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Petronella und der Witzbold
Vor diesem Moment hatte Nelly schon den ganzen Morgen gezittert, jetzt war er da und genauso schrecklich wie in ihrer Vorstellung.
Die Lehrerin rückte ihre Brille zurecht. „Wie ihr sicher schon gesehen habt, haben wir eine neue Schülerin.“ Sie sah Nelly erwartungsvoll an. „Magst du kurz etwas über dich erzählen?“
Nelly erhob sich umständlich. Alle starrten sie an und warteten darauf, dass sie zu reden begann. Im Mittelpunkt stehen war der absolute Horror, noch viel schlimmer als ein Besuch beim Zahnarzt.
„Ich heiße Petronella Morgenstern …“ Weiter kam sie nicht.
„Ah, die kleine Schwester von Pippilotta“, rief jemand hinter ihr.
Immer die gleichen doofen Sprüche. Ein paar Schüler kicherten. Und dass sie ausgerechnet rote Haare hatte, machte die Sache auch nicht besser. „Gewöhnlich kann jeder“, sagte Oma immer, aber das tröstete Nelly in solchen Momenten nicht.
Der Junge vor ihr schaute über die Schulter und fragte: „Bist wohl mit dem Pferd gekommen?“, und prustete los. Jetzt wieherte die gesamte Klasse.
„Das ist ja ein toller Empfang“, schimpfte die Lehrerin. „Was soll Petronella für einen Eindruck bekommen?“
„Alle nennen mich Nelly“, sagte Nelly trotzig und biss sich auf die Unterlippe. „Wir sind aus Aachen hierhergezogen.“ Und ich wollte überhaupt nicht in dieses blöde Kaff. Und ich wäre viel lieber bei meinen Freunden und bei Oma geblieben, aber meine Eltern haben mich gezwungen, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Okay. Willkommen, Nelly, in der Klasse 4a. Ich bin Marlies Schreiner, eure Klassenleiterin. Ihr habt bei mir Mathe und Deutsch. Normalerweise wissen deine Mitschüler, wie man sich benimmt. Und nun zurück zum Unterricht. Wo waren wir gestern stehengeblieben, Fabian?“
Nelly setzte sich und atmete erleichtert aus. Wenn die Dumpfbacken erst mitkriegen, dass ich in Mathe eine totale Niete bin, dann hören die nie mehr auf zu lachen, dachte sie.
Nelly war hundemüde. Doch sie konnte nicht einschlafen. Andauernd schlich sich das Gekicher ihrer Mitschüler in den Kopf. Sie drehte sich im Bett, bis sie straff wie eine Mumie in der Decke eingewickelt war. Jetzt reichte es. Sie kramte die Taschenlampe aus dem Versteck hinter den Socken und machte sich noch mal auf die Suche nach dem Geschenk von Oma. Mama hatte das neue Buch angeblich in ihr Zimmer gelegt, doch es war wie vom Erdboden verschluckt. Gerade als Nelly enttäuscht zurück ins Bett wollte, hörte sie ein Kratzen und Schaben. „Hallo!“, flüsterte sie. Dann fiel ihr das gekippte Fenster ein. Bestimmt hatten die Äste der alten Kastanie, die beinahe in ihr Zimmer greifen konnten, an die Scheiben geklopft. Schnell schlüpfte sie unter die Decke. Da hörte sie wieder ein Geräusch. Das Tapsen von kleinen, nackten Füßen. Plötzlich gab es einen Ruck und die Matratze hob sich ein Stück an. Nelly stieß einen Schrei aus. Ihr Herz schlug schnell und laut. Dann versteckte sie sich unter der Zudecke. Nach einer Weile traute sie sich hervorzulugen. Sie schwenkte die Lampe durchs Zimmer. Der Lichtkegel tanzte über Regal, Schreibtisch und Stuhl. Alles war wie immer. Nur die Schranktür stand offen. Mit einem Mal bewegte sich der Berg getragener Klamotten, der vor ihrem Bett lag. Strümpfe, Hemdchen und Pulli flogen im hohen Bogen durch die Luft. Nelly riss Augen und Mund auf, aber vor Überraschung brachte sie kein Wort heraus.
