Problemlösung
Kalt, ihr war einfach nur kalt. Seit nunmehr zwei Stunden saß sie auf dem Fußboden in ihrer Wohnung, die Arme um die Beine geschlungen und hörte Musik. Sie hatte die Klingel und das Telefon abgestellt, die Vorhänge zugezogen. Die Dunkelheit umschloss sie und gab ihr das Gefühl von Geborgenheit. Sie wollte niemanden sehen, mit niemandem reden, wollte einfach nur allein sein, wollte nachdenken, sich ihrer Stimmung hingeben.
Stimmung? War es denn eine Stimmung? Ihr Leben schien ihr zu entgleiten. Immer öfter gab es solche einsamen Abende. Nicht, dass da niemand wäre, mit dem sie hätte etwas unternehmen können, schließlich wohnte sie in einer Großstadt und sie hatte viele Freunde, vielmehr Bekannte. Nein, sie wollte allein sein, sich zurück ziehen. Zu viele Enttäuschungen hatten Wunden in ihre Seele gerissen, zu wenige Menschen, denen sie vertrauen konnte, vertrauen wollte.
Vielleicht, so dachte sie, liegt das ja wirklich alles an mir? Ich bin zu empfindlich, zu emotional, damit kann keiner umgehen. Sie spürte, wie sich der Schmerz in ihrem Brustkorb ausbreitete, eine beklemmendes Gefühl, eine Art Druck.
Es war ihr schon am Morgen beim Aufstehen klar gewesen, wie dieser Tag enden würde. Eine Art Traurigkeit hatte sie gefangen genommen, die sich im Laufe des Tages nur noch gesteigert hatte für die es eigentlich keinen Anlaß gab.
Wie leicht es doch war, den Menschen die wahren Gefühle zu verheimlichen. Sie hatte gelacht, mit den Kollegen gescherzt, ja sogar geflirtet. Niemand konnte oder wollte die Trauer in ihren Augen sehen.
Manchmal hatte sie versucht, sich einer Freundin anzuvertrauen und hatte doch immer nur altbekannte Floskeln gehört. Nein, nicht einmal Freunde wollten verstehen, was in ihr vorging. Vielleicht hatten sie Angst davor, Angst vor der Tiefe ihrer Gefühle, Angst davor, zu sehen, wie nah sie am Abgrund stand. Immer suchte sie Entschuldigungen für die anderen.
Sicher, sie könnte professionelle Hilfe suchen. Und dann? Dann würde man versuchen, ihr zu erklären, wie die Welt funktioniert, würde versuchen, sie dazu zu bringen, ihre Einstellung zu sich und dem Leben zu ändern. Würde notfalls Pillen verabreichen, sodass sie wieder funktionierte, man würde sie einfach reparieren. Das machte man heute so. Sie wusste es und sie wollte es nicht, wollte bleiben wie sie war, wollte bleiben, wer sie war, wollte ihr Leben leben mit allen Tiefen. Doch der Schmerz war zu überwältigend, zerstörte alles um sie herum.
Sie stand auf und ging ins Bad, machte das Licht an und sofort wieder aus. Das Licht tat ihr weh. Weshalb war alles so wie es war? Warum tat ihr das Leben so weh? Sie war müde, wollte einfach nur schlafen, wollte ihre Ruhe. Die Menschen, sie waren so anstrengend, zu anstrengend für sie.
Schnell trank sie noch einen Schluck kaltes Wasser direkt aus dem Wasserhahn und spürte, wie das kühle Nass ihre Kehle hinunter rann. Das war Leben, zu spüren, zu empfinden, jeden Moment auszukosten und sei es nur ein Schluck einfaches Wasser. Warum sahen zu viele das so anders, warum konnten zu viele zu wenig empfinden? Nahmen sie deshalb so wenig Rücksicht?
