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Rain-maker
Regen. Seit Stunden nur Regen. Und Kälte.
Knapp über dem Gefrierpunkt hatte ich geschätzt als ich das Haus verließ und die Leuchtanzeige am Kaufhaus bestätigte: 4°C
Meine Laune bewegte sich in ähnlicher Größenordnung. Ich hatte keinen Schirm.
Als mit hochgezogenen Schultern und schnellen Schritten an der Bushaltestelle ankam war mein Filzmantel durchgeweicht. Ich konnte die kalten Tropfen spüren, wie sie jede Wärme aus meinem Körper sogen und ich begann einen Hass zu entwickeln auf diese kleinen Dinger.
Der Tag hatte schon mit diesem Regen begonnen. Eine Stunde früher als nötig war ich vom Prasseln an der Scheibe geweckt worden. Eine Stunde, die ich bitter nötig gehabt hätte. Und ich war allein. Sie war weg und würde erst am nächsten Wochenende wieder kommen. Dabei wusste sie, wie ungern ich alleine war.
Im Zimmer war es zu kalt um noch einmal einzuschlafen. Ich hatte mich zusammengerissen und war rasch aufgestanden. Der Boiler hatte nicht funktioniert, die Kaffeemaschine war verkalkt, es dauerte Ewigkeiten bis ich meine Hände um eine lau warme Tasse legen konnte. Wäre sie dagewesen, mir wäre wärmer gewesen.
Die alte Ölheizung anzuwerfen hätte keinen Sinn gemacht, bis das alte Teil in Gang kam war Frühling. Und sie musste ja unbedingt wieder zu ihren Eltern fahren.
Bei dem Gedanken nach draußen zu müssen war mir übel geworden. Es half nichts, auch die Stunde mehr änderte nichts daran.
In meine Schuhe lief bereits das Wasser, als ich den ersten Fuß vor die Tür setzte.
Autos fuhren brummend durch Wasserwände und holperten durch Pfützen am Straßenrand, wirbelten schmutziges Wasser auf und Scheinwerferlicht wurde in der Dämmerung von der nassen Asphaltfläche reflektiert.
Im Rennen versuchte ich den Gehwegvertiefungen auszuweichen, erfolglos. Dreck und Wasser hatten meine Schuhe und meine Hosenbeine durchtränkt, jeder Schritt wurde von einem schmatzenden Geräusch begleitet.
Vor lauter Hast fiel mir die Aktentasche aus der Hand. Ich sah sie in Zeitlupe aufschlagen und meine Laune-Kurve hatte bereits ihr neues Tief erreicht bevor sich weißes Paper, zusammengeheftete Dokumente, Stifte und Broschüren auf dem Boden verteilten und das Wasser auf sogen.
Mit feuchten Fingern fummelte ich die Blätter und Blöcke zurück in die Tasche, ohne sie groß vom Straßendreck zu befreien, der nun auch an meinen Fingern haftete.
Ich hielt erst wieder an der Bushaltestelle.
Ich war nicht alleine. Es wartete eine ältere Dame im braunen Mantel, mit einem schwarzen, übel riechenden Hund, der vermutlich nicht annähernd so nass war wie ich.
Vor uns die Straße im gelben Licht der Laternen, um uns die Plexiglashaube, voll gesprüht mit hässlichem Grafitti. Jeder Tropfen, der auf das Dach der Haltestelle fiel pochte lautstark in meinen Ohren.
Der Hund kläffte unablässig, nur manchmal übertönt vom Brummen eines LKWs, der sich seinen Weg durch die grauen, verregneten Straßen bahnte.
Jemand hatte die orangefarbenen Plastiksitzflächen angekokelt, so dass sie an einigen Stellen zu hässlichen Blasen verschmolzen waren. Auf den Sitzflächen lagen Pommes in einer Soße aus Ketchup und Regenwasser. Ich blieb also stehen.
Der Hund schnüffelte an meinem Hosenbein. Er kläffte wieder. Seien Besitzerin zog in an der Leine zurück und rief in einer Stimme, die mir die Fußnägel hoch rollte: "Fussel, komm! Lass den Mann in Ruhe!"
Fussel hob mit den Vorderpfoten ab und kläffte weiter. Fussel. In einer Zeitschrift hatte ich einmal gelesen, wie sehr Haustiere ihrem Besitzer ähnlich werden, wenn beide lange genug zusammen leben. Fussel fehlte nur noch die aschgraue Haarfarbe.
Ich konnte ihn riechen.
Sie hatte auch einmal einen Hund gehabt, einen großen goldenen, dessen Name mir entfallen war. Er war eines Tages zu alt gewesen und musste eingeschläfert werden - es war ein schöner Hund gewesen, keine halbe Portion wie Fussel.
