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Pottwale, Eine Nacht im Kiosk
„Luigi, noch en Pilsken und en Kurzen, dann geht der Oppa na Bett!“ Reinhard Nölling lehnte sich mit einem satten Grinsen an die Raufaser und ließ seine Augen zwischen den Gesichtern wandern, die sich ihm zuwandten. „Ja, wat? Ich muss morgen raus, ihr Knalltüten.“
„Tu mich auch noch einen.“ Pietsch hob mit prüfendem Blick die Flasche und hielt Luigi das Glas hin. Für ein Körnchen war noch Zeit. „Aber dann is Schicht im Schacht.“
„Günther, wat is mit dir?“
Günther Pawlak streckte seinen Arm aus und ließ Luigi einschenken. Vier Gläser klirrten, vier Köpfe wurden Pianisten gleich in den Nacken gelegt, dann ertönte wie aus einer Kehle ein raues, von Schütteln begleitetes „Ahhhhhr!“
„Luigi, hau rein!“
Reinhard und Pietsch ließen das Schild mit der Aufschrift „Geschlossen“ schaukeln, das an der Glastür hing, und zogen ihre Jacken zu. Sie hatten denselben Weg, dreihundert Meter die Straße entlang. In Reinhards Einfahrt verabschiedeten sie sich mit einem Wink, dann verschwanden sie, jeder mit der ihm eigenen Eleganz, in ihren Hauseingängen.
Reinhard war im Begriff, sich mit weit weniger Anmut seiner Hose zu entledigen, da polterte es durch das ganze Haus und schepperte draußen. Er ging ins Schlafzimmer und riss das Fenster auf. „Samma, geht dat auch leiser?“
Von Pietsch war nichts zu sehen. Überhaupt war alles ruhig. Reinhard horchte, starrte in die Nacht, schüttelte den Kopf und wollte das Fenster schließen, als sein Rundumblick in seiner Einfahrt innehielt.
„Wo is die Karre?“, fragte er, zwängte sich wieder in die Hose und stieg die Treppe runter.
Vor der Garage stoppte er gerade noch rechtzeitig, um in den Krater, der sich vor ihm auftat, nur zu starren und nicht zu fallen.
„Leck mich fett!“, hörte er neben sich Pietschs vertraute Stimme. „Wat is dat denn?“
„Dat issn Loch.“ Reinhard rieb sich das Kinn. „Da is meine Karre drin.“
„Wat? Da drin?“
„Genau.“
„Leck mich fett! Dat hat abba auch ganz schön gerummst.“
„Wat soll ich denn getz machen? Ich muss doch morgen inne Schule.“
„Schule? Wat wills du denn inne Schule?“
„Na, Umschulung. Kann doch nich mehr Busfahn.“
„Wieso?“
„Rücken. Bandscheibe.“
„Ahso. Und getz?“
„Na, Umschulung.“
„Für wat?“
„Mediengestalter.“
„Wat?“
„Na, so Grafik und Hyper... so Browser ...“
„Bisse ja doch wieder am brausen, hehe.“
„Sehr witzich. Ich kapier da nix. Is abba ja getz auch egal.“
„Jo, wat machen wa getz mit deine Karre?“
„Ja, rausholen!“
„Und wie?“
„Keine Ahnung.“
„Lass ma Günther fragen, der is doch vonnet Fach.“
Pietsch und Reinhard machten sich auf zum Kiosk und fanden Luigi und Günther vor, wie sie die beiden zurückgelassen hatten. Günther musste noch ein Bier geordert haben und der Korn war mit Sicherheit auch nicht derselbe, mit dem er sie verabschiedet hatte. Er sah auf die Uhr, als sie durch die Tür traten, konnte Pietsch aber nicht zuvorkommen, der mit Neuigkeiten aufzuwarten hatte.
„Sach ma, Günni, habt ihr unter Reinhard seine Hütte gebuddelt?“
„Wat?“
„Da issn Schacht. Der is getz auf.“
„Da frach ma lieber dem Reinhard seine Omma, du Flachmeißel, die sammelt doch allet, hehe.“
„Sehr witzich“, fand Reinhard, „meine Karre is da drin. Die muss da raus. Wat mach ich denn getz?“
„Genau“, pflichtete Pietsch bei, „der Reinhard kann ja nich mitm Loch inne Schule fahn.“
„Schule?“ Günther sah auf sein Bier, dann auf den Korn, entschied sich erst für Letzteren, dann noch für die Flasche zum Nachspülen.
