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Problemlösung

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04.02.2003
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Problemlösung

Kalt, ihr war einfach nur kalt. Seit nunmehr zwei Stunden saß sie auf dem Fußboden in ihrer Wohnung, die Arme um die Beine geschlungen und hörte Musik. Sie hatte die Klingel und das Telefon abgestellt, die Vorhänge zugezogen. Die Dunkelheit umschloss sie und gab ihr das Gefühl von Geborgenheit. Sie wollte niemanden sehen, mit niemandem reden, wollte einfach nur allein sein, wollte nachdenken, sich ihrer Stimmung hingeben.

Stimmung? War es denn eine Stimmung? Ihr Leben schien ihr zu entgleiten. Immer öfter gab es solche einsamen Abende. Nicht, dass da niemand wäre, mit dem sie hätte etwas unternehmen können, schließlich wohnte sie in einer Großstadt und sie hatte viele Freunde, vielmehr Bekannte. Nein, sie wollte allein sein, sich zurück ziehen. Zu viele Enttäuschungen hatten Wunden in ihre Seele gerissen, zu wenige Menschen, denen sie vertrauen konnte, vertrauen wollte.
Vielleicht, so dachte sie, liegt das ja wirklich alles an mir? Ich bin zu empfindlich, zu emotional, damit kann keiner umgehen. Sie spürte, wie sich der Schmerz in ihrem Brustkorb ausbreitete, eine beklemmendes Gefühl, eine Art Druck.

Es war ihr schon am Morgen beim Aufstehen klar gewesen, wie dieser Tag enden würde. Eine Art Traurigkeit hatte sie gefangen genommen, die sich im Laufe des Tages nur noch gesteigert hatte für die es eigentlich keinen Anlaß gab.
Wie leicht es doch war, den Menschen die wahren Gefühle zu verheimlichen. Sie hatte gelacht, mit den Kollegen gescherzt, ja sogar geflirtet. Niemand konnte oder wollte die Trauer in ihren Augen sehen.

Manchmal hatte sie versucht, sich einer Freundin anzuvertrauen und hatte doch immer nur altbekannte Floskeln gehört. Nein, nicht einmal Freunde wollten verstehen, was in ihr vorging. Vielleicht hatten sie Angst davor, Angst vor der Tiefe ihrer Gefühle, Angst davor, zu sehen, wie nah sie am Abgrund stand. Immer suchte sie Entschuldigungen für die anderen.

Sicher, sie könnte professionelle Hilfe suchen. Und dann? Dann würde man versuchen, ihr zu erklären, wie die Welt funktioniert, würde versuchen, sie dazu zu bringen, ihre Einstellung zu sich und dem Leben zu ändern. Würde notfalls Pillen verabreichen, sodass sie wieder funktionierte, man würde sie einfach reparieren. Das machte man heute so. Sie wusste es und sie wollte es nicht, wollte bleiben wie sie war, wollte bleiben, wer sie war, wollte ihr Leben leben mit allen Tiefen. Doch der Schmerz war zu überwältigend, zerstörte alles um sie herum.

Sie stand auf und ging ins Bad, machte das Licht an und sofort wieder aus. Das Licht tat ihr weh. Weshalb war alles so wie es war? Warum tat ihr das Leben so weh? Sie war müde, wollte einfach nur schlafen, wollte ihre Ruhe. Die Menschen, sie waren so anstrengend, zu anstrengend für sie.
Schnell trank sie noch einen Schluck kaltes Wasser direkt aus dem Wasserhahn und spürte, wie das kühle Nass ihre Kehle hinunter rann. Das war Leben, zu spüren, zu empfinden, jeden Moment auszukosten und sei es nur ein Schluck einfaches Wasser. Warum sahen zu viele das so anders, warum konnten zu viele zu wenig empfinden? Nahmen sie deshalb so wenig Rücksicht?
Jemand hatte mal zu ihr gesagt, sie würde zu viel nachdenken. Tat sie das? Mochte so sein, aber sie hatte das Gefühl, sie würde über die wichtigen Dinge nachdenken, wohingegen andere eindeutig zu viel über unwichtige Dinge oder gar nicht nachdachten.

Etwas zog sie zum Schreibtisch. Sie konnte nicht anders, sie würde es wieder tun.

