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Reptile

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02.06.2001
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Reptile

"Und was hat Sie zu mir geführt?", fragte Donald Thorpe, von Berufs wegen Psychiater, den auf der Couch liegenden Patienten.
"Ach, so genau weiß ich das auch nicht, Doktor..."
"Thorpe", half ihm der Psychiater auf die Sprünge.
"Thorpe, ja. Entschuldigen Sie, ich hatte immer schon ein schlechtes Gedächtnis, vor allem für Namen und Gesichter. Es wundert mich, dass ich meine Eltern die Jahre über wieder erkannt habe."
Der Patient kicherte, wobei sich sein schmächtiger Brustkorb konvulsivisch hob und senkte.
"Nun, Mister Mulligan, ich..."
"Nennen Sie mich doch Dave."
"Gern, Dave", sagte Thorpe und räusperte sich. "Hätten Sie was dagegen, wenn ich unser Gespräch auf Tonband speichere?"
"Keine Einwände", entschied Dave und seine Stimme klang merkwürdig gleichgültig.
"Selbstverständlich werde ich es streng vertraulich behandeln", bemühte sich Thorpe rasch hinzuzufügen.
"Natürlich. Aber wenn ich ehrlich sein soll: Von mir aus können Sie das Band allen Radiostationen Amerikas zusenden. Es wäre mir egal, denn niemand würde das für bare Münze nehmen, was ich zu sagen habe."
Thorpe nickte bedächtig, wurde sich bewusst, dass Dave diese Geste nicht sehen konnte und meinte: "Ich verstehe. Sie fühlen sich also im Stich gelassen? Mit Ihrem Problem meine ich."
"Oh mein Gott, ja!", rief Dave aus und lachte. "Verzeihen Sie mein Benehmen, aber das Ganze ist ebenso tragisch wie komisch, und ich kann mich nicht entscheiden, ob ich hysterisch lachen oder weinen soll."
"Hm-hm", brummte Thorpe und schaltete das Tonbandgerät ein. "Sie scheinen mit ihrem Äußeren, äh, nicht ganz zufrieden zu sein, oder irre ich mich da?", fragte er zögernd.
Aus der Kapuze drang ein hohles Lachen. "Sie meinen, weil ich wie der Schnitter persönlich herumlaufe? Ich kann es Ihnen nicht verübeln. Die Passanten, denen ich auf dem Weg hierher begegnete, haben mich angeglotzt, als wäre ich Gevatter Tod. Und hätte ich eine Sense in den Händen gehalten, wäre ich vermutlich verhaftet worden wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Leider habe ich einen Grund für meine merkwürdige Verkleidung."
"Welchen?", fragte Thorpe etwas gelangweilt. Er kannte Typen wie diesen Mulligan nur allzu gut. Sie kompensierten ihre lächerlichen Minderwertigkeitskomplexe mit auffälligem Verhalten oder verrückter Kleidung, wie Thorpe in diesem Fall vermutete.
"Am besten, ich fange von vorne an. Eine Frage: Sagt Ihnen mein Name eigentlich überhaupt nichts? Keine Glocke, die läutet, oder so?"
Thorpe dachte kurz nach und zuckte dann die Achseln. "Ehrlich gesagt, nein. Müsste ich Sie denn kennen?"
Dave seufzte kurz und verschränkte die Arme über dem Brustkorb. "Haben Sie den Film 'Wir zwei und Johnny' gesehen? Lief vor ein paar Jahren in den Kinos."
"Nein, tut mir Leid. Haben Sie darin mitgespielt?"
Abermals lachte Dave heiser. "Um Himmels willen! Nein. Ich habe nur das Drehbuch verfasst."
Thorpe verspürte zum ersten Mal seit langem reges Interesse an einem Patienten. Natürlich hätte er dies nie zugegeben. Aber mit der Zeit langweilte es einen, bescheuerten Menschen zuzuhören, die sich für hässlich hielten, obgleich sie ganz normal aussahen, oder die glaubten, einen Hass auf Frauen entwickelt zu haben, weil ihre Mutter sie zu kurz gestillt oder ihre Schwester ihnen einmal einen Topfdeckel über den Schädel gezogen hatte. Ein Drehbuchschreiber war eine willkommene Abwechslung.
"Im Ernst? War der Film ein Erfolg?“
"Oh ja. Wir hatten einen Reinerlös von mehr als 500 Prozent erzielt.“
"Sie müssen mich für einen kleinkarierten Typen halten, aber ich habe mir immer schon mal gewünscht, Kontakt mit jemandem aus der Filmbranche herzustellen."
"Wissen Sie was, MisterThorpe?“, erwiderte Dave freundlich. „Lassen Sie Ihren alten Beruf hinter sich und kommen Sie mit nach Hollywood, wo Milch, Honig und Gelder fließen."
Thorpe lachte nervös und errötete. Er schalt sich einen Idioten, schließlich war er in seiner Funktion als Seelenklempner hier, nicht als Talkmaster.
"Ich wuchs als erstes von fünf Kindern eines bitterarmen Ehepaares auf. Ja, das klingt nach dem üblichen Seifenopern-Mist, aber es ist wahr. Ich musste mich praktisch in den Slums durchschlagen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Auch wenn ich momentan nicht den Eindruck mache: Ich bin ein äußerst zäher Junge mit starkem Überlebenswillen und noch größerem Ehrgeiz. Beides benötigt man bitter, wenn man nicht in der Hoffnungslosigkeit versinken will, wie die meisten anderen. Waren Ihre Eltern arm, Doc?"
"Nein, könnte man so nicht sagen. Sie gehörten der Mittelschicht an, wie man so schön sagt."
Langsam nickte die Kapuze. Das Gesicht, das sie verbarg, lag im Dunkeln.
"Mein Vater erledigte Gelegenheitsjobs, was zum Überleben für sieben Personen viel zu wenig war. Also musste auch meine Mutter ran. Klar, dass für mich die Rolle des Babysitters zufiel. Ein wenig leichter wurde es, als wir nur noch zu sechst waren. Meine jüngste Schwester starb bei einem Sturz über eine Treppe. Es war nicht meine Schuld, was aber für mich keinen Unterschied ausmachte. Am liebsten hätte ich mich vor ein Auto geworfen, als ich hörte, dass sie tot sei. Bei Gott, ich habe sie wirklich geliebt. Sie war zwar das zweitjüngste Kind, trotzdem war sie in mancher Hinsicht das älteste. Sie war erstaunlich klug, ich glaube, sie hätte es zu was bringen können. Nein, das glaube ich nicht nur, das weiß ich.
Ich trug eine große Verantwortung, musste quasi nebenher die Schule besuchen und erwachsen werden. Es gab Zeiten, da dachte ich, ich würde ausrasten - nicht nur psychisch. Ich würde es gern verleugnen, aber Tatsache ist, ich überlegte hin und wieder wie es wäre, die ganze Bande abzumurksen.
Die Suppe brodelte auf dem Gasherd und ich ertappte mich bei dem Gedanken, meinem Bruder, der mich mit allen möglichen und unmöglichen Schimpfworten belegte, die ganze Brühe in sein Gesicht zu schütten und zu brüllen: 'Na, was ist? Hast du keine Lust mehr, mich beschissener Hurenbock zu nennen? Ha, ich warte.'
Denken Sie bloß nicht, ich wäre gewaltbesessen. Nur, sehen Sie: Es wuchs mir alles über den Kopf. Ich wollte nicht ewig im Schatten der Großstadt dahinvegetieren Ich wollte auch meinen Teil an den wärmenden Sonnenstrahlen abkriegen. Wie hätte ich es schaffen sollen, aus diesem Käfig auszubrechen? Mit Hilfe guter Schulbildung etwa? Meistens konnte ich nicht einmal meine Hausaufgaben erledigen, geschweige denn Zeit fürs Lernen aufbringen. Und dann dieser Spott in der Schule, der lernschwachen Schülern entgegenschlägt. Auch von Seiten der Lehrerschaft.
Als ich älter wurde, entdeckte ich die Liebe zur Literatur. Sie war es, die mich davor bewahrte, den Verstand zu verlieren, die mich aus den Slums katapultierte und die mich - wozu ich später kommen werde - umbringen wird."
Thorpe schauderte.
"Sind Sie da nicht etwas radikal?", warf der Psychiater ein.
"Radikal? Warten Sie's ab. Sie werden staunen, das verspreche ich Ihnen. Nun, jedenfalls gab ich mein ganzes Geld, das ich hart verdienen musste, für Bücher aus. Meine Eltern schüttelten nur den Kopf, wenn sie sahen, dass ich mit neuen Büchern nach Hause kam. Das heißt, es waren keine wirklich neuen Bücher. Allesamt waren es gebrauchte, abgegriffene, schmutzige, oft etwas vergilbte Exemplare. Aber sie genügten meinen Ansprüchen und passten zu meinem sozialen Status. Die Schule ließ ich völlig links liegen, denn ich hatte längst begriffen, dass es für mich keine höhere Ausbildung geben konnte. Wozu also unnötige Zeit in etwas investieren, das man niemals benötigen wird? Und ich las und las. Und mein Vater machte sich darüber lustig. Es war eine unsäglich peinvolle Kindheit, sofern man noch von einer Kindheit sprechen konnte. Doch es war gleichzeitig die beste Schule, die ich mir jemals hätte leisten können. Ich sah all meine Freunde, all die Kinder, die Jugendlichen, die Erwachsenen, wie sie ohne Zukunft ihr erbärmlich aussichtsloses Leben zu meistern versuchten.