„Na, hier ist ja ein Tohuwabohu“, sagte jemand mit krächzender Stimme.
Inmitten der verstreuten Kleidung stand ein Wesen mit grünen Haaren, nicht größer als Nellys Lineal. Und es trug ein T-Shirt, das genau so aussah wie Nellys Lieblingshirt, das mit den grünen Punkten. Es schüttelte sich, klopfte nicht vorhandene Staubflusen von der Schulter und nieste dreimal.
„Kannst du mal die Flutlichtanlage abschalten? Sonst werd ich noch blind.“
Nelly knipste die Tischlampe an. „Hast du mich jetzt erschreckt“, sagte sie. „Wer bist du denn?“
„Darf ich mich vorstellen?“, sagte der Kleine, fuchtelte mit den Armen, machte eine tiefe Verbeugung und knallte die nackten Füße aneinander. „Rukola, der Eindrucksvolle.“ Dann fiel er um. „Ups, noch ein bisschen wackelig“, murmelte er.
Nelly lachte. Sie konnte gar nicht wieder aufhören damit.
„Was gibt’s denn da zu lachen?“, fauchte Rukola und er schielte entsetzlich dabei.
„Tut mir leid“, sagte Nelly und wischte sich die Tränen weg. „Aber das sah zu ulkig aus.“
„Natürlich sah das ulkig aus. Hab ja auch lange genug geübt. Aber sag schon, wie heißt du denn?“
„Wehe du lachst!“, sagte Nelly.
Rukola hielt Zeige- und Mittelfinger in die Höhe. „Ich lache nicht. Ehrenwort.“
„Petronella.“
„Das ist aber ein schöner Name“, sagte Rukola und seine Mundwinkel zuckten.
„Bin nach meiner Oma benannt. Familientradition. Sie ist sehr berühmt.“ Sie nickte eifrig. „Papa sagt immer: Nomen est omen. Das ist Latein.“
„Weiß ich doch.“ Rukola verdrehte die Augen. „Heißt: Der Name ist von Oma.“
Nelly kicherte. „Hast du schon von ihr gehört? Petronella van Berg. Sie schreibt Kinderbücher.“
Rukola legte die Stirn in Falten, so als würde er angestrengt nachdenken. „Klar! Eine berühmte Schriftstellerin. Kennt doch jedes Kind.“
„Bist du ein Kobold?“
„Nein! Wie kommst du darauf? Ich bin ein Tor.“
„Wie beim Fußball?“ Nelly lachte wieder. „Du bist ein Witzbold.“
„Auch kein Witzbold, ich sagte doch: ein Tor.“ Er drückte den Rücken durch und stellte sich auf die Fußspitzen.
„Und wo kommst du so plötzlich her?“
„Ach“, Rukola winkte ab. „Das willst du nicht wirklich wissen.“
„Doch! Und warum bist du überhaupt gekommen?“
„Wer, wo, warum. Frag doch nicht so viel! Ich bin da und ich kann dir helfen, wobei auch immer. Basta!“
„Supi!“, rief Nelly. „Dann kannst du mir drei Wünsche erfüllen.“
„Was würdest du dir denn wünschen, so zum Beispiiiiel?“, fragte Rukola und zog das letzte Wort so lang wie Nelly manchmal ihren Kaugummi.
„Kannst du oder kannst du nicht?“
„Mit links und vierzig Fieber!“, beeilte er sich zu sagen.
