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Pounding
Sie kehrte zu ihm zurück. Warum wußte sie selbst nicht genau. Ein Nebensatz in einer seiner letzten Mails, der letzte dünne Faden den sie sich erhalten hatten, und plötzlich löste sich etwas in ihrer Seele. Die Mauer aus Angst, Erwartungsdruck und Sprachlosigkeit hinter die sie ihn verbannt hatte, begann zu zerbröckeln.
Sie setzte sich hinter das Steuer des Busses der ihr Zuhause war und fuhr los. Ließ das Meer hinter sich, dessen Gesänge, überquerte Gebirge, passierte Städte, Dörfer, Grenzen und Wälder.
Wenn Zweifel und Müdigkeit sie überkamen, hielt sie an und legte eines seiner Tapes ein. Kleine Testamente ihrer Zweisam- oder seiner Einsamkeit, die er ihr jedesmal mitgegeben hatte, wenn sie zu einer ihrer zahllosen Reisen aufgebrochen war. Nach und nach hatte sie verstanden, wie sehr jedes einzelne Lied eine Nuance seiner Seele widerspiegelte und wie untrennbar es verbunden war mit seinem Denken, Fühlen und Handeln. Sie liebte seine Musik und als sie ihm das endlich sagte, war es eines der schönsten Komplimente die er je bekam.
Die letzte Grenze lag hinter ihr und nach einigen Stunden fuhr sie an Marburg vorbei. Von weitem erkannte sie die Umrisse des Schlosses und sie erinnerte sich an eines der wenigen Male die sie ihn in all den Jahren von unterwegs einmal angerufen hatte. Er hatte sich sofort in einen Zug gesetzt, sie holte ihn von dem kleinen Bahnhof ab und gemeinsam spazierten sie durch das mittelalterliche Städtchen, die engen, verwinkelten Gassen hinauf zum Schlossberg. Es war Herbst, es nieselte und sie waren die einzigen auf dem Gelände. Er setzte sich auf die Brüstung und schaute abwechselnd auf die unter ihm liegende Stadt und auf sie. Sie beobachtete ihn genau, ihn gut genug kennend um zu sehen, daß er glücklich war; bereit sich ein letztes Mal fallen zu lassen. Sie ging zu ihm hin und sie umarmten sich und wie immer löste er sich von ihr, weil er Angst hatte, sie könnte es als erste tun.
"Täte es denn so weh, wenn ich ginge?", fragte sie.
Er hatte sehr lange geschwiegen und war wieder zu Brüstung gegangen und sie wanderte seinem Blick hinterher, fand aber keinen Halt mehr in seinen Augen. Der strahlende Glanz von eben, der Glanz der ihr von der Schönheit der Welt erzählt hatte, war aus ihnen verschwunden. War stummes Erinnern geworden und mit ihm entfernte sie sich immer mehr und mehr von dem was sie sah. Die Berge, der Himmel, die Lichter der Stadt verschwammen zu seelenlosen Konturen. Machten sie zu einer ausgestoßenen Fremden die versuchte zu fliehen in die Weite des Horizonts aber sich mit seinen Augen verlor in der Leere dahinter und eine tiefe Traurigkeit überkam sie, eine plötzliche Ahnung ihres Gegenübers, und sie hatte begonnen zu weinen.
Nun lächelte sie, freute sich darauf ihn wiederzusehen, freute sich darauf ihm sagen zu können, daß sie nun bleiben werde, daß er endlich aufhören könne ihre Frage zu beantworten.
Sie fuhr schneller.
Daß er im Krankenhaus lag, erfuhr sie von einem Bekannten. Sie pflückte einen Strauß Blumen und ging ihn besuchen. Als sie ihn sah, erschrak sie. Blass und dünn war er geworden, sein Gesicht war eingefallen und hätten nicht ab und zu seine Lippen gezuckt, hätte sie ihn für tot gehalten. Froh, daß er schlief, stellte sie die Blumen in eine Vase, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und ging.