Ich habe die Erfahrung gemacht, die meisten Menschen, die unter glücklicheren Umstanden groß geworden sind, halten das Bild von drogensüchtigen und dealenden Jugendlichen für ein Klischee. Irrtum, es ist die Wahrheit. Und ab und zu sah ich getrocknetes Blut auf dem Asphalt oder an den Gebäudemauern. Fast gleichgültig registrierte ich: Einer oder eine weniger. Ihr habt es jetzt hinter euch. Das ist die schmerzvollste Lektion: Man stumpft mit der Zeit ab.
Mit fünfzehn schmiss ich die Schule, die meinen Bildungshorizont in etwa so stark wie ein Ärzte-Roman aus dem Drehständer eines Supermarkts erweiterte. Rick, mein bester und einziger Freund damals, forderte mich auf, mit ihm in der Großstadt nach der schönen Hure namens Glück zu suchen.
Ich dachte: 'Dave, das ist bescheuert! Kein Aas wird sich einen Dreck um uns kümmern.'
Und wissen Sie, was mein Gefühl dazu meinte?"
Thorpe starrte Mulligan an, der es verstand seine Zuhörer in den Bann zu ziehen.
"Vermutlich so was wie: Ach, was soll's. Ob ich nun hier oder in der Großstadt sterbe ist belanglos."
Dave schnippte mit den Fingern. "So war es. Ich schwafle hoffentlich nicht zu viel. Sollte meine Ausführungen etwas einschränken, wie?"
"Es ist Ihr Geld, Dave. Aber davon abgesehen, interessiert es mich wirklich, was Sie erzählen."
"Danke, Doc. Um es trotzdem kurz zu machen: Meine Mutter weinte und tat gerade so, als wäre ich bereits tot, während mein Vater ungerührt die Football-Ergebnisse in der Zeitung durchblätterte. Ich warf meinen Geschwistern einen kurzen Abschiedsgruß zu, riss mich von meiner Mutter los und atmete erleichtert beim Geräusch der ins Schloss fallenden Tür auf.
Ich ging sofort zu Rick und wir zählten unser Geld. Mitsamt unseren Ersparnissen kamen wir auf die fürstliche Summe von hundert oder zweihundert Dollar. Die Großstadt war Los Angeles und zunächst suchten wir eine Bleibe. Wir nahmen mit einem schäbigen Einzelzimmer in einer Bruchbude vorlieb. Und glauben Sie mir: Die wurde nur durch den Schweiß und die Ausscheidungen der Kakerlaken zusammen gehalten. Der Vermieter war ein fetter Kerl in mittleren Jahren, der sich ausschließlich nuschelnd mit seiner Umwelt in Verbindung setzte, so, als erwartete er, dass man interessiert mit Augen und Ohren an seinen Lippen hing, wenn er sprach.
Das eine Gute muss man dem Mann lassen: Der Preis für ein Einzelzimmer war fair, und obwohl wir zu zweit waren, verrechnete er den normalen Preis. Wir hatten unsere erste eigene Wohnung - toll. Nun brauchten wir nur noch etwas Geld, um uns nicht nach drei Wochen mangels Futter gegenseitig aufzufressen.
Und ich machte die erste große Erfahrung meines Lebens: Es sind immer Jobs übrig, egal wo, und ich spiele damit nicht auf so lukrative Halbtagsjobs an, wie Schuhe wienern oder Porträts beschränkter europäischer Touristen anzufertigen. Das Dumme ist nur: Es handelte sich dabei um Jobs, die man lediglich dann annimmt, wenn man keine Lust hat, vom Dach eines Wolkenkratzers zu springen, um Newton zu widerlegen. Rick hatte es nicht so gut wie ich erwischt. Er musste öffentliche Toiletten säubern, aber nicht die hygienischen Anlagen im Amtssitz des Bürgermeisters, nein, das waren Sanitäranlagen, in denen sich die Scheiße buchstäblich stapelte. Außerdem musste Rick Obacht geben, nicht von Ratten gebissen zu werden oder auf eine gebrauchte Spritze zu treten. Nun, und etwaige andere Utensilien menschlicher Hingabe waren wohl auch zuhauf vorhanden.
Mein Job war viel angenehmer: Ich durfte Kühlhäuser reinigen. Als ich zum ersten Mal so eine Halle betrat, musste ich fast kotzen. Der Anblick dessen, was auf dem Boden lag, kann einen weniger starken Charakter zum überzeugten Vegetarier werden lassen. Und dann stieg mir dieser Geruch in die Nase und ich erbrach saure Flüssigkeit in meinen Rachen, musste diese aber wieder hinunterschlucken. Ich wäre sicher gefeuert worden, hätte ich zwischen die Rinderhälften mein Frühstück platziert. Nie wieder sah ich so viel Blut und Eingeweide und ähnlich Unappetitliches, wie in diesen Kühlhäusern. Dagegen kam mir 'Freitag der 13' wie ein netter Kinderfilm vor. Doch ich war ehrgeizig und stark. Anders hätte ich das nicht überstanden. Natürlich war ich nicht offiziell angestellt, ich war ja erst 15. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich auch nicht krankenversichert war.
Wie dem auch sei. Rick und ich konnten uns damit über Wasser halten. Manchmal hatten wir sogar Grund zum Lachen. Eines Tages kehrte Rick von der Arbeit nach Hause. Sein rechtes Auge hatte sich in eine zarte Knospe verwandelt. Verantwortlich hierfür war ein Typ, der sich in seiner Intimsphäre gestört gefühlt hatte. Um der Wahrheit vollauf zu gereichen: Von Intimsphäre konnte keine Rede sein. Ein Drogensüchtiger hatte sich für ein paar Dollar an den Mann gekuschelt, wenn Sie verstehen, und das tun Sie sicher. Von diesen Dingen werden Sie in der ‚Times’ kaum lesen, und ich schätze, Spielberg wird nie einen Film drehen, in welchem dergleichen geschieht. Aber es geschieht nun mal und kann nur von einem weltfremden Ignoranten bestritten werden.
Nach etwa einem Jahr kaufte ich mir eine Schreibmaschine. Es war eine alte 'Royal' mit mechanischen Typen. Ich ging üppig mit meinen Gedanken und sparsam mit den Farbbändern und dem Papier um. Man könnte sagen, ich drehte jeden Gedanken, jeden spontanen Einfall zweimal um, ehe ich ihn zu Papier brachte. Meine fertigen Manuskripte gab ich persönlich bei den jeweiligen Verlagen oder Anstalten ab. Natürlich gab ich nicht zu, dass ich mir das Porto nicht leisten konnte. Ich redete mir ein, auf Nummer sicher gehen zu wollen, damit die Manuskripte auch wirklich beim richtigen Adressaten ankamen. Na, jedenfalls hat Göttin Fortuna bei der großen Tombola des Schicksals mein Los gezogen, was gleichbedeutend mit dem Hauptgewinn war. Irgend jemand in einem der großen Filmstudios bekam eine meiner Geschichten in die Hände. Jetzt, nachdem ich hinter die Kulissen des Geschehens blicken kann, bin ich mehr denn je fassungslos. Es war ein unglaublicher Zufall, der mir zum Durchbruch verhalf. Die großen Gesellschaften gehen grundsätzlich von der Annahme aus, dass jeder, der noch keinen 10 Millionen Dollar-Vertrag von Doubleday oder NAL in einem feuersicheren Safe bereitliegen hat, einfach kein guter Schriftsteller, respektive Drehbuchautor sein kann. Es ist unfassbar, wie hochnäsig die meisten Leute dort agieren. Na ja, der Rest war Formsache, wie man so schön sagt. Nachdem man mich beim ersten Mal schamlos über den Tisch gezogen hatte, war ich klüger geworden. Dabei hatte mir einer der alten Hasen beim Pi… auf der Toilette einer Party ausdrücklich eingeschärft: 'Junge, trau niemandem! Hörst du? Du darfst absolut niemanden trauen, schon gar nicht jenen, die dir versichern, dass sie dich mögen und es gut mit dir meinen.'
Naiv wie ich war dachte ich mir: Nun ja, die übliche Panikmache. Aber der Mann hatte Recht behalten. Wie dem auch sei. Ich war der jüngste und, wie man mir immer wieder bestätigte, einer der besten der edlen Gilde. Ich schrieb Drehbücher und bekam ein Schweinegeld dafür, denn ich war gut, wirklich gut. Das soll nicht heißen, dass ich es nicht früher auch gewesen bin, nein, Sir, aber ich war unverbraucht und heiß. Meine ersten beiden Aufträge waren eher dürftig, aber ich hatte meine Chance genützt und kam alsbald an die richtig großen Fische ran.