Nelly sprang aus dem Bett. „Gut. Dann los! Ich wünsche mir, dass …“
„Nicht so ungeduldig! Ein bisschen Vorbereitungszeit brauche ich schon“, sagte Rukola und wackelte mit erhobenem Zeigefinger. „Ich muss dich erst besser kennen lernen, so als Mensch, meine ich. Vorher brauch ich ein bisschen Schlaf. Morgen ist auch noch ein Tag.“
„Ooch, schade. Aber vielleicht hast du recht.“ Nelly gähnte. Sie hob Rukola ins Bett. Der wühlte sich bis in die Mitte des Kopfkissens vor und rollte sich da zusammen. Nelly rutschte an die Wand, um ihn nicht zu zerdrücken. „Und du kannst wirklich Wünsche erfüllen?“, flüsterte sie. Aber Rukola schnarchte schon leise.
Die Sonne kitzelte Nelly in der Nase und sie schlug die Augen auf. Sofort fiel ihr wieder der seltsame Besuch von gestern Nacht ein. Rukola, der Witzbold. Er lag nicht neben ihr. Sie schaute unter die Decke, hüpfte aus dem Bett, durchwühlte die Schmutzwäsche auf dem Fußboden, öffnete den Kleiderschrank. Rukola blieb verschwunden. Enttäuscht fiel sie zurück ins Bett, stützte den Kopf in die Hände. Das wäre auch zu schön gewesen.
„Huhu! Suchst du mich? Hier bin ich“, drang eine Stimme an ihr Ohr. Die kam ganz klar aus dem Schulranzen.
Erleichtert ließ sie sich auf die Knie fallen. Am liebsten hätte sie Rukola geknuddelt, doch das traute sie sich nicht. „Du willst wohl mit in die Schule?“ Bei dem Wort Schule wurde Nelly schlecht. Sie sollten sich für Mathe mit den Längenmaßen beschäftigen. Das hatte sie ganz vergessen. Aber nun hatte sie ja Rukola, der würde ihr schon helfen, die richtigen Antworten zu geben.
Mama steckte den Kopf zur Tür herein. „Du bist ja schon wach, Spatz“, sagte sie. „Ich geh dann mal rüber.“ Sie zeigte in die Richtung des Gartenpavillons, in dem sie ihr Atelier eingerichtet hatte. „Alles klar bei dir?“
Nelly nickte heftig. Erst jetzt merkte sie, dass sie wie angewurzelt stand, sich auf die Zunge biss und die ganze Zeit die Luft angehalten hatte.
Für einen Moment sah es so aus, als wollte Mama ins Zimmer kommen, doch dann hatte sie es eilig. „Frühstück steht in der Küche. Viel Spaß in der Schule, Spatz.“ Und weg war sie.
„Puh, das war knapp“, krächzte Rukola, der sich schnell tief in den Schulranzen geduckt hatte und nun ächzend nach oben robbte.
„Noch sechs Wochen bis zu ihrer Ausstellung. Hast du die hässliche Latzhose mit den tausend Farbklecksen gesehen?“, fragte Nelly.
„Wie denn? Kann ich durch Schulranzenwände gucken?“
„Aber vielleicht kannst du dich wenigstens unsichtbar machen.“ Nelly seufzte. „Da wäre vieles einfacher.“
„Gleich wirst du Bauklötzer staunen“, sagte Rukola und kletterte auf den Stuhl. „Tatata! Aufgepasst!“, rief er aus. „Rukola, der Wunderbare, verwandelt sich vor deinen Augen in Rukola, den Unsichtbaren.“ Seine Haare stellten sich wie Antennen auf und er begann zu zittern. Er schielte noch mehr als sonst und sein Kopf lief feuerrot an. So stand er eine Weile.
„Na ja, macht nix“, sagte Nelly schließlich. „Ich kann die Matheaufgaben auch nicht lösen.“
„Au fein, Mathe, mein Spezialgebiet. Da kannst du aber von Glück reden, dass ich dich begleite.“
Frau Schreiner kehrte der Klasse den Rücken zu und schrieb in Druckbuchstaben über die gesamte Breite der Tafel: Längenmaße.