„Egal“, fand Reinhard. „Die Karre muss da raus. Ich brauch die.“
„Wieso hast du ein Loch vor dem Haus?“, wollte Luigi wissen.
„Keine Ahnung! Riesen Krater! Passiert ja schoma.“
„Und dein Haus?“
„Weiß nich, hab ich nich geguckt.“
„Dann lass mal lieber gucken!“ Luigi nahm seinen Schlüsselbund und winkte Günther mit dem Kopf zum Aufbruch.
Vier Herren mit vier Flaschen Bier standen vor einem etwa sechs mal sieben Meter messenden Krater vor Reinhards Haus und schüttelten wie einstudiert synchron die Köpfe.
„Boah, glaubse!“, gewann Günther als Erster seine Sprache zurück. „Ich kann de Karre nich ma sehn!“
„Dat is echt tief!“, musste auch Pietsch eingestehen, der versuchte dem Lichtkegel aus Luigis Smartphone zu folgen. „Bestimmt zwanzich Meter.“
„Na, vielleicht acht oder zehn“, schätzte Luigi. „Ich glaube, da sieht man einen Scheinwerfer. Ist aber eine Menge Dreck drauf. Da ist ordentlich was nachgerutscht.“
„Wie krich ich dat Dingen da wieder raus?“, wollte Reinhard wissen.
„Da kommt de Bezirksregierung für“, glaubte Günther zu wissen, „abba die pennen getz.“
„Und nu?“ Reinhard strich sich über sein Kinn.
„Sehen wir erst mal nach deinem Haus“, setzte Luigi Prioritäten.
Rechts am Krater vorbei, über das schmale Blumenbeet hinweg, leuchtete Luigi den Weg in Richtung des freistehenden Einfamilienhauses.
„Passt mich auf die Blümkes auf, ihr Heiopeis, die Hildi zieht euch de Öhrkes lang, wenn da wat dran kommt.“
Auf Zehenspitzen ging es weiter zum Haus, dem ein beachtlicher Teil der Kellerwand an der vorderen linken Ecke fehlte.
„Reinhard, du hast ein weit größeres Problem als dein Auto“, stellte Luigi fest.
„Dat sieht aus wie gekonnt, abba nich gewollt!“, ergänzte Günther.
„Scheiße, Reinhard, dat musse abstützen, dat haut dir ab!“ Pietsch sah zu seinem Haus rüber, suchte die Wand ab, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem erkennbaren Schaden zu.
„Und nu?“ Reinhard knetete seine Wangen.
„Feuerwehr“, meinte Luigi, „was sonst?“
„Die sperren dir de Bude!“, wandte Günther ein.
„Willi!“, fiel Pietsch ein. „Der hat nen Trecker, der kann deine Karre rausziehn. Und der hat Stahl, da könnwa dein Keller mit abstützen.“
Reinhard sah Luigi an, der eine Augenbraue anhob und mit den Schultern zuckte, aber keinen Widerspruch einlegte. Also machten sie sich auf den Weg zu Bauer Vogt.
Es waren gute eineinhalb Kilometer bis zum Hof, also nutze Günther den Weg, um ein paar Details aus Reinhard herauszuquetschen, die ihm dringlicher erschienen, als dessen ohnehin missliche Lage.
„Wat machst du inne Schule?“
„Umschulung. Mediengestalter. So Computergedöns.“
„Und wat is mitm Busfahn?“
„Is nich mehr.“
„Und wer tu getz dem Bus fahn?“
„Hassan.“
„Wer?“
„Neuen Kollege.“
„Wieso?“
„Wie, wieso? Der is halt jung, der kann dat noch.“
„Glaubse nich. Wo is der her?“
„Pawlak, du Eierfeile, wat weiß denn ich? Will doch keiner wissen.“
Pietsch kicherte und Günther hatte keine weiteren Fragen.
Bei Vogts brannte noch Licht, also bauten sich die nächtlichen Besucher im Hof vor dem Wohnhaus auf. Günther, der die lauteste Stimme hatte, wurde per Blickkontakt zum Vorsprecher gewählt.
„Willi!“
Vier Augenpaare sahen hoch zu dem Fenster, hinter dessen Vorhängen Schatten in Bewegung gerieten. Der Vorhang glitt zur Seite, eine Frau im Bademantel erschien, öffnete das Fenster, stütze sich auf der Fensterbank ab und beugte sich vor.