Ich konnte gar nicht genug von der Arbeit kriegen. Viele der alten Hasen meinten, ich müsse einen Knacks weghaben. Die Wahrheit war: Es machte mir Spaß! Und diese arrivierten Kerle gaben sich jedes Mal erstaunt, mich noch immer unter den Lebenden verweilen zu sehen. Ja, ich glaube, die betrachteten mich als ein Kuriosum. Langweile ich Sie nicht schon beträchtlich, Mister Thorpe?"
"Durchaus nicht", entgegnete dieser.
"Danke. Ich werde versuchen, mich jetzt wirklich ranzuhalten. Es ist nur so, dass ich denke, Sie müssen möglichst viel von mir wissen. Ich meine damit nicht, wie oft ich mir die Zähne putze, oder so. Wo war ich? Ach so, ja. Ich arbeitete wie ein Besessener, schrieb schlechte Drehbücher um, machte aus guten Bestsellern akzeptable Filmhits, aus schlechten Bestsellern halbwegs gute Filme. Etwas Abstraktes wie geistige Müdigkeit kannte ich nicht. Ich war natürlich in eine kleine Villa in den legendären Hügeln des noch legendäreren Hollywoods umgezogen. Eine wirklich kleine Villa. Ich werde darauf zurückgreifen. Und mein guter Freund Rick bekam einen guten Job bei der Filmfirma, die mich unter Vertrag hatte. Selbstverständlich hatte ich mich nicht für ihn eingesetzt." Sein Tonfall wurde herablassend.
"Auf die Idee würde ich niemals kommen", gab Thorpe amüsiert zurück, woraufhin Dave ein beängstigend metallisches Lachen von sich gab.
"Scheiße, natürlich habe ich ihm den Job verschafft! Mein Lebensmotto ist: Wer einmal Gutes für mich tut, dem werde ich auch Gutes widerfahren lassen. Andrerseits bin ich ein sehr schlechter Verlierer, weshalb man in gewissen Kreisen nicht allzu gut auf meine Wenigkeit zu sprechen ist. Oh toll; ich quassle Ihnen die Ohren voll, als befände ich mich auf dem Sterbebett und wolle meine Lebensbeichte abgeben."
Dave räusperte sich. "Ich schrieb sogar ein paar Folgen für so wichtige Fernsehserien wie 'General Hospital' und 'Springfield-Story'. Wahrscheinlich kann ich Ihnen das nicht begreiflich machen, aber ich schäme mich dafür, diese Aufträge angenommen zu haben. Wenn ich es für Geld getan hätte, dann könnte ich es akzeptieren. Aber ich tat es nicht für Geld. Ich tat es nie für Geld! Ich war eine gottverdammte Hure, die es dem jungfräulichen Knaben aus der Unterstufe genau so besorgt, wie dem perversen Senats-Abgeordneten. Bitte sehen Sie mir meine rüde Ausdrucksweise nach, ich bin besser darin, Dialoge zu schleifen, als Lebensweisheiten spontan von mir zu geben. Aber Sie werden dafür bezahlt, richtig?
Eines Tages brach ich zusammen. Physisch wie psychisch. Wer den Spott hat, braucht bekanntlich für den Hohn nicht sorgen, und das traf auch auf mich zu. Von jeder Seite hieß es: 'Das war abzusehen' oder 'Wir haben's dir gesagt'. Man riet mir zu einer kleinen Pause, die ich auch einhielt. Etwa zwei Monate lang saß ich lustlos hinter meinen vier Wänden gefangen herum. Ich dachte, ich würde ersticken. Und ich kam mir so unbedeutend und einsam vor. Niemand klopfte mir auf die Schulter, um mir zu meiner gelungenen Arbeit zu gratulieren. Ich war süchtig nach Erfolg und Anerkennung. Ich, der ich meine Jugend in Trostlosigkeit verlebt hatte, war zum Liebling vieler aufgestiegen. Ein Zustand, den ich nicht zu beschreiben vermag. Es war am ehesten mit einem Dauer-Trip zu vergleichen. Ich war süchtig nach meiner regelmäßigen Prise Erfolg.
Damit wir uns nicht missverstehen: Nie habe ich Drogen genommen, obwohl diese in 'wood so leicht wie Aspirin zu besorgen sind. Ich war kein gebranntes Kind, aber ich hatte zu viele Menschen brennen sehen und war gewarnt. Selbst von Alkohol ließ ich die Finger, denn ich wusste, was dieser anzurichten imstande war. Ich hatte keine Lust, an einem Morgen aufzuwachen und festzustellen, dass ich mir das Bein bei einem Sprung aus dem Fenster gebrochen hatte.
Die Zeit war wirklich schlimm für mich. Minuten wurden zu quälend stumpfen Stunden, Tage zu Wochen des Irrsinns. Manchmal stellte ich den Fernseher an und war entsetzt ob des offensichtlichen Betruges. Ja, Betrug. Und ich war einer dieser Betrüger, denn ich hatte die Spielregeln akzeptiert. Aber dann endete mein Dasein als geistiger Eremit und ich tat da weiter, wo ich aufgehört hatte. Ich betrog wieder und es war mir egal. Gott, war ich blöd! Ich schränkte mich lediglich in meinem Arbeitspensum ein, an meiner Arbeitsauffassung änderte sich nichts. Selbstherrlichkeit könnte man das nennen. He, die Leute wollen betrogen werden, sie geben mir ihr Geld und ihre Seelen freiwillig."
"Die Seelen?", meinte Thorpe erstaunt und runzelte die Stirn.
"Was ist das Wichtigste in den meisten Filmen? Die Darstellung der Protagonisten. Die Figuren müssen glaubhaft und doch völlig unglaubwürdig sein. Der schöne Fiesling, die schöne bescheuerte Blondine, der schwarze Gauner, die doofe Hausfrau, die niedliche Tochter, der zänkische Sohn ... Ich könnte mich stundenlang darüber auslassen, wie verlogen all dies ist.
Wie bezeichnen Studios ihre neuen Serien? 'Wirklichkeitsnah'. Was für eine Scheiße! Natürlich gibt es den autoritären Bankleiter, die neurotische Lehrerin, den schwulen Priester, die betrügerische Frau des Stadtrates. Aber das Gefährliche an Verfilmungen ist der Zwang zur Unterhaltung. Ich erkannte das damals nicht. Ich dachte, es sei okay, einfach zu unterhalten.
Stellen Sie sich ein Ehepaar vor, das am Morgen bei Tisch sitzt. Sie sagt: ‚Soll ich dir einen Toast zubereiten?’ Er sagt ‚Nein, ich hab keinen Appetit’. Sie sagt: ‚Ich fürchte, Wendy wird das Schuljahr wiederholen müssen’. Er sagt: ‚Hm. Das wäre schlecht. Sie muss einfach mehr lernen’. Niemanden würde das interessieren. Ich belasse zwar die Figuren, lege ihnen jedoch geschliffenere Dialoge in den Mund, wie: ‚John, ich habe den Verdacht, Wendy nimmt Drogen’. – ‚Was? Wie kommst du denn darauf?’ – ‚Sie ist in der Schule abwesend und passiv und…’ – ‚Ich werde mit ihr reden’ – ‚Das habe ich schon versucht. Sie streitet alles ab. John, es ist unsere Schuld. Wir haben ihr in letzter Zeit das Gefühl gegeben, sie sei uns nicht mehr wichtig genug’. – ‚Beruhige dich, du hast selber gesagt, du hättest nur einen Verdacht. Solange wir sie nicht dabei erwischen, wie sie…’
Und so weiter. Man spielt mit menschlichen Gefühlen herum, wie mit einer Stereoanlage. Ein bisschen mehr Bass, die Höhe reduzieren ... Es ist so verdammt trivial! Doch wir schaffen es, den Zusehern zu vermitteln: He, es ist nun mal so! Das ist die beschissene Wirklichkeit! Und dann fangen die Leute an, in den Zimmern ihrer Kinder nach Drogen zu suchen. Oder ihren Kindern Vorwürfe zu machen. Es erfolgt ganz einfach ein Realitätsverlust. Natürlich auf einer Metaebene, nicht direkt. Niemand sieht sich einen Thriller an und beschließt daraufhin, kleine Kinder mit einem Gewehr von den Fahrrädern zu pusten. Der Verlust eigenen Denkens erfolgt im Unterbewusstsein. Ziehen Sie sich schwarz an, hängen Sie sich ein Kruzifix verkehrt um den Hals und führen Sie eine Death Metal-Platte Gassi und man wird sie für einen Leichenschänder oder Teufelsanbeter halten. Zugeben würde dies keiner, aber in den meisten Fällen ist es so."
"Stereotype?"
"Subtiler Art, ja. Das Schreckliche ist, dass man mir abnahm, ich wüsste wovon ich erzähle. Dabei weiß ich es gar nicht! Eine der ungeschriebenen Regeln der Literatur lautet: Schreibe über Dinge, von denen du Bescheid weißt. Wären mir nicht vor drei Jahren die Augen geöffnet worden, ich würde wohl in dieser Stunde in meinem kleinen Apartment an einem Drehbuch für einen Krimi oder ähnliches schreiben. Vielleicht wird es meinen Tod bedeuten, aber wenigstens sterbe ich reinen Herzens."
"Was ist geschehen?", wollte Thorpe wissen.
„Das Schrecklichste, was einem zustoßen kann. Ich verliebte mich."
Der Psychiater kratzte sich am Hinterkopf, wo sich gemeinerweise eine Glatze abzeichnete.
