du auch mit?“
Ihre Mutter meinte: „Nein, das ist keine gute Idee. Macht ihr das mal lieber mit Papa alleine.“
„Wir drei werden es uns in meiner neuen Wohnung richtig gemütlich machen“, sagte ihr Vater und versprach: „Ich backe euch auch einen Kuchen.“
Diesmal war es Nele, die verwundert aussah: „Aber du kannst doch gar nicht backen, Papa.“
„Hast du eine Ahnung“, lachte ihr Vater, „du wirst an mir jetzt ganz neue Seiten kennen lernen.“