Schon als Kind hatte sie, wenn sie Probleme hatte, wenn ihr, wie sie es nannte, die Seele weh tat, sich selber Schmerzen zugefügt. Meist hatte sie den Hinterkopf gegen die Wand geschlagen. Immer und immer wieder, bis der körperliche Schmerz den seelischen übertraf. Dann fühlte sie sich besser. Nie hatte sie so fest zugeschlagen, dass sie sich ernsthaft verletzt hatte und meist war niemandem etwas aufgefallen.

Einmal hatte sie sich nach einem Streit mit ihrer Mutter mit Absicht in den Finger geschnitten. Ihre Mutter hatte das mitbekommen und ihr gesagt, wie bescheuert sie doch sei, so etwas zu tun.
Ja, das war die Meinung vieler. Wie konnte man sich nur selber verletzen, das war doch krank, ganz eindeutig.
Immer wenn sie Leute darüber anfingen zu diskutieren, hielt sie sich zurück, sagte gar nichts mehr. Was wussten die denn schon? Was wussten sie über die Schmerzen, was wussten sie darüber, wie gut es tat, wenn dieser unerklärliche Schmerz zu einem sichtbaren, greifbaren, körperlichem Schmerz wurde. Was wussten sie schon davon, wie gut es tat, wenn die Schmerzen endlich einen Grund, eine Ursache hatten? Wie konnten sie es wagen, sich ein Urteil darüber zu erlauben? Sie wussten rein gar nichts!

Später hatte sie sich dann mit einer Rasierklinge geritzt. Später, das war mit 16 oder so. Einige Jahre lang hatte sie das dann nicht mehr gemacht, was sicher daran lag, dass ihr Freund sie davon abhielt. Sie war wieder zu der „unsichtbaren“ Methode übergegangen, die sich schon in ihrer Kindheit bewährt hatte.

Jetzt, wo sie wieder allein war, nahm sie ein Messer. Sie hatte die Technik perfektioniert. Schnitt sich an Stellen, die nicht jeder sehen konnte, die sie unter Kleidung verbergen konnte. Sie wollte nicht ständig irgendwelche Erklärungen abgeben müssen, lügen müssen, sich eventuelle Vorwürfe anhören müssen. Und sie wollte nicht, dass ihre Familie sich Sorgen um sie machte. Sie würden ihr eh nicht helfen können. Nur sie selber konnte sich helfen, das wusste sie. Aber sie konnte noch nicht damit aufhören, es ging nicht, sie war noch nicht bereit. Zur Zeit war das die einzige Möglichkeit, so schien es ihr, zu überleben, alles zu ertragen.

Wo war das neue Cuttermesser? Eine Weile suchte sie und dann nahm sie doch das alte. Die Wunde würde sich sicher entzünden, denn das Messer war nicht sauber genug. Es war ihr egal. Sie hielt es nicht mehr aus, sie musste es tun. Jetzt sofort.
Die Beklemmung wurde immer stärker. Sie setzte das Messer an, direkt an der Stelle, wo bereits eine dünne Narbe ihren Arm zeichnete. Der erste Schnitt war nicht stark genug. Es war mehr ein leichtes Ritzen, denn ein Schneiden. Ein zweites Mal nahm sie das Messer, setzte an, drückte auf und machte einen schnellen, tiefen Schnitt.
Der Schmerz tat so gut, zu sehen, wie das Blut sich sammelte und in Tropfen den Arm hinunter rann. Sie wurde ganz ruhig und in sich spürte sie eine Art Befriedigung, das Gefühl der Beklemmung war völlig weg. Es ging ihr gut. Jetzt ging es ihr gut.

 

Liebe magd!