Jemand hatte mal zu ihr gesagt, sie würde zu viel nachdenken. Tat sie das? Mochte so sein, aber sie hatte das Gefühl, sie würde über die wichtigen Dinge nachdenken, wohingegen andere eindeutig zu viel über unwichtige Dinge oder gar nicht nachdachten.
Etwas zog sie zum Schreibtisch. Sie konnte nicht anders, sie würde es wieder tun.
Schon als Kind hatte sie, wenn sie Probleme hatte, wenn ihr, wie sie es nannte, die Seele weh tat, sich selber Schmerzen zugefügt. Meist hatte sie den Hinterkopf gegen die Wand geschlagen. Immer und immer wieder, bis der körperliche Schmerz den seelischen übertraf. Dann fühlte sie sich besser. Nie hatte sie so fest zugeschlagen, dass sie sich ernsthaft verletzt hatte und meist war niemandem etwas aufgefallen.
Einmal hatte sie sich nach einem Streit mit ihrer Mutter mit Absicht in den Finger geschnitten. Ihre Mutter hatte das mitbekommen und ihr gesagt, wie bescheuert sie doch sei, so etwas zu tun.
Ja, das war die Meinung vieler. Wie konnte man sich nur selber verletzen, das war doch krank, ganz eindeutig.
Immer wenn sie Leute darüber anfingen zu diskutieren, hielt sie sich zurück, sagte gar nichts mehr. Was wussten die denn schon? Was wussten sie über die Schmerzen, was wussten sie darüber, wie gut es tat, wenn dieser unerklärliche Schmerz zu einem sichtbaren, greifbaren, körperlichem Schmerz wurde. Was wussten sie schon davon, wie gut es tat, wenn die Schmerzen endlich einen Grund, eine Ursache hatten? Wie konnten sie es wagen, sich ein Urteil darüber zu erlauben? Sie wussten rein gar nichts!
Später hatte sie sich dann mit einer Rasierklinge geritzt. Später, das war mit 16 oder so. Einige Jahre lang hatte sie das dann nicht mehr gemacht, was sicher daran lag, dass ihr Freund sie davon abhielt. Sie war wieder zu der „unsichtbaren“ Methode übergegangen, die sich schon in ihrer Kindheit bewährt hatte.
Jetzt, wo sie wieder allein war, nahm sie ein Messer. Sie hatte die Technik perfektioniert. Schnitt sich an Stellen, die nicht jeder sehen konnte, die sie unter Kleidung verbergen konnte. Sie wollte nicht ständig irgendwelche Erklärungen abgeben müssen, lügen müssen, sich eventuelle Vorwürfe anhören müssen. Und sie wollte nicht, dass ihre Familie sich Sorgen um sie machte. Sie würden ihr eh nicht helfen können. Nur sie selber konnte sich helfen, das wusste sie. Aber sie konnte noch nicht damit aufhören, es ging nicht, sie war noch nicht bereit. Zur Zeit war das die einzige Möglichkeit, so schien es ihr, zu überleben, alles zu ertragen.
Wo war das neue Cuttermesser? Eine Weile suchte sie und dann nahm sie doch das alte. Die Wunde würde sich sicher entzünden, denn das Messer war nicht sauber genug. Es war ihr egal. Sie hielt es nicht mehr aus, sie musste es tun. Jetzt sofort.
Die Beklemmung wurde immer stärker. Sie setzte das Messer an, direkt an der Stelle, wo bereits eine dünne Narbe ihren Arm zeichnete. Der erste Schnitt war nicht stark genug. Es war mehr ein leichtes Ritzen, denn ein Schneiden. Ein zweites Mal nahm sie das Messer, setzte an, drückte auf und machte einen schnellen, tiefen Schnitt.
Der Schmerz tat so gut, zu sehen, wie das Blut sich sammelte und in Tropfen den Arm hinunter rann. Sie wurde ganz ruhig und in sich spürte sie eine Art Befriedigung, das Gefühl der Beklemmung war völlig weg. Es ging ihr gut. Jetzt ging es ihr gut.