Am nächsten Tag kam sie wieder. Er saß auf dem Balkon an einem Tisch, vor sich die Vase, und rauchte. Als er sie bemerkte stand er auf, machte ein paar Schritte auf sie zu, blieb dann aber abrupt, als habe er etwas sehr wichtiges vergessen, stehen, musterte sie mit einem Blick in dem sie einen Anflug von Hass zu erkennen glaubte und setzte sich schließlich wieder hin. Sie folgte ihm.
"Willst du mich nicht umarmen?", sie setzte sich neben ihn.
"Wenn ich dich jetzt umarme, dann werde ich mich wieder verlieren, weil ich weiß, daß ich dich wieder verlieren werde, egal was du gleich sagen wirst, warum du wieder hier bist. Ich kenne dich! Du bist hier weil du kurzfristig ein Zuhause brauchst. Ein Zuhause dessen Mauern dich abschirmen gegen die Schreie deiner Einsamkeit deren Echo du nirgends hast abschütteln können weil auch du zu den Verdammten gehörst die immer eine Frage zu viel stellen und immer eine zu wenig beantworten und jeden damit wahnsinnig machst der versucht dich zu lieben. Du leihst Worten deine Schönheit, bis du sicher bist, daß sie untrennbar mit dir verbunden bleiben um dann zu verschwinden weil du Angst hast ihren Inhalt zu leben, weil du der Meinung bist im Alltag verlören sie ihren Glanz und damit auch du. Diesen Gedanken erträgst du nicht, du willst Ausnahmezustand bleiben für dich und die anderen. Und darum bereist du Menschen wie Landschaften, hast im Reisen die billigste Form gewählt ein Ziel zu haben und zu erreichen, schwärmst in einem Ort schon wieder vom nächsten wenn du glaubst sein Geheimnis zu kennen, planst still deine Flucht während du nach außen hin angeblich nur noch ein geeignetes Grundstück suchst um dich niederzulassen..."
"Scheißkerl!", unterbrach sie ihn, "Kann es sein, daß du es bist, der sich nur um sich selbst dreht, mich mal fluchend, mal vergötternd zur Welt erhebt in seiner beschissen nebulösen Heilserwartung und ich es dann auszubaden habe, wenn du am banalen, am echten Leben wieder verzweifelst. Du würdest es doch glatt fertig bringen an einem gedeckten Tisch zu verhungern, nur weil du dir in den Kopf gesetzt hast, ich müsse unbedingt dabei sein damit es dir schmeckt. Du hast mir schließlich beigebracht, daß jeder Mensch alleine ist und jetzt verurteilst du mich dafür, daß ich immer versucht habe damit auch alleine fertig zu werden. Versucht habe zu vermeiden dich als einzige Möglichkeit zu begreifen diesen Zustand auf Dauer wenn schon nicht aufzuheben, ihn doch wenigstens in seiner kalten Grausamkeit etwas abzufedern. Diese Rolle muß jeden überfordern und ich scheiß auf all die verkrampfende Romantikhörigkeit die ihr zugrunde liegt. Ich..."
Der Stationsarzt war zu ihnen an den Tisch gekommen und räusperte sich entschuldigend: "Senior, ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Ich haben gerade die letzten Laborergebnisse erhalten und so wie es aussieht, können wir hier nichts mehr für Sie tun."
"Was heißt das genau; hier?"
"Das heißt, daß Sie umgehend operiert werden müssen und -ohne meinen Kollegen im Hause zu nahe treten zu wollen- es sich dabei um eine Operation handelt die am besten von den Experten der Universitätskliniken zu bewerkstelligen ist. Aber, und das ist die gute Nachricht, ich habe telefoniert und Sie werden bereits erwartet."
"Ich werde erwartet? Wann?"
"Na jetzt. Hier haben Sie einen Transportschein und Ihre Krankenakte. Ich wünsche Ihnen alles Gute."
Schweigend sahen sie dem Arzt nach.
"Nimmst du mich mit?"