Der erste Teil, wo Du die Protagonistin von innen her beschreibst, gefällt mir sehr gut, es wirkt alles sehr echt, besonders Sätze wie "Ich bin zu empfindlich, zu emotional, damit kann keiner umgehen" lassen die Geschichte sehr authentisch wirken.
Ab dem Satz mit dem Schreibtisch gefällt mir weniger, daß praktisch nur mehr vom Ritzen die Rede ist, wie und womit es anfing, wie das Messer gesucht wird, usw., es eigentlich nur mehr darum geht. Mir ist schon klar, daß das eben das Thema der Geschichte ist, aber so könnte sie auch erst bei "Schon als Kind hatte sie, wenn sie Probleme hatte, ..." beginnen, ohne daß das zuvor Erzählte irgendwie fehlen würde. - Womit ich keinesfalls sagen möchte, daß ich irgendetwas streichen würde - eher vielleicht alles ein bisschen miteinander verweben, damit es eine Geschichte ohne Bruch/Themenwechsel in der Mitte wird. Aber das ist natürlich nur ein Vorschlag. ;)

Lesen läßt sich die Geschichte jedenfalls sehr gut, stilistisch gibts also nichts auszusetzen. :)

Ein paar Kleinigkeiten nur:

"schließlich wohnte sie in einer Großstadt und sie hatte viele Freunde, vielmehr Bekannte."
- das zweite "sie" würd ich streichen
- die Wiederholung von viele/vielmehr würd ich vermeiden - meinst Du das "vielmehr" im Sinne von "oder besser gesagt"? - Dann würde ich so eine Formulierung verwenden, oder statt "viele" eine andere Mengenangabe verwenden

"sie wollte allein sein, sich zurück ziehen."
- zurückziehen (zusammen)

"eine beklemmendes Gefühl, eine Art Druck."
- ein (ohne e)

"Warum sahen zu viele das so anders, warum konnten zu viele zu wenig empfinden?"
- zu viele "zu", würde schreiben: Warum sahen so viele das so anders, warum konnten sie nur so wenig empfinden?

"Immer wenn sie Leute darüber anfingen zu diskutieren,"
- Immer, wenn die Leute
- würde das umdrehen: Immer, wenn die Leute anfingen, darüber zu diskutieren

"Später, das war mit 16 oder so."
- schöner ausgeschrieben: sechzehn

"Die Wunde würde sich sicher entzünden, denn das Messer war nicht sauber genug. Es war ihr egal."
- hier hab ich mich gefragt, warum sie es denn nicht einfach mit dem Feuerzeug abbrennt, um es zu sterilisieren, wodurch die Stelle ein bisschen aufgesetzt auf mich wirkt, künstlich Spannung erzeugend (stirbt sie womöglich an Blutvergiftung?) oder so - ich würd sie streichen ;)

Alles Liebe,
Susi :)

 

hallo magd,

wenn du nicht im zusammenhang des alters "sechzehn" das wort "früher" benutzt hättest, hätte ich geglaubt, es handelt sich um eine teenager-geschichte. mir kommt alles etwas unfertig, unreif, konfus, mit vielen ausschlägen nach oben und nach unten vor.

kann ein erwachsener mensch noch so denken? sind da nicht schon viele gesellschaftliche zwänge am werk, die alles "einebnen"? dass ein kind buchstäblich mit dem kopf gegen die wand rennt, ist bekannt. aber ein erwachsener mensch?

also mir scheint alles etwas überzeichnet zu sein - auch wenn deine protagonistin sicher psychisch krank ist.

noch eine kleinigkeit: im ersten abschnitt finde ich einen widerspruch in "sie friert" und der "geborgenheit". geborgenheit ist für mich schon fast ein synonym für WÄRME / Herzenswärme.

sprachlich ist dein text prima gelungen, finde ich.

herzliche grüße
ernst

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo die-Magd,

nachdem ich heute Deine "graue" Geschichte gelesen hatte, bin ich neugierig auf diese hier geworden. Mir geht es ein bisschen wie Häferl, ich seh die Geschichte in zwei Teilen.

Der erste ist für mich absolut nachvollziehbar. Es klingt nach einer Depressions-Phase. Es gibt einen sumerischen Mythos, den ich hier schon mal beschrieb. Es geht um die Göttin des Himmels, Inanna. Sie muss zu ihrer als böse geltenden Schwester Ereshkigal in die Unterwelt, muss alle ihre schönen Sachen wie Schmuck ablegen an den Toren zur Unterwelt. Dort verweilt sie eine Zeit bis sie wieder ans Licht zurückkehren kann. Während dieser Zeit ist sie wie tot, von der "Oberwelt" verschwunden.
Selbst wenn die Leute in ihrer Umgebung versuchen würden, die Protagonistin zu erreichen, es braucht vermutlich die Zeit, dass sie für sich selbst ist und ihren Schmerz annimmt. Niemand und nichts könnte es lindern, es hilft nur zu klagen (wie Ereshkigal es über ihr Schicksal tut, und sie ist gemein zu jedem, der es besser hat als sie. Als zwei Klagegeister ihr nicht vorwerfen, sie würde zu viel jammern, und sich zu ihr gesellen, kann sie ihren Schmerz anerkennen).