Nelly hatte ein Gefühl im Bauch, als wollte ihr Frühstück wieder ans Tageslicht. Sie hibbelte auf ihrem Stuhl hin und her. Als Rukola plötzlich nieste, erst leise, dann immer kräftiger, stimmte sie in das Nieskonzert ein. Auf keinen Fall durfte jemand Rukola hören. Das hätte noch gefehlt, dass sie beide gleich am ersten Tag aufflogen. Dann fiele der ganze schöne Plan von den guten Noten ins Wasser.
„Was wissen wir über Längenmaße?“, fragte Frau Schreiner. „Fabian?“
Als hätte Fabian nur darauf gewartet, schoss seine Antwort wie aus der Pistole: „Längeneinheiten sind total wichtig im täglichen Leben. Wir brauchen eine Zahl und eine Einheit, und schon können wir Entfernungen bestimmen. Wir kennen …“
„Sehr gut!“, unterbrach Frau Schreiner seinen Redeschwall.
„Streber!“, grummelte Nellys Schultasche.
Schnell trat Nelly dagegen. Mit Bumms. Tor!, dachte sie.
„Nelly, welche Längenmaße kennst du?“, fragte Frau Schreiner weiter.
Nach kurzem Nachdenken sagte Nelly: „Äh, Meter?“ Sie merkte, wie Fabian sie von der Seite musterte und ihr wurde heiß.
„Ja. Und was noch?"
So sehr sich Nelly auch anstrengte, ihr wollte nichts mehr einfallen. Ihr Kopf war völlig leer.
„Nun Nelly, hast du keine Idee?“, fragte Frau Schreiner. „Dann frage ich mal, mal sehen ... Tabea?"
So schnell wollte Nelly nicht aufgeben. Mit Rukolas Hilfe würde sie es schaffen. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Ich wünsche mir, dass ich die Fragen von Frau Schreiner beantworten kann.
Da hörte sie die bekannte Flüsterstimme: „ Kilo, Dezo, Zento!“
Endlich. Rukola. Und schnell plapperte sie nach: „Kilo, Dezo, Zento."
Erst kicherte Emilia, danach prustete Tabea los und dann lachten alle. In dem Moment klappte Frau Schreiner die Tafel auf. Da sah Nelly die bunten Schilder mit den Maßangaben, von der kleinsten bis zur größten geordnet. Und natürlich kannte Nelly sie alle.
„Musstest du so schnell laufen?“ Rukola saß auf dem Schreibtisch, ließ die Beine baumeln und massierte sich die Schläfen. „Jetzt hab ich eine Gehirnerschütterung.“
Nelly schrieb in ihr Tagebuch. Sie beachtete Rukola nicht. Auch nicht, als er sie an den Haaren zog und Faxen machte. Kurz entschlossen tippelte er über das Papier und umklammerte mit beiden Händen den Stift.
„Stör mich nicht! Ich muss Hausaufgaben machen.“ Sie schob Rukola zur Seite.
„Ich bin ja nicht auf den Kopf gefallen.“ Er tippte sich an die Stirn. „Du schreibst eine Geschichte.“
„Ja genau, eine Geschichte von einem kleinen Monster, das Versprechungen macht und sie dann nicht hält“, sagte Nelly.
„Ach, du meinst wohl mich? Aber ich hab doch gar nix gemacht!“, jammerte Rukola.
„Eben, gar nix gemacht, außer Blödsinn gestammelt. Aber wieso solltest ausgerechnet du etwas über Längenmaße wissen, du …, du hässlicher Zwerg.“
„Moooment! Erstens bin ich ein hässlicher Tor.“ Rukolas Haare stellten sich zu Berge und das Schielen verstärkte sich wieder. „Zweitens war der Wunsch nicht eindeutig formuliert. Und drittens hab ich alles richtig vorgesagt. Kann ich doch nix für, wenn du schwerhörig bist“, trumpfte Rukola auf.