"Sie hieß Berenice. Ihre Haare waren lang und schwarz, ihre Augen blaue Kristalle, die jeden Mann, den sie funkelnd anvisierten, in den Wahnsinn treiben konnten. Ihre Lippen waren blass und dennoch so verlockend wie eine einsame Rose am Rande der Wiese. Ihr Gesicht war makellos, und kein Maler hätte ein Porträt anfertigen können, das dieser Schönheit standhielte. Berenice ging nicht, sie tanzte. Ihre Schritte waren locker und anmutig, eine Symphonie der Grazie. Und wenn sie sprach, schien sie zu singen. Ihre Stimme betörte wie ein sanfter Klang, der sich in die Gehörgänge des Auditoriums schmiegt. Man konnte den Blick unmöglich von ihr wenden, wenn man sie sah. Sie war Wohlgefallen und Schmerz zugleich: Endlich wusste man, was wahre Schönheit war, doch ihre Unnahbarkeit verletzte die Herzen derer, die ihrer habhaft werden wollten. Berenice konnte man nicht für sich gewinnen; man konnte sie sehen, hören, ihren Duft atmen, sie zaghaft berühren, ihre Gegenwart fühlen, ihre Anmut bewundern. Berenice war ein Teil dieser Welt, und dennoch so fern wie die Sterne am klaren Himmel der Nacht. Und allein ihr Name war es, der den Lebensatem so vieler stahl. Sie lebte nicht, aber sie war auch nicht tot. Sie existierte nur in meiner Phantasie.“
Dave lachte rau. „Berenice war eine Romanfigur. Ein Phantasiegebilde, von einer gewissen Nona Crystal erfunden. Nein, erfunden hat einen zu technischen Beigeschmack. Erschaffen. Sie wurde von ihr erschaffen. Läuten bei dem Namen Crystal ebenfalls kein Glocken bei Ihnen?“
"Nein, tut mir Leid. Wer soll das sein?"
"Ich werde Ihre Frage gleich beantworten. Wissen Sie, es mutet sicher merkwürdig an zu behaupten, man habe sich in eine Romanfigur verliebt. Aber ich bin ... Ja, ich bin der Ansicht, dies ist nicht abnormal."
Die Stimme des Patienten nahm eine nachdenkliche Färbung an. Er sprach leise und gemächlich.
"Berenice existierte nur als verschwommenes Abbild in meinem Verstand, doch tatsächlich war sie so real wie ein Mensch. Sie lebte, und das ist der wesentliche Unterschied zu den Rollenfiguren der Fernsehserien oder Filme. Sie lebte in mir, sie wurde ein Teil meines Bewusstseins. Nie zuvor war mir ähnliches widerfahren - Nona, ich meine Miss Crystal, hatte es verstanden, Berenice Leben einzuhauchen. Es war unglaublich. Ihr Buch ‚Seelenlandschaft’ war fantastisch. Wissen Sie, wann ein Roman wirklich gut ist? Wenn man sich wünscht, man würde die Charaktere kennenlernen. Wenn man unwillkürlich die Hand nach den Buchstaben ausstreckt, als könnte man dadurch einen Bann brechen und in die Dimension der Romanhandlung eindringen. Plötzlich wusste ich, was es hieß, Schriftsteller zu sein: Nicht ein paar Kulissen und Amateurdarsteller vor eine geistige Kamera zu stellen, nein, eine Welt zu erschaffen, die real ist, die die Vorstellungskraft des Lesers übersteigt. Eine Welt, so real wie die Stadt. Ich kenne Los Angeles, und trotzdem ist es mir so fremd, wie eine Milliarden Lichtjahre entfernte Galaxie. Ich kann jedes Haus von innen betrachten, mit allen Menschen in der Stadt sprechen, den Duft der Wirklichkeit einatmen, berühren, was es zu berühren gibt, und trotzdem übersteigt diese Stadt meine phantastischsten Träume bei weitem. Es ist eine Welt, die ich niemals begreifen werde.
Jeder Mensch ist ein Geheimnis, das erforscht werden will. Und doch ist es mir nicht im Entferntesten gestattet, mich selbst zu kennen. Ich bin ein Fremder meines eigenen Verstandes. Das ist es, wie ein Roman, wie eine Geschichte Wirkung erzielen sollte. Man weiß alles und doch nichts. Man ist Besucher einer fremden Welt. Den meisten Menschen mangelt es an Phantasie. Man muss ihnen alles zweimal und dreifach erklären oder zeigen, bis sie verstehen. Ich will keinen Hehl daraus machen, dass auch ich dereinst dieser Gemeinschaft des Einfallslosen angehörte. Jedenfalls bis ich in die Geheimnisse der Phantasie eintauchte. Ich rede nicht von Fantasy-Müll, den sie bei ‚Waldenbooks’ tonnenweise kaufen können. Nein: Es bleibt Ihnen für immer verborgen oder es wird Ihnen bewusst. Wunderbarerweise kam mir Berenice zu Bewusstsein. Sie nahm Gestalt an und ich lernte sie kennen. Ich verlor nicht etwa den Verstand oder erschuf eine Tulpa, wie in dieser verschrobenen Kurzgeschichte, die ich einmal gelesen habe. Berenice war überall und nirgends. Sie sprach zu mir und ich antwortete."
"Und wie ging das vor sich?", wollte Thorpe wissen.
"Oh, wie ich bereits sagte: Sie drang in mein Bewusstsein ein und bewohnte dieses. Sie war kein imaginärer Spielkamerad, sondern eine in der nur mir zugänglichen Welt des Verstandes existierende Person. Ich kannte alle ihre Gedankengänge, denn diese waren in 'Seelenlandschaft' ausführlich dargelegt worden. So wusste ich stets, was Berenice an meiner Stelle fühlen, denken oder sagen würde. Ach, ich weiß nicht, wie ich Ihnen das begreifbar machen kann. Sie müssen annehmen, ich sei verrückt gewesen, aber das war ich nicht! Es war so, als ... ja, als trüge ich ein Buch mit mir, in welchem die Gedanken eines Menschen aufgezeichnet waren, sodass ich in der jeweiligen Situation nur noch nachzublättern brauchte, um aus dem Buch zu ersehen, was jener Mensch über dies und jenes dachte.
Ein Gedankenbuch. Der Traum jedes Autors. Dein Protagonist, deine Protagonistin fristen im Verstand deines Lesers ein eigenes Dasein.
Berenice sagte: 'Was du eben geschrieben hast, ist Schwachsinn', und ich zerknüllte die Seite und warf sie in hohem Bogen in den Papierkorb.
Berenice sagte: 'Geh nach draußen, es ist schönes Wetter, das wird deiner Seele gut tun', und ich ging nach draußen.
Berenice forderte mich höflich auf, an einer Nelke zu riechen und ich tat wie mir befohlen."
"Einen Moment mal. Sie nahmen den Charakter einer Romanfigur an?"
"Nein, ich nahm ihre Ratschläge an."
"Aber diese Berenice ist eine Schöpfung eines real existierenden Menschen. Das heißt, indirekt nahmen Sie die Ratschläge einer Schriftstellerin an."
"Ja, das dachte ich anfangs auch. Die Sache ist kompliziert. Ich werde mich kurz und weniger ausführlich fassen. Folgendes geschah: Ich tat meine Arbeit, vernachlässigte meine sozialen Kontakte jedoch nicht. Das ist auch wichtig, um im Geschäft zu bleiben. Wieder einmal war ich auf eine Filmparty geladen. Ich wurde reihum den vielen Gästen vorgestellt, darunter nicht wenigen Autoren. Zufällig, und es war wirklich nur Zufall, befand sich Nona Crystal darunter. Ich war hocherfreut, ihre Bekanntschaft zu machen und sprach mit ihr ziemlich lange. Na ja, Sie kennen das sicher. Mehr als zehn Minuten verbringt man auf einer Cocktailparty nicht mit derselben Person, denn nach wenigen Minuten wird man von anderen unterbrochen oder weggeführt. Trotzdem gelang es mir, eine lange Konversation mit ihr pflegen zu können. Pflegen, denn Nona war eine außergewöhnliche Frau. Ich glaube nicht, dass man mit ihr über das Wetter oder die neuesten Gerüchte reden konnte. Sie war damals Anfang zwanzig, also in etwa meinem Alter. Bereits als sie siebzehn war, hatte man ihren ersten Roman veröffentlicht. Sie schrieb acht Romane und ein Drehbuch. Ja, und zwei Jahre zuvor hatte sie 'Seelenlandschaft' geschrieben. Seither hatte sie der aktiven Literatur Lebewohl gesagt. Ich hatte ihr noch nicht gestanden, dass ich ihren letzten Roman gerade erst gelesen hatte, da schaltete mein Verstand auf 'Bin beim Essen - komme gleich wieder'.
Greifbar nahe, nur wenige Schritte von mir entfernt, stand Berenice. Sie unterhielt sich mit einer Frau, die ich nicht kannte, und Babe Grat, einem Studiotitanen. Ich rastete völlig aus, vergaß, wo ich war, wer ich war, stolperte versunken in schmerzlicher Wehmut auf Berenice zu, meine Augen waren starr auf sie gerichtet, ich sah sie im Profil, und ich stürzte berauscht und entsetzt zugleich auf sie zu, und ich streckte den Arm aus, berührte ihre Schulter und sagte: 'Berenice?'.
