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Rabenland
Als Vater starb, trainierte ich mein Gleichgewicht. Fuß um Fuß auf der dünnen Schiene. Schaute nicht auf Fuß und Schiene, sondern raus auf die Ebene. Als wollte ich den Horizont vor mir per ausgleichender Kraft erreichen.
Mein Vater arbeitete bei der LAPAL, dem Lapislazuli-Bergwerk. Alle Väter arbeiteten bei der LAPAL. Sie trugen aus den Stollen einen tiefblauen Staub in die heimischen Hütten. Manchmal strich ich über unser Zink-Waschbecken im Badezimmer und sammelte den Staub von meinen Fingern.
Vaters Staub funkelte irgendwie ernster als der helle, kindisch blaue Staub der Abraumhalden. Der Wind verteilte ihn über Haut, Kleidung, Gebäude und Land. Die Arbeiterfamilien trugen hellblaue Kleidung, wegen des Waschens. Jaja, der Wasserpreis. Ich war nicht arm. Ich trug Weiß. Blaues, dreckiges Weiß. Recht hell.
Ein Rabe setzte sich auf das Bergwerk.
Zweimal schlug er mit den Flügeln.
Die Räder des Förderturms standen still.
Aber ich sprang von der Schiene und lief in die Siedlung.
Erst heulten die Sirenen, dann die anderen: Nachbarn und Bewohner, die Arbeiter der Spätschicht, die Leute aus den Blumenläden und vom Lebensmittelmarkt, Vaters Kollegen im Kollegen-Café. Aus dem Lungen-Sanatorium rollten die Blaustaub-Patienten auf die Mitte der Straße, hustend wie immer, was-ist-denn-passiert, ich lief: An den Aluhütten vorbei, je nach Schichterfolg hoch und bunt oder weiß und bungalow-flach. Ich hörte Zinktüren aufschlagen, schnelles Treten von Sandalen im blauen Staub.
Eine kräftige Hand griff mich, zerrte mich zu ihr, ich kniff die Augen zusammen, dachte an Emma, öffnete sie, sah Emma, die Steinwerkerin, unsere Nachbarin:
„Lea. Dein Vater war im Schacht. Der Schacht ist eingestürzt. Du schläfst jetzt bei uns. Und dann schauen wir weiter.“
Ich hatte nicht das Balancieren gelernt.
Ich hatte die Angst vor einem Ereignis gelernt, das jetzt das, was ich sah, aufriss. Mich in den hellblauen Staub schleuderte und in eine atemlose Ohnmacht drückte.
Aus der Ohnmacht aufwachen.
Sich auf- und abrappeln.
Muss ja weitergehen.
Weiterschauen also. Das hieß ein Jahr später: An Orten leben, wo die Gebäude wie Möbel heißen: „Einrichtung“. Ich klappte mein Mathematik-Schulbuch auf, fühlte das Siegel der LAPAL-Opferhilfe im Buchrücken. Ich klappte einen Schuhschrank auf, las den Besitznachweis der LAPAL-Opferhilfe. Mein Bett war normiert und an der Wand festgedübelt, jedes Element sicher verschraubt. Ich durfte die Akten sortieren. Ich erhielt Papier und Schulhefte auf Spendenbasis, neue Kleider der LAPAL. Ich lernte das Opferhilfe-Personal kennen: „Ich bin kein Opfer“, sagte ich ihnen, egal wie alt, woher, welcher Profession, ob Hausmeister oder Arzt oder nette Mutti. „Das ist richtig, dass du dich nicht so fühlst“, antworteten sie freundlich, mit einem Huch-du-armes-Kind und Ich-will-gut-sein in Stimme und Ausdruck. Sie senkten ihren Blick, friedlich die Gesichter. Ein Gesicht wie nach einer guten Mahlzeit. Sie sollten ekliger essen. Fermentierten Fisch. Rohes Fleisch. Rabe. Eine trug versehentlich einen Lapislazuli-Anhänger. Lustig.
Weiterschauen, das hieß aber auch: Nach einem guten, harten, wahren Wort für das Lila suchen, mit dem die Morgensonne die Ebene färbte, frotz, nannte ich das, frotzende Morgendämmerung, wenn ich vom Bett durch das Seitenfenster schaute. Nur den Raben, den sah ich nie.
Und Weiterschauen hieß auch: Mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern der Minderjährigen-Wohneinrichtung im Kreis sitzen. Verpflichtende Gruppentherapie.
Eine Psychologin, dünne Frau aus der Hauptstadt, erklärte ihr Therapiekonzept für die nächste Stunde. Aktives Einbringen. Arbeiten an sich und mit sich. Hoffnungen wecken, aber nicht solche, die nur enttäuschen können.
Also stellte sich die Psychologin aus der Hauptstadt auf und sprach:
„Ich möchte eine sehr, sehr schwierige Aufgabe mit euch machen.