„Günther?“
„Trudi, du flotten Feger, sach ma dem Willi, der soll ma kommen.“
„Ich geb dir gleich ‚Flotten Feger‘, Männeken. Der Willi is grad aned essen.“
„Dat geht getz nich. Wir brauchen dem Willi seinen Trecker.“
„Wat braucht ihr? Seid ihr besoffen?“
„Nee, der Reinhard hat en Loch inne Einfahrt. Da steckt ihm seine Karre drin. Die muss da raus, der Reinhard muss inne Schule.“
„Inne Schule?“
Reinhard verdrehte die Augen.
„Trudchen, sach dem Willi, der soll beim Reinhard kommen, mittem Trecker. Und der soll Baustützen mitbringen, sonst kracht dem Reinhard seine Hütte ein.“
„Ihr seid doch bekloppt. Willi!“
Wilhelm Konrad Vogt erschien nicht am Fenster, öffnete stattdessen die Haustür und trat kauend in den Hof.
„Wat is?“
„Willi! Wir brauchen dein Trecker! Dem Reinhard is de Karre inne Grube geschossen.“
„Wat für ne Grube?
„Inne Einfaht. Riesen Loch. Seilwinde brauchse auch. Und Baustützen fürn Keller.“
„Wieso Keller?“
„Na, der is auch im Arsch.“
„Getz?“
„Klar, getz!“
„Ihr seid doch bekloppt!“
„Komm, mach hin!“
Willi schüttelte den Kopf, steckte sich den Rest Brot in den Mund, kaute, schluckte, sah zum Fenster hoch und schüttelte wieder den Kopf.
„Mausezähnken, ich muss nomma los.“
„Mit den Dösköppen?“
„Sieht so aus.“
Während vier Herren damit beschäftigt waren, auf umständliche Weise einige Baustützen auf Bauer Vogts Hänger zu laden und denselben zu besteigen, befestigte Wilhelm die Seilwinde am Traktor und nahm noch einen batteriebetriebenen Scheinwerfer mit. Der Rückweg zu Reinhards Haus war holprig, dafür erfreulich schnell zurückgelegt.
Wilhelm besah sich den Krater, beleuchtete mit seinem Strahler das ganze Ausmaß des Schlamassels und pfiff mehrmals, während er leicht in die Knie ging, um einen sicheren Stand zu wahren.
„Dat kannse vergessen. Den kriegen wa da nich raus.“
„Wieso?“ Reinhard sah in den Krater, dann zu Wilhelm.
„Wer soll denn da runter und den Haken da dran machen, ihr Tränen?“ Vogt blickte in die Runde, die blickte zurück, dann einander an. Schulterzucken, Blicke, gespitzte Lippen.
„Da muss de Feuerwehr her“, stellte Wilhelm fest. „Da mach ich nix mit meim Trecker. Lass ma Keller sehn.“
„Pass auf de Blümkes auf!“, riet Pietsch und winkte ab, als Wilhelm ihm einen fragenden Blick zuwarf.
Die Stützen waren schnell angebracht, weil Vogt die Anderen zu Handlangern degradierte. Sie wirkten jedoch wenig vertrauenerweckend in dem ausladend großen Loch der weiß verputzten Hauswand.
„Weiß nich, ob dat hält. Weiß ja nich, ob da drunter hohl is. Ruf de Feuerwehr, Reinhard!“
Luigi übernahm den Notruf samt Adressangabe und Beschreibung der Situation. Den Teil mit der Schule sparte er sich zu Reinhards Erleichterung. Es dauerte nur Minuten, bis das erste Blaulicht in die Straße einbog. Nachdem der Wagen gehalten hatte, entstieg ihm ein Mann, der sich die schwere Jacke anlegte, aber darauf verzichtete, den Helm aufzusetzen.
„Walter!“, grüßte Günther donnernd. „Dat du ma als Erster annet Geschehn bis!“
„Is ja umme Ecke.“ Walter Nowak legte den Helm auf den Fahrersitz, knöpfte seine Uniform zu, nickte in die Runde und kam mit seiner Taschenlampe in der linken Hand näher.
„Tach zusammen. Wie isset? Wat gibbet?“
„Muss“, sagte Pietsch, „dem Reinhard seine Karre is da drin.“ Er zeigte auf den Krater.
„Ach du Sch...“ Walter leuchtete den Rand des Kraters ab, dann weiter zum Haus, das Loch in der Wand entlang, dann wieder zum Krater hin und schließlich zu Reinhard.