Sie wandte mir ihr Gesicht zu und sah mich an, als hätte ich ihr einen Ritualmord vorgeschlagen. Ich starrte sie an, sie mich. Und obgleich sie Berenice war, war sie es doch nicht. Sie sagte: 'Kennen wir uns?' und mein Verstand funktionierte wieder einwandfrei. Ich zog den Arm zurück, als hätte ich mir an der Schulter der Frau die Finger verbrannt und sah verwirrt zu Grat. Ich spürte, wie es um uns, die wir in einem seltsamen Dreieck standen, ruhiger wurde und dutzende Augenpaare sich begierig dem Schauspiel widmeten, in dessen Mittelpunkt ich stand.
Grat war die Sache peinlich und er stellte mir mit dem letzten Rest Würde, den ich mir gelassen hatte, die Frau als Rachel Crystal vor. Ich wünschte, der Boden unter mir würde zu Gelee werden und mich einfach verschlingen. Frank, mein Literaturagent, hatte die Szene mitbekommen und kämpfte sich durch die Menge zu mir vor.
'Dave', sagte er zu mir, 'Das ist nicht Sandra. Komm zu dir!'
Und dann wandte er sich Rachel zu und meinte erklärend: 'Es tut mir Leid! Seine einzige Schwester ist erst vor zwei Wochen gestorben und sie sah Ihnen verblüffend ähnlich. Er ist über den Schock noch nicht hinweg und hielt sie wohl für seine Schwester. Sie müssen wissen, sie standen sich sehr nahe und ihr Tod war ein schrecklicher Schock für ihn. Bitte verzeihen Sie Dave, so etwas ist noch nie vorgekommen, er ist betrunken und so kam das jetzt. Entschuldigen Sie vielmals, es ist meine Schuld, ich hätte ihn nicht alleine lassen dürfen.'
Natürlich sind das nicht exakt seine Worte, aber es dürfte seinem Wasserfall an Entschuldigungen relativ nahe kommen. Ich spielte mit, Babe Grat auch, und damit war die Sache für den Augenblick erledigt. Frank brachte mich nach draußen und platzte fast vor Wut.
'Sag mal, bist du überhaupt noch zu retten? Rachel ist nicht irgendein Flittchen, das du von Grat persönlich zugestellt bekommst, wenn du den Wunsch danach spürst. Sie ist eines der bestbezahlten Models und gerade auf dem Sprung in die Filmbranche! Wenn du dich vollends unbeliebt machen willst, solltest du Babes Verlobte befingern.'
Es war eine Litanei der Verärgerung. Ich mache ihm keinen Vorwurf, denn Frank musste aus finanziellen Gründen ein Interesse an meinem Ansehen haben. Ich versprach ihm, nach Hause zu fahren, was ich dann auch tat. Beinahe wäre ich gegen eine Ampel gefahren, dermaßen durcheinander war ich. In meinem Apartment angekommen duschte ich und schluckte ein paar Tabletten zur Beruhigung meiner Nerven. Ich ging zu Bett und schlief nach Stunden endlich ein. Am nächsten Morgen weckte mich das Telefon. Ich ging schlaftrunken ran und war mir sicher, es würden sich Frank oder Babe melden. Stattdessen war es eine mir nicht ganz unbekannte Stimme. Nona Crystal. Ich war perplex, denn ich besaß eine Geheimnummer, die ich nur etwa einem Dutzend Auserwählter anvertraut hatte. Sie sagte, sie habe von Frank die Nummer bekommen. Ich war ein wenig sauer auf Frank und verwundert, denn bislang hatte er meine Telefonnummer niemals weitergegeben. Nona fragte mich, ob ich mich mit ihr treffen wolle. Ich sagte zu und wir verabredeten uns in einem kleinen Cafe.
Am Nachmittag fuhr ich zu unserem Treffpunkt. Nona saß allein an einem Tisch und ich gesellte mich zu ihr. Sie hatte sofort gewusst, was am Vortag geschehen war.
'Sie haben mein letztes Buch gelesen', sagte sie, und es war keine Frage, sondern eine sachliche Feststellung. Rachel war Nonas Cousine, in deren Schatten sie stets gestanden hatte, was ich nur allzu gut verstand. Nona war nicht hässlich, aber auch nicht schön. Die Wahrheit befindet sich wie meist in der Mitte der Wahrnehmung. Sie war keine Frau, der man einen zweiten, längeren Blick nachwarf, wenn man sie sah. Rachel hingegen war umwerfend schön, und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass in ihrer unmittelbaren Nähe jedes weibliche Wesen in Depressionen verfallen musste. Nonas Mutter war eine in den Sechzigern bekannte Filmschauspielerin, ihr Vater ein nicht ganz so prominenter Regisseur. Kein Wunder, dass sich Nona in die Ecke gedrängt fühlte.
Sie legte mir ihr Leid dar, allerdings nicht auf melancholische Art und Weise, sondern indem sie, wie es ihrem schriftstellerischen Naturell entsprach, ihren Emotionen Gestalt verlieh. Nachdem sie ihre Geschichte beendet hatte meinte sie, ich sei der einzige ihr bekannte Mensch, der ‚Seelenlandschaft’ gelesen und verstanden hätte. Dafür dankte sie mir. Ja, sie dankte mir! Es sei das größte Kompliment, das man ihr je gemacht hätte.
Ich verkniff mir die Frage, warum sie ausgerechnet Rachel, auf die sie alles andere als gut zu sprechen war, literarisch unsterblich schön gemacht hatte. Aus ihren Andeutungen Rachel gegenüber zog ich den Schluss, dass sie dieser den Erfolg neidete und wenigstens in einer Traumwelt ab und an die Rolle der Traumfrau übernehmen wollte. Wohlgemerkt, ich könnte mich auch irren!
Wie dem auch sei, ich genoss die Unterredung mit Nona und bat sie, mich zu besuchen, wenn sie Zeit und Lust hierfür aufbringen könne. Sie versprach, dies zu tun. Das Leben ging weiter, die peinliche Szene auf der Party war bald aus dem Gedächtnis der meisten Anwesenden verschwunden. Man verlor kein Wort mehr darüber, was ich mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Trotzdem fühlte ich mich müde und ausgebrannt. Ich nahm mir vor, einige Monate zu pausieren, doch schon nach wenigen Tagen merkte ich, dies würde mir nicht helfen. Meine Batterien waren leer. Ich verlor die Lust am Schreiben, kreative Einfälle überkamen mich praktisch gar nicht mehr und ich saß einfach herum und wusste nicht, wie ich die Zeit totschlagen könnte.
Frank blieb dies natürlich nicht unbemerkt und er registrierte es mit Besorgnis. Er machte mir alle möglichen und unmöglichen Vorschläge, die zu einer Besserung meines Seelenlebens beitragen sollten. Ich lehnte dankend ab. Mir war nach nichts Bestimmtem zumute. Berenice blieb davon leider auch nicht verschont: Sie verstummte nach wenigen Wochen, denn ihre Nahrung, meine Phantasie und Kreativität, war vollends ausgeblieben. Langsam hungerte sie zu Tode. Es tat mir Leid, aber ich konnte nichts dagegen machen. Der Tag, den ich am meisten gefürchtet hatte, brach an. Ich war einsam und verlassen.
Wenn ich lustlos die Straßen entlang ging, fragte ich mich, weshalb die Menschen so fröhlich waren. Da gingen sie also, all die Verliebten Arm in Arm, die Kinder die Hand ihrer Eltern haltend, manche allein, manche in Gruppen ... und ich war ausgestoßen wie die Paria. Meine innerlichen Seufzer verklangen angesichts der Hoffnungslosigkeit der Situation, in der ich mich befand. Das soll nicht heißen, dass ich an Selbstmord dachte, nein, ich liebte das Leben! Es heißt nur, dass ich mich nach Leben sehnte. Nicht nach dem Tode. Mein Spiegelbild in den Scheiben der Schaufenster war mir fremd. Selbst das Betreten einer Buchhandlung fiel mir schwer, obgleich Bücher den Kurs meines Lebens bestimmt hatten.
Meine Gedanken waren längst keine komplexen Gebilde mehr, die, richtig zusammengefügt, unerschöpfliche Kreativität versprachen. Der Quell dieser Kreativität war versiegt. Und dann sah ich diese vielen, vielen Bücher und Angst ergriff Besitz von meinem Herzen. Ja, dachte ich, so muss sich ein kleines Kind fühlen, das Stubenarrest hat und durch eine Glasscheibe hindurch seine Freunde im Hof spielen sieht. Das war unfair!