„Bin ich nicht“, rief Nelly. „Kannst du mir bitteschön mal sagen, was das sein soll, ein Zento?“
„Weiß doch jedes Kind. Ein Zentometer ist ein Längenmaß.“
In der Turnhalle roch es nach Schweiß und Leder. Nelly streckte die Arme, sprang ein paar Mal hoch, um sich locker zu machen, sodass ihre Zöpfe wippten. Sie linste immer wieder zu ihrem Sportbeutel, den sie auf die Judomatten abgelegt hatte. Von da aus konnte Rukola durch das winzige Loch im Stoff die gesamte Halle überblicken. Eigentlich hatte sie ihn gar nicht mitnehmen wollen, aber er tat ihr so leid, als er bettelte und jammerte.
Das Los hatte Paulina und Phillip als Könige festgelegt. Die beiden wählten nun ihr Team aus. Nelly blieb bis zum Schluss stehen. Als klar war, zu welcher Mannschaft sie gehören würde, hörte sie Tabea zischen: „Die soll sich verpissen, die Karotte!“
Und in dem Augenblick wusste Nelly, dass es richtig war, Rukola doch zum Völkerballturnier mitzunehmen. Euch werd ich’s zeigen. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Ich wünsche mir, dass ich unbesiegbar bin. Eine angenehme Wärme durchströmte Nelly. Kaum hatte der Sportlehrer das Match angepfiffen, herrschte in null Komma nix ein Geschrei in der Halle. Der dicke Gregor trat Nelly auf die neuen Turnschuhe. Und Tabea stieß ihr den Ellenbogen in die Seite, als Nelly den Ball fangen wollte. Doch dann ging etwas Merkwürdiges mit Nelly vor sich. Die Turnhalle drehte sich einmal um ihre eigene Achse, Nelly wurde ganz leicht zumute und ihr Blick schärfte sich. Und das Beste war, sie sah den Ball wie in Zeitlupe auf sich zufliegen, sodass sie meinte, seine Flugbahn berechnen zu können. Ihre Augen waren überall gleichzeitig. Sie duckte sich rechtzeitig oder sprang hoch, aber meistens fing sie den Ball. Jedes Mal, wenn sie ihn zurück ins gegnerische Feld schleuderte, wurde er zum gefährlichen Geschoss, denn er traf immer einen Spieler, schlug beim Aufprall sogar Funken.
Auf der Gegenseite wurde gerade Phillip eingewechselt, er war nun der einzige Spieler. Im eigenen Spielfeld hielten sich nur noch Nelly und Fabian auf. Phillip schnappte sich den Ball, nahm Anlauf und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als er warf. Nelly sah den Ball kommen, erkannte, dass er Fabian an der Schulter treffen würde. „Achtung! Nach links!“, rief sie und gab ihm einen Schubs. Fabian sprang zur Seite. Der Ball knallte Nelly an den Kopf, prallte ab und traf Fabian voll an der Brust. Herr Fischer pfiff. Mit hängenden Köpfen verließen beide das Innenfeld. Nun trat Paulina gegen Phillip an. Die Kinder der gegnerischen Mannschaft hüpften und grölten vor Freude.
Fabian sah Nelly lange an und fragte: „Tut’s weh?“
Nelly schüttelte den Kopf. Die Wange brannte als hätte sie ein heißes Bügeleisen abbekommen. Aber das würde sie nie zugeben.
„Mega Leistung“, sagte Fabian und reckte den Daumen.
Nelly zuckte die Schultern und lächelte. „Ist doch nur ein Spiel.“ Dann fiel ihr Rukola ein. Ihr wurde heiß. Der Platz, an dem sie die Tasche abgestellt hatte, war leer.
Nelly befühlte ihre Wange, die noch immer brannte.
„Sieht übel aus. Ganz übel“, sagte Rukola, während er auf dem Waschbecken balancierte und sein Spiegelbild bewunderte. „Aber wenn es dich tröstet, mir tut auch jeder Knochen weh.“
Nelly tauchte den Waschlappen ins kalte Wasser, wrang ihn aus und legte ihn aufs Gesicht. Das brachte etwas Linderung. „Weißt du überhaupt, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Ich dachte, sie haben dich entführt“, nuschelte sie.