"Mit," die Frage traf sie unvermittelt, "mit wohin? Mit in die Unikliniken?"
"Nein", entgegnete er, "mit zu mir."
Sie guckte ihn erstaunt an. Die Härte in seinem Gesicht war einem hilflosen Lächeln gewichen das sie tiefer rührte als ihr lieb war. Denn im Grunde hatte sie resigniert. Die Unvereinbarkeit ihrer beiden Welten war binnen Minuten wieder zu Tage getreten und obwohl es nach Jahren ihre erste Begegnung war, hatte jeder Satz, jedes Wort die Kluft zwischen ihnen nur noch vergrößert. Hilflos wie er, nahm sie ihn in den Arm und da spürte sie sie wieder. Vertrautheit jenseits von Sprache. Vertrautheit die größer war als alles andere und Kern der Sehnsucht die sie wieder zu ihm geführt hatte. Das erlösende Moment zwischen ihnen, daß sie jedes mal wieder zusammengebracht hatte und letztlich trotz all ihrer gegenseitigen Bemühungen doch immer nur das geblieben war. Vertrautheit ohne Vertrauen. Grandioser Sex ohne Fortpflanzung.
"Okay", sagte sie, "gehen wir."
Gemeinsam verließen sie das Krankenhaus und gingen in Richtung Parkplatz.
"Das ist ja immer noch der gute, alte Ocap!", stellte er nicht ohne Bewunderung fest, als er ihren Wagen sah, "Du kannst ja doch treu sein."
"Idiot!", sagte sie lachend und stieß ihm den Ellenbogen in die Seite und bereute es sofort, denn er schrie laut auf und sackte zu Boden.
"Ficken, ich hab deine Wunde getroffen?!"
"Stimmt genau", grinste er, "aber wenn ich da jetzt wieder näher drauf eingehe, läßt du mich auf jeden Fall hier liegen. Also hilf mir gefälligst hoch!"
Sie half ihm wieder auf die Beine, und als er so halb vorwurfsvoll, halb grinsend vor ihr stand, bekam sie Lust ihn zu küssen.
"Komm", sagte sie, "Ocap wartet."
Während der Fahrt sprachen sie kaum miteinander, scheinbar jeder in Gedanken versunken, doch tatsächlich musterten sie sich immer wieder gegenseitig und mußten jedesmal verlegen lächeln, wenn sie sich dabei ertappten. Aber der eingetretene Stimmungsumschwung war ihr nicht ganz geheuer. Zu oft hatte sie erlebt, wie sein Gehirn aus einer Vergangenheit heraus die nicht die ihre war, plötzlich anfing die Gegenwart zu schlachten. Grade jene Momente in denen sie sich hatte fallen lassen können und aus deren Zauber sich für sie die nächsten Schritte entwickelten. Schritte, die genau die Zukunft waren die auch er sich wünschte und doch durch sein fast manisches Bedürfnis das Jetzt nach möglichen Fehlerquellen zu durchleuchten im Keim erstickte. Sie drehte das Radio an und versuchte sich auf den Verkehr zu konzentrieren.
"Willst du denn überhaupt nicht wissen, warum ich eigentlich zurückgekommen bin?" Sie standen auf dem Bordstein gegenüber seiner Wohnung.
"Doch!?", entgegnete er verblüfft, während sie eine abgewetzte Collegetasche -gleichzeitig Kleiderschrank, Büro und Bibliothek- aus dem Bus holte.
"Bitte schön", sagte sie heiser und streckte ihm die Autoschlüssel entgegen. Er begriff nicht sofort, dann aber begannen seine Augen zu schimmern und einen langgezogenen Urschrei ausstoßend, riss er den Bund an sich, rannte, alles Umherstehende mit lautem Gebrüll umtretend, die Straße runter und schleuderte schließlich die Schlüssel mit voller Wucht gegen eine klirrend zersplitternde Fensterscheibe. Sie holte den Reserveschlüssel aus ihrer Hosentasche und warf ihn in den Gully.