Ich überflog das Angebot an neuen Büchern und kicherte leise, als ich sah, dass eines der Bücher von Duff Randy geschrieben worden war. Ich las den Klappentext und konnte nur mit Mühe einen Lachanfall vermeiden. Duff Randy, der Schauspieler! Das konnte doch nicht wahr sein! Ich hatte Duff zwei- oder dreimal persönlich getroffen und eines wusste ich: Das einzig Zusammenhängende, das er schreiben konnte, war sein Autogramm, und auch das nur, wenn man den Stift führte. Scheiße, dachte ich, dieser Trottel kapiert doch nicht mal den Handlungsstrang eines Peanuts-Comic! Ein Ghostwriter musste das Buch geschrieben haben. Ich war amüsiert und wütend zugleich. Mir ekelte vor diesem Buch, mir ekelte vor diesem Namen und ich betrat die Abteilung der Belletristik. Dort wurde ich mit hunderten bunten Bildchen auf den Schutzumschlägen der Hardcoverausgaben konfrontiert. Was soll's, dachte ich, und suchte nach dem originellsten Cover. Das dazugehörende Buch würde ich kaufen und lesen. Ich gebe zu, eine ungewöhnliche Art der Selektion, aber gerade darin lag der Reiz. Es machte mir sogar Spaß, auf diese Weise meine nächste Lektüre zu erwählen. Die meisten Illustrationen waren gewöhnlich. Sie kennen das sicher: Eine schöne Frau wird von hinten von einem halbnackten Muskelhero lüstern begrabscht. Linkische Zeichnungen. Porträts. Städte bei Tag und bei Nacht. Oder ganz simpel: Der Schriftzug des Titels.
Aus alledem stach jedoch eine Illustration hervor: Das gemalte Konterfei eines Jungen. Vordergründig war es ein Junge wie tausende andere auch. Weder besonders attraktiv, noch irgendwie hässlich. Ich betrachtete das Cover etwa eine halbe Minute intensiv, da schienen sich die Gesichtszüge des Jungen zu verändern. Seine Miene wurde martialisch, Heimtücke spiegelte sich in seinen dunklen Augen, die Lippen wechselten von Gleichgültigkeit zu einem leichten Grinsen. Es war seltsam, wie jene Portraits, auf denen die Augen der abgebildeten Person einen überallhin zu verfolgen schienen, egal, aus welchem Blickwinkel man das Bild besah.
'Insanity' war der Buchtitel. Ich kaufte es und las es innert weniger Stunden. Ich bin ein sehr schneller, ungeduldiger Leser.
Ein ganz normaler Junge aus einer ganz normalen Stadtfamilie verwandelt sich in eine menschliche Bestie. Wenig sensationeller Romanstoff. Außergewöhnlich fand ich, dass man nicht mit den Opfern der zerstörerischen Wut des Jungen Mitleid empfand, sondern mit dem durchgeknallten Jungen selber. Er war nie verprügelt oder verspottet worden, und dennoch war sein Hass auf die Menschen der Stadt, welche er 'erbärmliche Kreaturen' nannte, grenzenlos. Es überraschte mich, wie einfach es für mich, der ich Gewalt ablehnte, war, den Gedanken des Protagonisten zu folgen. Unverständlicherweise fiel das Niveau der Geschichte auf den letzten Buchseiten gen Null. Hollywood, dachte ich. Es war so trivial, dass es lächerlich wirkte: Ein Mädchen, dessen Eltern von dem Jungen grausam getötet worden waren, machte dem verhassten Mörder den Garaus. Punkt. Das Ende war so übertrieben schlecht, dass ich mir ziemlich sicher war, dass der Autor des Buches vom Verlag aufgefordert worden war, den Schluss neu zu schreiben. Wenn dem so war, hat sich der Autor bitter gerächt, schoss es mir durch den Kopf.
Trotzdem war ich verärgert. Da kam mir die Idee: Warum versuchst du nicht, es besser zu machen? Ich teilte Frank mit, dass ich an einem Buch schreiben würde. Das war ich ihm einfach schuldig. Und also tat ich es.
Anfangs fiel es mir sehr schwer; an einem Roman zu schreiben. Nicht, dass ich durch die einseitige Belastung in Richtung Drehbuch nicht mehr Literatur hätte verfassen können. Es war nur so, dass ich niemals zuvor echten, unverhohlenen Hass auf alles und jeden verspürt hatte. Ich wusste um die Grausamkeit vieler Menschen, wusste, dass die Schönen hässlich und die Hässlichen schön sein konnten. Aber der Aspekt, den ich herausheben wollte, war der grenzenlose Hass eines Individuums. Es ist einfach, einen Roman zu lesen und den Ausführungen des Autors Glauben zu schenken. Etwas ganz anderes ist es jedoch, in die Rolle des Autors zu schlüpfen. Deshalb wollte ich tiefer in die Welt des Autors von 'Insanity' blicken.
Ich las 'Insanity II', das nicht minder spannend als sein Vorgängerband war. Allerdings handelte es sich nicht um einen durchgehenden Roman, sondern um mehrere Kurzgeschichten. Ein Satz brannte sich unauslöschlich in meinen Verstand: 'Der Einblick in die Seelen anderer könnte dich verstören. Das Wissen um die Schwärze deiner eigenen Seele könnte dich in den Wahnsinn treiben'.
Ich wollte mit dem Autor der 'Insanity'-Bücher Kontakt aufnehmen, doch man teilte mir mit, dass er sich irgendwo in Europa aufhalte. Genaueres wusste nicht einmal seine Literaturagentin zu sagen. Ich konnte und durfte nicht zuwarten. Ich nahm mir besagtes Zitat aus ‚Insanity II’ zu meinem Vorbild. Ich versuchte fortan, in die Seelen meiner Mitmenschen zu blicken und das Böse, das Verdorbene darin zu finden. Es mag Ihnen seltsam erscheinen, aber wenn Sie lange genug darüber nachsinnen, muss Ihnen jeder Mensch wie ein Monster vorkommen.
Ich dachte an Nona und ihre Hass-Liebe zu Rachel. Ich dachte an diverse Massenmörder. Was ging in solchen Menschen vor? Ich dachte an meine eigene Kindheit und meinen gezügelten Hass. Nie war ich bereit gewesen mir einzugestehen, dass ich Abscheu den meisten Menschen gegenüber empfand. Man war lediglich an meinem Talent interessiert, alles andere war nebensächlich. Ich wusste, dass jene, die mich dämlich grinsend auf bescheuerte Filmpartys einluden, mich auf der Straße keines Blickes für würdig empfinden würden, wenn meine Kreativität, meine Phantasie vollends erschöpft sein sollte. Ich bin mir sicher, dass Kreativität eine Mine ist, die irgendwann, und sei sie noch so reichhaltig, erschöpft sein wird. Nun, plötzlich war ich auf eine neue Fundstelle gestoßen.
Ich glaube, es war kurz vor dem Erntedankfest, da traf mich der Hammer der Eingebung. Es ist vergleichbar mit einem Film, der den Verstand als Leinwand benutzt: Das, worüber man sich stundenlang den Kopf zerbrochen hat, läuft wie ein Film vor dem inneren Auge ab. Ich schrieb fast zwei Monate lang praktisch ohne Unterbrechung an meinem ersten Roman. Etwaige Einladungen und Termine sagte ich ohne Angabe von Gründen ab. Meine Wahrnehmung reduzierte sich auf das Mittelbare, die Wirklichkeit geschah auf dem Papier, das ich beschrieb. Realität war ein abstrakter Begriff. Was war in diesen beiden Monaten meine Realität? Ein jugendlicher Misfit, der in den Wahn verfällt, sich in ein Reptil zu verwandeln. Das wäre an sich eine eher komische, denn gefährliche Situation. Es bleibt jedoch nicht bei der Vorstellung der physischen Wandlung allein, vielmehr nimmt Ritchie Rieh, so nannte ich meinen Protagonisten, vermeintliche Gefühle und Denkmuster dieser Tiere an und überträgt sie in seine beschränkte Sicht der Realität. Ritchie ist groß und von schlanker Statur. Seine Augenfarbe ist natürlich grün, seine Haut rau und seine Finger lang und dünn. Je öfter er sich im Spiegel betrachtet, desto mehr gelangt er zu der Ansicht, dass seine Verwandlung voll im Gange ist.
Er vermummt sich völlig, setzt eine Sonnenbrille auf und zeigt sich beim Essen wählerisch. Er isoliert sich von seiner Umwelt und spricht nur noch, wenn er angesprochen wird. Es kommt, wie es kommen muss: Er isst rohes Fleisch und beginnt damit, sich auch innerlich abzukapseln. Menschen sind für ihn abscheuliche Kreaturen, die er hassen muss, um zu überleben. Und schließlich tötet er. Er flüchtet und versteckt sich. Da er äußerlich ja noch immer ein Mensch ist, fällt er nicht weiters auf, außer durch seine merkwürdige Kleidung. Menschliche Emotionen sind ihm völlig fremd, er ist kühl und unberechenbar, wie man es Reptilien nachsagt. Schließlich enden die Morde, denn Ritchie verlässt die Stadt.
Ein offenes Ende sozusagen. Ich war mit meinem Debutwerk, das ich 'Reptile' nannte, hochzufrieden. Es wurde publiziert und ungeachtet des Verrisses durch Literaturkritiker ein großer Erfolg. Ein Jahr später folgte der zweite Teil, 'Reptile II'. Dazwischen lag ein Jahr, in welchem ich zwei Drehbücher für Spielfilme verfasste.