„Weißt du überhaupt, wie weh das getan hat, als mich der Ball von der Matte gefegt hat?“, sagte Rukola. „Ein Attentat. Pferdeküsse und innere Verletzungen ohne Ende.“ Er hob den Saum des Shirts an und krempelte die Ärmel hoch. „Guck! Alles blau.“
Nelly konnte keine blauen Flecken erkennen. „Da ist kein Ball in deine Richtung geflogen. Das wäre mir aufgefallen.“
„Doch, dein neuer Freund, dieser, wie heißt er noch, dieser gefährliche Fabian hat mich abgeschossen. Peng! Das war voll Absicht. Vor dem musst du dich in Acht nehmen.“
Nelly kicherte. „Kann es sein, dass du ein bisschen rumgehopst und von der Matte gefallen bist?“
„Pah, niemals“. Rukola holte Schwung und sprang hoch. „So meinst du?“ Er verfing sich mit dem Fuß im T-Shirt und ruderte mit den Armen, als er auf dem Hosenboden ins Waschbecken rodelte.
„Hilfe! Ich ertrinke“, brüllte er, obwohl er nur bis zu den Knien im Wasser stand.
Nelly hievte ihn aus der Pfütze und lachte. „Rukola, der Wasserscheue.“
Als sie seine Füße mit dem Handtuch trocken rubbeln wollte, drückte er sich gegen die Fliesen und krakeelte weiter: „Willst du mich umbringen?“
In der großen Pause aß Nelly den Apfel, den sie sich morgens aus der Obstschale genommen hatte, und schlenderte zu der kleinen Gruppe Mitschüler am Zaun. Als sie sich in den Halbkreis stellte, verstummte die Unterhaltung. Emilia malte mit der Fußspitze Achten in den Kies und Tom kickte Steinchen durch die Latten. Fabian lehnte an der Hauswand, die Hände in den Hosentaschen vergraben und lächelte Nelly an. „Na, du hast ja gestern mächtig Gas gegeben.“
Tabea lachte. „Blöd nur, dass wir trotzdem verloren haben.“
„Na und, ist doch nur ein Spiel“, sagte Fabian. „Heute Nachmittag woll'n wir zum Ellerbergsee. Kommst du mit, Nelly?“
„Weiß nicht. Wo ist der denn?“
„Mit dem Fahrrad keine Entfernung, Richtung Aibach. Ich kann dich abholen, wenn du willst“, sagte Fabian und betrachtete seine Fußspitzen.
„Ich kann dich abholen, wenn du willst“, äffte Tabea ihn nach.
Und Nelly sagte schnell: „Klar!“
Als die Schulglocke bimmelte, drängten sich die Schüler ins Schulgebäude. Die Luft im Klassenzimmer roch abgestanden. Nelly öffnete das Fenster. Noch zwei Stunden Unterricht, das war zu schaffen. Auch wenn das Wasser des Ellerbergsees noch frisch sein würde, sie freute sich auf den Ausflug. Sie schaute in den Ranzen, Rukola saß auf dem Boden und verdrehte die Augen. „Das ist voll langweilig hier!“
„Keiner verlässt den Raum!“, rief Tom in die Klasse. „Mein grüner Textmarker ist weg. Und die Kaugummis auch.“
„Geht's noch?“, fiel Gregor ihm ins Wort. „Mein Lineal lag vorhin noch hier und jetzt nicht mehr.“
„Wo sind die fünf Euro aus meiner Federmappe?“, fragte Tabea. „Ist doch komisch, findet ihr nicht? Seit die Karotte hier ist.“ Dabei sah sie Nelly mit einem schiefen Grinsen an.
Alle Blicke ruhten auf Nelly. Ihr Gesicht brannte. Sie wollte antworten, so viele Gedanken schlugen Purzelbäume in ihrem Kopf, doch sie konnte sie nicht sortieren und aussprechen. Sie hatte noch nie im Leben gestohlen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Jetzt bloß nicht losheulen wie eine Heulsuse.