Nachmittagsonne flutet das karge, große Zimmer mit Licht. Warmes Schweben zwischen Decke und Parkett, geheimes Gedicht des Lebens als leuchtende Verse auf weißnackter Wand. Wind bringt den Duft einer Küste. Stundenlang mal verzweifeltes Ficken, mal sanfte Berührung zweier Körper als stumme Erzählung wie sehr man sich mag; dann die Entfesslung. Kurze Versöhnung mit sich in der Welt.
„Schön“, sagt sie.
„Auch schöne Sauerei.“Sie lächelt zufrieden und betrachtet das jodverschmierte Laken. Orangebraune Flecken neben dem Rot ihrer Tage und milchigem Sperma. Vereinzelte Tropfen dunkleres Blut; die Kanüle hat sich aus seiner Vene gelöst.
Sie küßt die einrasierten Kreise auf seiner Brust; Reste eines Not-EKGs, nun salzige Seen. Gemeinsam stehen sie auf, bepinkeln die Zimmerpalme und legen sich wieder hin. Erleichtert, erschöpft schlafen sie ein; zwei glückliche Kinder, die Fee aus dem Albtaum ist vorerst besiegt. Seit Jahren für beide wieder auch das Gefühl von Zuhause; generell ein seltener Raum. Sie flüstert noch Danke und er weiß was sie meint.
„Hast du Angst?“, fragt sie.
Er steht angezogen vor ihr am Bett, neben sich die gepackte Tasche, und raucht. Leises Nicken ersetzt ein lautes Ja. Aber das allein ist es nicht; sie kennt diesen Ausdruck in seinem Gesicht. Die Worte die ihm meist folgen haben eine Macht über sie die sie fürchtet. Diesmal bleibt es Befürchtung; er schaut auf die Uhr.
„Allzulange werd‘ ich die weißen Götter wohl nicht mehr warten lassen können; kommst du noch mit?“
„Gerne.“, sagt sie herzlich, „Fahren wir Taxi?“
Er nickt, gibt ihr einen dankbaren Kuss und geht in die Küche.
Kaffeeduft zieht in das Zimmer; Zeichen, daß er ihr noch Zeit gibt und sie genießt eine Weile die Stille, versucht zu verstehen was gerade passiert ist mit ihnen.
Einsetzen lauter Musik beendet den Anfang eines ersten klaren Gedankens. Sie geht in die Küche und sieht nach.
Er steht auf dem Tisch, den Blick starr aus dem Fenster, nimmt sie nicht wahr. Sie merkt, sie ist Zeugin eines Rituals des Abschieds dessen intime Heiligkeit ihre Anwesenheit nur verletzt und so geht sie vor auf die Strasse.
Er bleibt stehen auf dem Tisch, versetzt in Trance durch den Rhythmus des Liedes; ein General auf dem Hügel, Beobachter einer in ihm tobenden Schlacht, spürt somit jede Verwundung, jeder Tote ist auch eigener, Untergang ist Sieg, Sieg Untergang. Plötzlich wird ihm schwarz vor Augen und er fällt.
Autos rauschen in Wellen an ihr vorbei, verschwinden hinter dem Gefälle der Strasse, dahinter die Weite des strahlenden Himmels.
Er spürt keinen Schmerz als er die dolchgleiche Scherbe aus seiner Leber zieht; wundert sich nur über den Mangel an Blut. Statt dessen quillt etwas anderes, karamellfarben, aus der Stelle des Stichs; geruchloser Eiter. Tropfen für Tropfen stumm angesammelter Hass und Verzweiflung die die Enge seines Körpers verlassen; die Lache um ihn breitet sich aus. Nur mühsam gelingt es ihm vorwärts zu kriechen; die betäubende Wirkung des Schocks läßt nach.
Ein Caravan nähert sich auf ihrer Seite. Unwillkürlich hebt sie den Daumen; ein paar Meter weiter fährt der Wagen rechts ran.