Ich arbeitete also weiterhin ungebrochen mit Eifer. Vergangenes Jahr beschloss ich, am dritten Teil meiner 'Reptile'-Reihe zu arbeiten. Es sollte der letzte Teil werden, wobei ich noch unschlüssig war, ob Ritchie sterben oder überleben sollte. Ich wollte mich nicht festlegen, es sollte sich einfach so entwickeln, wie es sich ergab. Starb Ritchie, war das okay, überlebte er, auch okay. Doch ehe ich in die Welt des Hasses eintauchen konnte, geschahen beunruhigende Dinge. In Idaho wurde eine ältere Frau von unbekannten Tätern getötet. An sich nichts Ungewöhnliches in dieser Welt. Was für Aufsehen sorgte war, dass die Täter mit dem Blut ihres Opfers das Wort 'REPTILE' an eine Wand geschmiert hatten. Wenige Monate später wurde ein Mann, der seine Lebensgefährtin zu Tode geprügelt hatte, mit den Worten zitiert: 'Ich weiß, dass ich nichts Falsches gemacht habe, denn Ritchie Rieh hätte es genauso gemacht'. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass die Presse, selbst jene, die sich gern mit dem Titel seriös brüstet, beide Fälle unerbittlich auskostete. Ich stellte die Arbeit an meinen dritten Roman ein. Es dauerte nicht lange, da entstanden hitzige Fernsehdiskussionen rund um den 'Fall Ritchie Rieh'. Um dem Ganzen den richtigen Anstrich zu verpassen, wurde ich von ABC zu einer Talk-Show geladen. Naiverweise nahm ich an, ich könnte diese Sendung als Plattform zu meiner Verteidigung benutzen, obgleich ich es bis dato kategorisch abgelehnt hatte, Interviews zu geben oder im Fernsehen aufzutreten.
Ich dachte mir: 'He, was kann schon passieren. Denen zeigst du´s!
Tatsächlich zeigten sie es mir aber, denn ehe ich mich versah, war ich ins Kreuzfeuer sämtlicher Studiogäste geraten. Ein Psychologe, der sich anfangs auf meine Seite gestellt hatte, wechselte rasch die Fronten als er merkte, dass er sich dadurch profilieren konnte. Ich war versucht zu sagen: ‚He, Sie! Sie sollten mir doch Rückendeckung geben.’
Das alleine wäre ja noch zu ertragen gewesen, aber dann wurde ich systematisch in eine Ecke gedrängt, aus der ich nicht mehr entfliehen konnte. Es wurde ein Beitrag eingespielt, in welchem ein Zusammenhang zwischen Brutalität in Medien und real verübten Verbrechen hergestellt wurde. Überraschenderweise wurde festgestellt, dass viele Gewaltverbrecher Horrorfilme gesehen oder Bücher mit expliziten Gewaltdarstellungen gelesen hatten. Das war der Zeitpunkt, ab welchem ich merkte, dass dies ein Schauprozess war. Das Urteil hatte bereits vorher festgestanden.
Ich gab mich geschlagen und verkniff mir das Argument, dass man ebenso gut einen Zusammenhang zwischen Gewalt und der Dauer des täglichen Schlafes herstellen könnte, wenn man es darauf anlegte. Vollends am Ende meiner Kräfte war ich, als man mittels Satellitenschaltung eine Mutter, deren Sohn einen Schulkameraden verprügelt und wenig später Suizid begangen hatte, in das Gespräch einschaltete. Natürlich hatte ihr Sohn diese schrecklichen Bücher von Stephen King und mir gelesen, und natürlich musste er zwangsweise durchdrehen. Ich musste schwer schlucken, um nicht weinend aus dem Studio zu eilen.
Hätte ich zu der Dame sagen sollen: 'Wenn Sie sich mehr um Ihren Sohn gekümmert hätten, wäre das vielleicht nicht passiert'?
Ich erinnerte mich an die von Zeit zu Zeit aufkeimenden Diskussionen, ob Rockmusik Jugendliche zu Gewaltakten oder Selbstmorden animiert, ja, auffordert. Es ist nur all zu bequem, eigene Schuldgefühle durch das Verleumden anderer zu ersticken. Ich dankte dem Herrn für das Ende des Tribunals und floh aus dem Studio. Selbstverständlich hatte der Leiter der 'Diskussion' einen adretten Schlusssatz vom Stapel gelassen, welcher Autoren wie mich nicht direkter Schuld aussetzte, aber auch nicht freisprach. Der goldene Mittelweg also, ein bewährtes Konzept von Schlusssätzen.
Ich fuhr in mein Apartment und wünschte mir, ich wäre Alkoholiker. Eine innerliche Leere füllte mich völlig aus. Ich konnte nicht mehr klar denken, mir war übel, Tränen traten mir in die Augen. Und zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich tatsächlich unverhohlenen Hass. Diesmal war es kein Mittel zum Zwecke des Schreibens, denn diesmal entsprang dieser Hass den tiefsten Windungen meiner Seele.
Ich war unfähig, irgend etwas zu Papier zu bringen. Ich verließ tagelang mein Apartment nicht aus Furcht vor Anfeindungen oder gewalttätigen Übergriffen bezüglich meiner Person. Wahrscheinlich halten Sie mich jetzt für paranoid, aber es war nur eine logische Reaktion auf das, was an Unrecht geschehen war. Die Möglichkeit, in den Wahnsinn getrieben zu werden stand im Raum, als ich eines Morgens mein Gesicht im Spiegel betrachtete, welches reptilienhafte Züge aufwies. Selbstverständlich war das eine Illusion, hervorgerufen durch Übermüdung, aber es war ein kritischer Moment, den ich durchlebte.
Gott sei Dank schaffte ich es, soziale Integrität wiederzuerlangen. Ich wagte es wieder, mein Haus zu verlassen. Zu meiner Überraschung stieß sich niemand an meiner Person. Ich wurde auf Partys geladen und glaubte, das Problem abhaken zu können. Bei einer Premierenfeier geschah es jedoch, dass mir Frank einen jungen Nachwuchsschauspieler vorstellte, der ohne ersichtlichen Grund einen Angstschrei ausstieß und ein paar Schritte zurückwich. Nun, ich bin wahrlich kein Narziss, aber auch nicht so hässlich, dass man in meiner Gegenwart entsetzt aufschreien muss. Ich verließ überhastet den Empfang, denn ich wusste, was der Grund für das Benehmen des Schauspielers war. Ähnliches trug sich wenige Wochen später zu.
Seitdem wage ich mich nicht mehr ohne Verkleidung in die Öffentlichkeit. Ich sprach mit Nona darüber. Sie ist folgender Meinung: Beide hätten wir versucht, in den Verstand des Lesers einzudringen. Bei ihr war es nicht beabsichtigt gewesen. Durch Zufall hätte sie dies bewirkt. Nachdem mir klar geworden war, wie die Manipulation des Verstandes labiler Leser möglich war, hätte auch ich mich daran versucht, was vermutlich harmlos geendet hätte, wäre da nicht der Umstand, dass ich der begnadetere Schriftsteller von uns beiden sei. Vermeinte ich, in Rachel Crystal Berenice zu erkennen, so glauben manche Leser meiner ‚Reptile'-Bücher, ich sei Ritchie Rieh. Es ist schwer zu erklären, wie es zu einer Vermischung des Autors mit der Romanfigur kommen kann, aber Tatsache ist, dass es möglich scheint.
Das war meine Geschichte, so ich sie zu erzählen vermag."
Thorpe schaltete das Tonband ab. "Das ist in der Tat sehr ... merkwürdig. Ich denke, ich werde mir das Band in Ruhe noch mal zu Gemüte führen. Was würden Sie zu einer Stunde wöchentlich sagen?"
"Ich würde sagen, okay", antwortete Dave und richtete sich auf.
Der Psychiater erhob sich ebenfalls. "Ehe Sie gehen, dürfte ich Ihre-"
"Sie wollen meine wahre Gestalt sehen, richtig?", stellte Dave fest.
"Nun, wenn Sie keine Einwände dagegen haben", sagte sein Gegenüber vorsichtig.
„Absolut nicht. Sie haben ja mit Sicherheit keinen der beiden 'Reptile'-Romane gelesen.“
Dave entblößte sein Gesicht, nur die Sonnenbrille behielt er auf.
"Sie sehen-", sagte Thorpe und hielt inne.
"-normal aus. Ja, ich weiß. Aber versprechen Sie mir zweierlei, auch zu Ihrem Besten: Verraten Sie niemandem, dass ich Ihr Patient bin. Und-"
Dave stülpte die Kapuze wieder über das blasse Gesicht. "Und lassen Sie die Finger von meinen Romanen. Es könnte Sie in den Wahnsinn treiben."
Thorpe nickte heftig. "Das werde ich tun."
"Danke"
Die Männer schüttelten ihre Hände und Dave machte sich davon, nachdem man sich auf Dienstag als nächsten Termin geeinigt hatte.
Es war kurz vor siebzehn Uhr. Thorpe hatte an diesem Tag keinen Termin mehr.
Konnte es tatsächlich der Wahrheit entsprechen, nach der Lektüre eines Buches dem Wahnsinn anheim zu fallen? Thorpe beantwortete diese Frage mit einem entschiedenen 'Nein' und verließ seine Praxis. Auf dem kurzen Weg nach Hause wollte er noch in eine Buchhandlung gehen.