„Ich brauch eure blöden Sachen nicht“, sagte Nelly mit zittriger Stimme. “Und wenn ihr mir nicht glaubt, dann schaut selber nach.“ Sie hob den Ranzen auf den Arbeitstisch, um seinen Inhalt auszukippen, doch im letzten Augenblick besann sie sich. Das war nicht möglich, ohne ihr Geheimnis preiszugeben.
„Denkt doch mal logisch!“, warf Fabian ein. „Wie sollte Nelly denn eure Sachen nehmen, wenn sie mit uns zusammen in der Pause war?“
Frau Schreiner stand in der Tür und hatte die Diskussion mitangehört. „Niemand wird hier beschuldigt! Ich bin sicher, alles wird sich aufklären. Wir sprechen nach dem Unterricht darüber. Und jetzt schreiben wir den angekündigten Aufsatz.“
Am Nachmittag lag Rukola im Gras, die Arme unter dem Kopf verschränkt und schaute in den Himmel. „Bombenwetter“, sagte er.
„Jetzt sind sie am Ellerbergsee.“ Nelly warf Kieselsteine in das trübe Wasser des Gartenteichs. Mit jedem Wurf wurde sie wütender. Und hilfloser. „Ach, Rukola, was mach ich denn nur?“
„Bleib mal ganz relaxt. Rukola, dem Weisen, kommt bestimmt sofort ‘ne geniale Idee. Aber wenigstens weißt du jetzt, dass die alle doof sind. Sich so aufzublasen.“ Er dehnte sich und gähnte. „Die verstehen überhaupt keinen Spaß.“
Nelly bückte sich gerade nach dem nächsten Stein, doch sie hielt in der Bewegung inne und schaute Rukola mit hochgezogenen Brauen an. „Du? Dass ich da nicht gleich draufgekommen bin. Du warst das.“
Rukola kaute auf seiner Lippe und nach einer langen Weile sagte er: „Aber das mit den fünf Euro, das war ich nicht.“
Nelly konnte sich nicht erinnern, jemals so enttäuscht gewesen zu sein. Stocksteif stand sie da. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. „Ich wünsche mir, dass du verschwindest. Für immer.“ Als sie die Augen aufschlug, stand Rukola immer noch mit hängenden Schultern vor ihr.
„Aber wo soll ich denn hin?“
„Mir doch egal“, sagte Nelly. „Alles machst du kaputt. Und Wünsche kannst du auch nicht erfüllen“, schrie sie ihn an. „Hau ab!“
Rukola ließ den Kopf hängen. „Ich dachte, ich bin dein Freund.“ Langsam, mit zögerlichen Bewegungen watete er ins Wasser, das ihm augenblicklich bis zur Hüfte reichte. Um ihn herum entstanden weißgrüne Farbschlieren, die sich in kleinen Wellenbewegungen ausbreiteten. Nelly sah, wie Rukola immer blasser wurde, so als würde er sich auflösen. Bis zum Hals war er schon eingetaucht, als Nelly einen großen Schritt in den Teich machte, Rukola beherzt ergriff und ans Ufer zog. Sie drückte ihn fest an sich, bis sie selber ganz durchnässt war. Dann legten sie sich ins Gras, um sich von der Sonne trocknen zu lassen. Nur Rukolas Farben konnte die Sonne nicht zurückbringen, er blieb blass und durchscheinend.
Frau Schreiner schob die Brille hoch. „Bevor ich’s vergesse. Eure Utensilien sind wieder aufgetaucht. Fabian hat sie im Regal beim Arbeitsmaterial gefunden. Hatte wohl irgendein Witzbold die Finger im Spiel.“ Dann teilte sie die Aufsätze aus. „Sehr schönes Abenteuer, Nelly“, sagte Frau Schreiner und legte die Blätter vor Nelly ab. „Was hältst du davon, wenn du uns deine Geschichte von dem frechen Kobold vorliest?“
Nelly nickte und lächelte.
„Wie oft denn noch?“, flüsterte es aus der Schultasche. „Ich bin ein Tor.“