- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Permafrost
Schnee rieselt vom Himmel. Warum auch nicht. Das tut er immer wenn es kalt ist. Aber wenn es ZU kalt ist dann schneit es nicht. Was schade ist, weil sich dann keine weiche Schicht von Millionen von Eiskristallen aufschichtet und den kalten harten Boden hier weniger kalt und hart wirken lässt. Ein weiche und weiße Schicht, die an manchen Stellen so tief ist, dass du, wenn du dich in sie hinein legst, fast verschwindest und nicht mehr da bist. Und wenn du dann lang genug vom Schnee bedeckt da liegst und du den Punkt erreicht hast wo du nicht mehr zittern muss von der Kälte, sondern wenn du das Gefühl hast, dass dir so heiß wird, dass du dir alle Kleider ausziehen musst, dann hast du wenigsten eine kleine Ahnung vom Sommer und von der Sonne und der Hitze die dir so wohlig zusetzt, dass du dich ausziehen musst. Aber dieses Gefühl von Hitze ist nur von kurzer Dauer weil du dann ja bald darauf erfroren bist.
Und während du mir das erzählst mit dem Schnee und der Hitze und dem Erfrieren bleibe ich stehen. Ich bücke mich nach meinen Schnürsenkeln, löse sie und setze mich in den Schnee, um meine heißen dampfenden Füße von meinen Lederstiefeln zu befreien. Ich spüre sofort die Kälte des gefrorenen Bodens an meinem Hintern und ziehe mir die Hose aus. Dann die lange Unterhose und zum Schluss meine Boxershorts, die mit kleinen Blümchen bedruckt ist, obwohl ich bedruckte Shorts nicht leiden kann. Ich schaue zu dir hoch und du starrst in meine Augen, sagst aber kein Wort sondern schweigst und stehst still. Mein Penis schrumpelt in der Kälte zusammen. Ich ziehe meine Arme aus dem dicken Wintermantel und werfe ihn neben mich in den Schnee. Ihm folgen: ein Schal, ein Pullover, ein T-shirt ohne Aufdruck, weil ich bedruckte Shirts nicht leiden kann und ein Feinrippunterhemd. Du siehst wie ich mich zitternd und dampfend und keuchend in den Schnee lege. Mitten auf diesem Platz, in dieser Stadt, an diesem Ort, auf diesem Planeten, in diesem Sonnensystem in diesem Universum. Vielleicht macht ja in einem anderen Universum, in einem anderen Sonnensystem, auf einem anderen Planeten, an einem anderen Ort, in einer anderen Stadt, auf einem anderen Platz jemand Anderes genau das selbe wie ich in diesem Moment.
Und während ich darüber nachdenke, dreht sich über mir der Sternenhimmel und bildet unzählige Kreise, die sich wahrscheinlich, weil ich kann das ja nicht selbst sehen, in meinen schwarzen Pupillen spiegelt. Ob du noch da bist weiß ich auch nicht. Es ist mir um ehrlich zu sein auch egal.
Der Transibirischen Eisenbahn ist es übrigens auch egal, dass DU nicht mehr da bist und dass ICH hier liege. Und sowieso ist der Transib auch diese Stadt egal mit ihren mittelalterlichen Bauwerken und seinem herrschaftlichen Schloss. Weil hier die verdammte Transib gar nicht durchkommt. Deshalb egal.
Aber mal angenommen die Transib würde hier durchkommen und irgendein Idiot hätte tatsächlich die Schienen auf dem Permafrostboden hier drauf gestellt, dann würde man jetzt Folgendes in Super-Zeitraffer-Aufnahme beobachten können: ein nackter Mann, der durch seine Körperwärme die wenigen Zentimeter Schnee unter sich schmelzen lässt bis er auf dem gefrorenen Boden liegenbleibt. Das heißt nur kurz liegen bleibt, weil der Mann tatsächlich nicht aufhört zu dampfen und die Kälte ihm offenbar nichts auszumachen scheint. Aber das lässt sich schwer erkennen in dieser Super- Zeitraffer-Aufnahme.
Auf jeden Fall versinkt der Körper des Mannes in den auftauenden, morastigen Boden bis er mit einem nicht-ertönenden „BLUBB“ vom Boden verschluckt wird. Man wartet einige Millisekunden, bis es um die Stelle, wo der Mann verschwunden war, anfängt zu blubbern. Der heiße Körper vom gefrorenen Boden umschlossen, glüht förmlich und schmilzt die millionenjahre bestehende Eisschicht um ihn herum. Auch das Babymammut, das da unten so lange im Eis eingeschlossen war wird nun endlich aufgetaut, was aber leider von niemandem bemerkt wird.
Die Häuser der Stadt, die auf diesem frostigen Grund gebaut worden sind, beginnen in den nun nicht mehr so frostigen Grund abzusacken und stürzen ein. Menschen bleiben im sumpfigen Geblubber stecken und schreien und jammern und wollen die Kälte zurück, die sie auf festem Boden hat stehen lassen. Die ganze verdammte Stadt versinkt in der Tundra. Die jetzt nicht mehr als solche bezeichnet werden kann. Und die Transib, die geht unter wie ein Schiff, dem man ein enormes Loch in den Bug geschossen hat. Und die Leute die drin sitzen sind kurz auch endlich mal entertaint worden, weil die Fahrt durch die Tundra sterbenslangweilig ist. Alles geht vor die Hunde. Blubbernd.
Vielleicht wäre genau das in jenem besagten anderen Universum passiert, aber hier nicht. Die Stadt steht noch fest auf unzähligen gefrorenen Herzen und die 9288km lange Strecke der Transsibirischen wurde dort gebaut, wo es keinen Permafrostboden gibt, weil der Ingenieur natürlich bedacht hat, dass unter Umständen der Dauerfrost irgendwann mal auftauen könnte.
Und du, du wickelst mich in warme Decken, weil ich bei dem Versuch das ewige Eis zu schmelzen, natürlich fast erfroren wäre. Und die Leute laufen weiter auf ihrem sicheren harten, eiskalten Boden und wohnen weiter in ihren kalten Zimmern und atmen weiter die kalte Luft, die ihre Herzen schon längst in Tiefkühlkost verwandelt hat.