<< Jemand hatte mal zu ihr gesagt, sie würde zu viel nachdenken. Tat sie das? Mochte so sein, aber sie hatte das Gefühl, sie würde über die wichtigen Dinge nachdenken, wohingegen andere eindeutig zu viel über unwichtige Dinge oder gar nicht nachdachten.>>

Das kommt mir sehr bekannt vor. Kann man es tatsächlich steuern, dass man NICHT nachdenkt über Sachen, die einem Probleme bereiten?

Der zweite Teil der Geschichte bleibt mir irgendwie verschlossen, weil ich es nicht nachvollziehen kann. Warum verletzen sich Menschen selber? Haben sie ein Schuldgefühl? Wollen sie damit erreichen, dass sich jemand um sie kümmert? Die Bemerkung
<<Ihre Mutter hatte das mitbekommen und ihr gesagt, wie bescheuert sie doch sei, so etwas zu tun. >>

erscheint mir so. Aber die Signale werden falsch verstanden bzw. genauso abgeblockt wie die Äußerung der Bedürfnisse vor der Selbstverletzung.
In dem ersten Teil (ich nenn das jetzt so, mir ist bewusst, dass Du EINE Geschichte geschrieben hast) erscheint mir die Protagonistin in der Lage, ihre Umwelt zu beobachten, festzustellen, dass die anderen recht oberflächlich sind (<<wohingegen andere eindeutig zu viel über unwichtige Dinge oder gar nicht nachdachten.>>). Also ist sie schon ein ganzes Stück voran.
Der zweite Teil erscheint mir so, als hätte sie aber noch keine Erkenntnis gehabt. Aber wie gesagt, ich kann nur schwer nachvollziehen, warum sich jemand selbst verletzt.
Also Fazit, die Protagonistin in der ersten Hälfte erscheint mir wesentlich reifer als die der zweiten, weil sie sich von der Umwelt trennen kann und erkennen kann, dass die anderen durchaus oberflächlich sind oder sich so verhalten, während die "zweite Protagonistin" noch darauf hofft, von der Umwelt Anerkennung, Zuneigung zu kriegen. Die "erste" scheint mir nicht mehr darauf angewiesen. Ich kann sie nicht in Verbindung bringen, was möglicherweise an meinem Unverständnis liegt.

vio

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Ihr lieben Kritiker,

vielen Dank für das Lesen meiner Geschichte und Eure Auseinandersetzung damit.
Ihr habt sicher in vielen Punkten recht und ich werde mich demnächst einmal daran setzen, einiges zu ändern, die beiden "Teile" besser zu verbinden. Inwieweit mir das gelingen wird, weiß ich nicht. Sollte ich womöglich zwei Geschichten daraus machen?

@ Häferl
Danke für die Fehlersuche, ich werde sie bei der Überarbeitung beheben.
Nur bei einem denke ich, dass es kein Fehler war. Schau mal:

"eine beklemmendes Gefühl, eine Art Druck."
- ein (ohne e)
"eine" bezieht sich doch hier auf Art und nicht auf Druck und kann deshalb nicht ein heißen, oder?

@ Ernst
Auf eine Diskussion, ob "erwachsene" Menschen noch so denken können oder nicht, werde ich mich hier nicht einlassen. Meiner Meinung nach können sie es. Für Menschen, denen ein solches Verhalten völlig fremd ist, scheint diese Geschichte natürlich absolut unglaubwürdig zu sein. Das verstehe ich.
Die Stelle mit dem "frieren" und der "Geborgenheit" schau ich mir noch einmal genauer an. Du hast sicher recht - ist ein Gegensatz. Danke.
Dass Dir der Text wenigstens sprachlich, wenn auch nicht inhaltlich gefällt, freut mich.