Ich wendete mich von ihnen ab, teils aus Abscheu, teils aus Langeweile, und sah wieder auf die Straße.
An Tagen wie diesen würde ich meinem Chef am liebsten ins Gesicht speien, warum ich zu spät war, warum ich nicht strahlte vor Glück, wie sein abteilungsleitender Sohn. Weil ich keinen scheiß Benz hab um von der Vorortvilla ins Parkhaus zu fahren. Weil die Tage kürzer sind als die Nächte und die Sonne in den Süden gezogen ist. Weil ich nicht 3 mal im Monat zum Golfen nach Florida fliege. Ich bekam mit Mühe die Miete zusammen.
Solche Tage ließen den Topf zum Überkochen bringen. Um sechs Uhr morgens an der Bushaltestelle Ecke Mansonstraße war ich übelst gelaunt.
Wir standen sicherlich 20 weitere Minuten in denen Fussel kläffte, sein Frauchen ihn auf den Arm nahm, wo er einen hässlichen dunklen Fleck hinterließ und er ihr dafür übers Gesicht leckte. Der Brechreiz in mir wurde stärker. Es war etwas neblig geworden, aber auch heller.
Der Bus kam nicht und es regnete immer noch.
Ich dachte daran, wieder nass und zu spät ins Büro zu kommen. Es würde ein riesen Theater geben wegen den Dokumenten. Furchtbarer Tag. Ich sehnte mich nach den vergangenen Tagen, nach ihrer Stimme und ihrer Liebe.
Während ich so dachte und zu den Autos blickte, die an mir vorbeifuhren wandte sich die alte Dame mir zu, ihren Köter noch immer auf dem Arm. Er war jetzt ganz ruhig, als sie die Taschen bewehrte Hand hob und an meinem Ärmel zupfte.
Ich drehte mich zu ihr und sah sie an. Sie sah mich an. Ihre Augen waren groß und weit geöffnet. Sie sah nicht mehr aus wie die alte senile Schachtel von eben. Sie wirkte beinahe weise.
Wortlos reichte sie mir einen kleinen weißen Umschlag und ich nahm ihn in die Hand. Ich war so überrascht von der plötzlichen Nähe dieser Frau, dass ich zu keiner Antwort oder Geste fähig war.
Sie wandte sich wieder der Straße zu, ihr Tasche in der rechten Armbeuge, den Hund auf dem linken Arm. Fussel winselte kurz. Sie machte einen Schritt aus der Haltestelle heraus auf die Straße. Ihr brauner altmodischer Halbschuh versank in eine Pfütze.
Ich sah, wie sie einen weiteren Schritt machte auf die Fahrbahn, und noch einen. Langsam aber immer schneller schien sie sich zu einer sanften Melodie zu bewegen inmitten der Motoren. Ich konnte sie hören, diese Melodie, obgleich ich mir nicht sicher war woher sie stammte.
Noch immer war ich mehr fasziniert als erschrocken oder alarmiert vom Verhalten der Frau und so konnte ich nichts, als stehen zu bleiben und ihrem Tanz zu zusehen. Selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre ich nicht im Stande gewesen auch nur einen Schritt zutun.
Ein Horn beendete die Musik abrupt und ich sah, wie der Lasterwagen die tanzende Dame erfasste und mit sich zog. Ihre Beine wurden über den Asphalt gezogen, Fussel hatte sie noch im Arm. Der Laster bremste und sie fiel von ihm ab, auf die nasse Straße, wo die Vorderreifen sie überrollten.
Endlich blieb der Wagen stehen, die Bremsen zischten und der Fahrer sprang heraus, mit entsetztem Ausdruck auf dem Gesicht. Er kniete neben der Frau auf dem Boden nieder und ein Volvo verhinderte meinen starren Blick auf die Unfallstelle. Es hatte aufgehört zu regnen.
Ich kam wieder zu mir. In der Hand noch den Umschlag, der sich unnatürlich warm anfühlte.
Ich ging nach Hause. Ich glaub ich schließ.
4 Tage später ging in der Notrufzentrale des Polizeireviers ein Anruf ein. Eine aufgeregte Frau berichtete weinend ihren Freund in dessen Wohnung gefunden zu haben. Näheres war nicht zu erfahren, sie schluchzte die Worte 'kalt' und 'Angst' immerwieder.
Die diensthabenden Beamten, die zur angegebenen Adresse fuhren berichteten später, es wäre Selbstmord gewesen. Der junge Mann hatte im Heizungskeller gehangen. Seine Kleidung, seine Haut und Haare waren nass gewesen und sein Körper trotz der hohen Raumtemperatur kalt. Seine Hand hatte sich um einen Brief geschlossen, der jedoch vollkommen trocken war und warm.
Die Patologie legte den Todeszeitpunkt auf den vorhergehenden Montag fest.
>>alle Rechte liegen bei mir