„Is da noch wer im Haus?“
„Nee!“, winkte Reinhard ab, „die Hildi is ja nache Omma hin.“
„Dann tu ma lieber schnell paar Sachen holen. Wenn de Kollegens kommen, tun die dir de Bude dicht machen.“
„Meinse?“
„Aber hallo! Die sind nich vonne Freiwillige wie ich, die kennen da nix.“
„Ja, jut.“
„Willi, wat machste mit dein Trecker hier?“, wollte Walter wissen.
„Frach nich!“ Willi schüttelte den Kopf.
Reinhard lief über das Blumenbeet, Pietsch hinterher, weil er sicher war, zwei Männer würden zusammen mehr Sinnvolles unter ‚Sachen‘ verstehen, die mitzunehmen waren, als nur einer. Sie erörterten gerade die Notwendigkeit einer zusätzlichen Jacke, als sie Walters Stimme von unten hörten.
„Reinhard! Mach hin! De Kollegens rücken an!“
Sie stiegen die Treppe runter, Luigi erhielt den Koffer, nickte und verschwand in Richtung Kiosk.
Der Einsatzleiter ließ sich von Walter die Lage schildern, bevor er die Regie übernahm. Er beschloss kurzerhand, dass beide Häuser nicht mehr zu betreten seien und die Bezirksregierung am Morgen verständigt werden müsse, um Schäden und Verursacher zu bestimmen.
Reinhard, Pietsch und Günther wurde unmissverständlich klargemacht, dass sie hier nichts mehr zu tun hätten und sich besser eine Bleibe für die Nacht suchen sollten. Luigis Kiosk schien ihnen die beste Wahl, also räumten sie vorerst das Feld, nachdem Walter versprochen hatte, sie auf dem Laufenden zu halten, falls hier noch Nennenswertes vor sich ginge.
Im Kiosk spendierte Luigi eine Runde Korn für alle, auf den Schreck und um sich erst mal aufzuwärmen.
„Ihr beiden könnt bei mir schlafen. Ich hab ein Gästebett und auf der Couch im Wohnzimmer hat auch einer Platz.“
Pietsch und Reinhard nickten und prosteten Luigi zu.
„Wo bisse eigentlich geboren, Luigi?“, wollte Günther zwischen zwei Schlucken wissen.
„Grevenbroich“, war dessen Antwort.
Günther setzte die Flasche ab und schüttelte den Kopf.
„Und wo is dein Vatter her?“
„Auch aus Grevenbroich.“
„Nee, ich mein so original. Luigi is doch nich deutsch.“
„Stimmt.“ Luigi nickte. „Meine Oma kommt aus Afghanistan. Die war ne ganz große Nummer bei den Taliban.“
„Erzähl kein Scheiß.“
„Dann frag keinen Scheiß.“
„Wird man doch noch fragen dürfen.“
„Hast du deine Kumpel auch gefragt, wo die her sind?“
Luigi stellte den Korn ins Regal zurück und wischte mit dem Spültuch über den Tresen.
„Nee, dat waan de Kumpels, sowat gibbet heut nich mehr.“
„Der Luigi is auch en Kumpel - mit Gästebett und Couch“, wandte Reinhard ein.
„Dat kannse nicht vergleichen. Nix für ungut, Luigi, aber sowat wie de Kumpels, dat findste heut nich mehr.“
„Schicht im Schacht.“ Pietsch nickte und hob seine Flasche an.
„Ende Gelände.“ Günther hielt seine Flasche in die Mitte. Es wurde angestoßen, ausgetrunken und vier Flaschen fanden ihren Weg in den Kasten mit Leergut.
„Für dem Reinhard seine Einfahrt hat et aber noch gelangt“, feixte Pietsch.
Reinhard verdrehte die Augen und winkte ab.
„Warts ab Reinhard, dat wird schon. Morgen fährste ersma mit mein Auto inne Schule und dann kommt de Bezirksregierung und dann sehnwa weiter.“ Günther klopfte Reinhard auf die Schulter.
„So machen wa dat“, stimmte Pietsch zu.
Günther zog sich seine Jacke an, schloss den Reißverschluss und stellte den Kragen auf.
„Wünsch euch wat.“
„Hau rein.“
Luigi schloss die Tür ab und schaltete die Lichterkette im Schaufenster ein.
Pietsch seufzte und löschte das Licht im Verkaufsraum.
„Genau, ab na Bett.“ Reinhard folgte den beiden durch den Plastikvorhang und trug seinen halbvollen Koffer die Treppe rauf.