@Vio
Um Dir ein wenig beim Verständnis zu helfen. Die Verletzungen als Kind sollten sicher ein wenig Aufmerksamkeit wecken. Jetzt ist das jedoch anders, sonst würde sie sich nicht an Stellen verletzen, die niemand sieht.
Mir ist gerade aufgefallen, dass ein entscheidender Satz, der in einem Kopf steht und in den Text gehört, nicht da ist. Er ist natürlich für das Verständnis wichtig, erklärt er doch den (für sie plausiblen) Grund ihrer Selbstverletzung.
Ich bau ihn bei der Überarbeitung ein.
Es geht darum, dass sie den seelischen, ungreifbaren Schmerz in einen realen Schmerz (die Verletzung) umwandeln will. Nichts ist schlimmer als Schmerzen, die man nicht definieren kann, deren Ursache man nicht und die man somit nicht heilen kann. Das macht einen kaputt... Schmerzen, die daraus resultieren, weil sie (die Prot) die Menschen nicht versteht, ihren Handlungen nicht folgen kann und mit ihnen nicht umgehen kann. Hm, das wird vermutlich in der Geschichte wirklich nicht deutlich, oder?

Ja, nochmals vielen Dank für alle Hinweise. Ich werde die Geschichte überarbeiten.

Liebe Grüße
Bea

 

Zitat:
"eine beklemmendes Gefühl, eine Art Druck."
- ein (ohne e)

"eine" bezieht sich doch hier auf Art und nicht auf Druck und kann deshalb nicht ein heißen, oder?
Ich meinte ja das erste "eine": ein beklemmendes Gefühl ;)

Alles Liebe,
Susi :)

 

Frievolle Grüße

Zunächst mal ein Kompliment für diese, wie ich finde, überaus gelungene Geschichte. Du machst begreiflich, warum sich Menschen selber verletzen. Menschen, die an ihrer Umwelt erkranken, fügen sich häufig selber Schaden zu, da sie die Umwelt eben nicht ändern können, ihrem Schmerz darüber aber irgendwie Ausdruck verleihen müssen. Zu den SVVlern werden daher im weiten Sinne auch Alkoholiker, Raucher und andere Drogenabhängige gezählt, sogar Amokläufer, die sich zum Schluß selber richten.

Das die Geschichte aus zwei Teilen besteht, wie Häferl schreibt, sehe ich nicht so. Zum Beginn wird die Situation und Seelenlage der Protagonistin beschrieben, dann beginnt mit dem Schreibtisch-Einwurf die daraus resultierende Handlung. Das Du danach die Kindheit anführst ist ein für mich gut nachvollziehbarer Schritt, der die anschließende Selbstverletzung noch verständlicher macht. Zudem hat SVV leider kein Verfallsdatum, sogar vierzigjährige Hausfrauen greifen zur Klinge, oder weniger drastisch, aber mit verheerenderen Folgen, zum Alkohol.

Auch zwischen dem Frieren und dem sich geborgen Fühlen sehe ich keinen Widerspruch, es macht eher noch die Zerissenheit der Protagonistin deutlich. Auf der einen Seite die oberflächliche Umwelt, auf der anderen Seite die sensible Person, die sich damit nicht abfinden kann. Ich würde das nicht ändern.

Zwei Kritikpunkte muß ich aber noch anmerken. Zum einen verwendest Du im ersten Teil extrem oft das Wort hatte, entweder direkt oder in Abwandlung. Überprüf' das mal, vielleicht fallen Dir noch bessere Formulierungen ein.

Zum zweiten würde eine professionelle Ritzerin wie deine Protagonistin lieber auf das Ritzen verzichten, als "Werkzeug" zu benutzen, das sie mit einem Krankheitserreger infizieren könnte. Die Angst, einem Arzt später die Infektion erklären zu müssen, überwiegt bei den meisten den Wunsch, sich zu ritzen, weshalb sie auf saubere Messer achten.

Deine Geschichte wirkt sehr authentisch, macht die Gefühle Deiner Protagonistin deutlich und verbindet sie gekonnt mit ihren Handlungen.

Kane

 

Hallo Bea,

jetzt habe ich Deine Geschichte noch einmal gelesen, ich glaube, ich versteh jetzt besser, was Du sagen willst. In der ersten Hälfte wird ja ihre seelische Verfassung geschildert und das Unverständnis der Umwelt. Was ich zunächst als Erkenntnis gedeutet habe, die einen Schritt weiter ist, als sich selbst zu verletzen, ist wohl eher "nur" die Schilderung der Situation, des Grundes für die folgende Handlung.