Ihr habt euren Vater verloren.
Ich möchte, dass ihr eurem Vater einen Brief schreibt.
Was ihr eurem Vater sagen wollt. Lasst euch Zeit.“
Sie verteilte die Briefbögen. Ich meldete mich:
„Ja, Lea?“
„Kann ich noch ein zweites Blatt bekommen?“
„Du hast ja noch nicht angefangen?“
„Ich möchte einen Brief an meine Mutter und einen an meinen Vater schreiben. Sie lebten ja getrennt. Recht lange schon.“
Die Psychologin ärgerte sich bestimmt, sie hätte das ja wissen können, aus der Einrichtungsakte. Sie harrte aus, wie ein scheues Tier, das aber bitte reagieren sollte.
„Aber …“, führte ich fort und spürte die Blicke der anderen Bewohnerinnen und Bewohner: „Dieses Blatt wird reichen. Ich werde es einfach in zwei Blätter teilen. Ich habe nicht viel zu schreiben. Vater schuldet mir ein Fahrrad. Und Mutter ist immer herzlich eingeladen in der Einrichtung, wenn das für die LAPAL-Stiftung in Ordnung ist. Aber das wird es bestimmt sein.“ Ich lächelte. Sie lächelte nicht. Sie machte ihren Job ja ganz gut, wenn auch etwas unsicher für eine Psychologin aus der Hauptstadt. Ihr fehlte der Drive, der Mut, aktiv zu hassen, sie mochte das nicht und das war ihr Fehler.
In den Einrichtungen sprachen sie ja nie vom Tod meines Vaters. Sondern über ihn. In eintausendeinhundert Metern Tiefe sei im Schacht drei eine Kalksenke angefahren, ein ehemaliger See aus der Zeit eines geologischen Massensterbens, nur welches, das vergaß ich oft. Das lockere Seesediment habe den Schacht „instabilisiert“. Keine Zeugen, alle tot. Ich formte das Wort nach: In-sta-bi-li-siert, ich deutete ein Silbenklatschen an und sank auf ihr Niveau.
Je nach Zeit und Geschmack bastelte ich Geschichten zusammen, der Kern blieb: Ein leichtes Sterben sei das, in eintausendeinhundert Metern Tiefe. Eine Art Kontaktmetamorphose, die organische Körper einschloss und Vater auf die Größe einer Walnuss schrumpfen ließ, kein Schmerz, kein Leid, ein Zack und aus.
Am ersten Jahrestag des Unglücks weihen ein Priester, ein LAPAL-Direktor, ein Minister und eine andere Frau Vaters Grab ein. Oder Grab-Namens-Feld. Ich mag Unglück nicht; das Gegenteil wäre Glück, sprich die Arbeit im Bergwerk, die Knochen krümmt und Lungen verklebt.
In dem weißen Marmor stehen die Namen der dreiundfünfzig Opfer. Emma, die Steinwerkerin hat sie alle eingemeißelt, nach dem Alphabet, wie denn sonst. Bei Vater dachte sie: Ach je, auch der, und weiter gemeißelt. Ich schätze sie sehr.
Ein Bus bringt uns zur Gedenkstätte. Der Minister und all die anderen stehen vor dem Namen meines Vaters; zur rechten ausgewählte Gäste, die Presse, die Angehörigen und die ehemaligen Bergarbeiter vom Lungen-Sanatorium in ihren Rollstühlen, manche mit einem blauen Röhrchen aus dem Hals. Zur linken die freien Plätze für uns Halbwaisen. Die Menschen schweigen, als wir vortreten, kein Fotogeklicker, niemand hebt das Handy zum Video, die Fernsehkamera auf Off, sie denken uns für lange Zeit als Opfer. Eine Helferin in schwarzem Kostüm verweist uns auf die Plätze.
Ich setze mich ab, auf einen weichen, gestifteten Stuhl, die Stühle stehen enger und sind zu klein für meinen Hintern, meine Schenkel berühren die der anderen jugendlicher Opfer. Schaue zum Gedenkstein: Ich versuche Vaters Vornamen und meinen Nachnamen zu erkennen, der Direktor versperrt die Sicht. Ein leichter Wind weht und facht ein ewiges Feuer in einer Stahlschale an. Plötzlich sehe ich einen kleinen schwarzen Punkt im Himmel, über dem Gedenkstein fünfzig, sechzig Grad Süd, weit zieht er einen Bogen, einen sehr weiten, entfernten Punkt. Ich halte den Atem. Der LAPAL-Direktor tritt vor das Pult, er wischt sich die Lippen ab und schaut auf den Bus, über meinen Kopf hinweg, über alle Köpfe hinweg. Er redet ja. Der Punkt bleibt stehen. Ich fixiere ihn. Der Punkt steht, zieht plötzlich kopfüber zum Boden, freien Fall ins Hellblau.
Guter Tag. Bin zufrieden.