Dass Verletzungen in der Kindheit, die offensichtlich sind, dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit entspringen (können), weiß ich. Das ist die Möglichkeit, dass sich wieder wer um das Kind kümmert, sehr traurig. Zumal die Zuwendung ja nicht an die eigentliche Wunde geht.

Es gibt Menschen, die sich selbst bzw. "den Körper" bestrafen, indem sie sich Schmerz zufügen. Weil sie sich z.B. für "nicht schön genug", "nicht interessant genug" halten. Ich konnte die Motivation Deiner Protagonistin nicht richtig einordnen.

<<Es geht darum, dass sie den seelischen, ungreifbaren Schmerz in einen realen Schmerz (die Verletzung) umwandeln will.>>

Das ist wahrscheinlich das alte Muster, dass dann, wenn man die Verletzung versorgt, auch die innere Verletzung "weg" sein soll. Sie hat es ja in der Kindheit so kennengelernt.

<<Nichts ist schlimmer als Schmerzen, die man nicht definieren kann, deren Ursache man nicht und die man somit nicht heilen kann. Das macht einen kaputt... Schmerzen, die daraus resultieren, weil sie (die Prot) die Menschen nicht versteht, ihren Handlungen nicht folgen kann und mit ihnen nicht umgehen kann. Hm, das wird vermutlich in der Geschichte wirklich nicht deutlich, oder?>>

Doch, wird es schon. Ich versteh ja jetzt etwas besser, was Du meinst. Ich seh das jetzt so, dass sie wieder in eine "Phase" geraten ist, in der ihre Probleme sehr präsent sind. Sie muss wieder nach dem Grund suchen, denkt wieder nach und nimmt die alte "Lösung", weil sie die wirkliche noch nicht erkennen kann (es muss sich ja auch erst durch vieles Nachdenken in ihr entwickeln). Für mich war sie schon so weit nach der ersten Hälfte. Daher hatte ich mich gewundert, warum sie auf einmal zum Schreibtisch geht. Ich kann Dir nicht genau sagen, warum es so ein Bruch für mich gewesen ist. Vielleicht war ich unterschwellig auf ein anderes Ende aus. Und wie schon geschrieben, es gibt hier einige Geschichten über das "Ritzen" und ich hatte die "Motivation" bisher nicht richtig verstanden.

Der Satz:

<<Etwas zog sie zum Schreibtisch. Sie konnte nicht anders, sie würde es wieder tun. >>

Hat mich vermutlich auch verwirrt. Ich finde ihn eigentlich nicht nötig, weil ja die Vorgeschichte zu der Handlung am Schluss durch das klar wird, was Du nach diesem Satz schreibst.

Ich finde, der Freund könnte sehr wichtig sein. Ich habe es jetzt so verstanden, dass sie es nicht tat, als sie mit ihm zusammen war. Er hat sie davon abgehalten, einerseits vielleicht durch seine Zuneigung, andererseits, dass sie gemerkt hat, dass es jemanden kümmert, wenn sie verletzt ist? (dann "brauchte" sie es ja nicht mehr zu tun - soll jetzt nicht kalt klingen. Ich kann mir die seelische Not gut vorstellen.)

<<Eine Weile suchte sie und dann nahm sie doch das alte. Die Wunde würde sich sicher entzünden, denn das Messer war nicht sauber genug. Es war ihr egal. Sie hielt es nicht mehr aus, sie musste es tun. Jetzt sofort.
Die Beklemmung wurde immer stärker. >>

Hier wäre es für mich deutlicher gewesen, wenn noch einmal ihr seelischer Zustand geschildert wäre. Also statt "sie musste es tun" eine Selbst-Schuldzuweisung oder noch einmal das Bedürfnis, den seelischen Schmerz in einen greifbaren umzuwandeln. Es wird schon in der Geschichte deutlich, warum sie es tut, aber der Gedanke direkt vor der Handlung könnte noch einmal ganz klar dem Leser vor Augen führen, wie solche Menschen denken und fühlen, warum sie so sind. Ist aber nur meine Meinung, ich sehe, dass Brother Kane Dich sehr gut verstanden hat.

 

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