 
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hallo Rainer

Na da hast du uns aber eine lange Geschichte gegeben. Die mir im übrigen sehr gefiehl. :thumbsup:
Hast es sehr gut geschaft mich an die Storie zufesseln. Und bis auf ein paar Satzungetüme die bei dir seltsamerweise nicht stören war es gut. :huldig:

Thorpe starrte Mulligan an, der es verstand seine Zuhörer in den Bann zu ziehen.
also das muss du uns nicht erst sagen, kannste streichen

zitat:
2ugeben

->Zugeben

'Seelenlandschaft1
'Insanity II1

zweimal das geleiche -> '

Ach ja du hast noch ein paar absätze mit drinnen die ich nicht rein gehören.

Zum Ende, na wenn er wirklich eins gewesen wäre, hätteste echt enttäucht :D

gruß
plattfuss

 

Lieber Rainer!

Deine Geschichte hat mich gestern in der Badewanne so gefesselt, daß ich nun Schwimmhäute habe – sie ließ mich nicht aus dem Wasser, bevor ich fertiggelesen hatte.
Scheinst Dir tiefgehende Gedanken gemacht zu haben, zum Thema »Verwechslung von Autor und Protagonist«, oder ob Gewalt in Geschichten/Filmen reale Gewalt erzeugen kann – aber natürlich nicht nur, es stecken noch einige andere Themen in Deiner Geschichte, die Du aber alle nur kurz anschneidest.
Insgesamt finde ich die Geschichte gut und spannend erzählt, aber irgendwie fehlt mir trotzdem was. Ich weiß nicht was. Der Biss, vielleicht. Entweder ist das Ende zu unspektakulär oder zu wenig erkenntnisfordernd oder :confused:. Der Protagonist kommt, erzählt seine wirklich spannend zu lesende, außergewöhnliche Geschichte, die keineswegs wenig an guten Einfällen zu bieten hat (wie z.B. das mit der Death-Metal-Platte), dann geht er wieder und der Therapeut wird sich vermutlich sein Buch kaufen, weil er es ganz genau wissen möchte. Hm.
Vielleicht ist aber auch der Schwenk am Schluß zur Gewaltdiskussion zu viel. Ich denke, die Verwechslung von Autor und Protagonist hätte als Hauptthema genügt, und ließe sich bestimmt auch zu einem schönen Schluß bringen. Dem Gewaltthema würd ich dann eine eigene Geschichte geben… Aber das ist nur so ein Gedanke.
Was aber jetzt nicht etwa heißen soll, die Geschichte hätte mir nicht gefallen, nur der Schluß sagt mir nicht so ganz zu. In den Details ist sie wirklich ausgereift. :)

Dann hab ich noch den üblichen Kleinkram:

»"Selbstverständlich werde ich es streng vertraulich behandeln". bemühte sich Thorpe rasch hinzuzufügen.«
– behandeln“, bemühte

»Aus der Kapuze drang ein hohles Lachen.«
– ich finde es an dieser Stelle schon ein bisschen spät, um die Kapuze zu erwähnen, mußte mir dadurch nachträglich mein Bild umbauen

»Letzteres Es gab Zeiten, da dachte ich, ich würde ausrasten - nicht nur psychisch.«
– »Letzteres« ist irgendwie zuviel

»Meistens konnte ich nicht einmal meine Hausaufgaben erledigen, geschweige denn Zeit für Lernen aufbringen.«
– fürs Lernen

»Die Schule ließ Ich völlig links liegen, denn ich hatte längst begriffen,«
ich

»Und ab und zu sah ich getrocknetes Blut auf dem Asphalt oder an den
Gebäudemauern.«
– falscher Zeilenumbruch

»Mit 15 schmiss ich die Schule,«
– Zahlen wären eigentlich schöner ausgeschrieben

»Ich dachte: 'Dave, das ist bescheuert! Man wird uns nicht für den Film entdecken. Kein Aas wird sich einen Dreck um euch kümmern.'«
– um uns kümmern

»Ich warf meinen Geschwistern einen kurzen Abschiedgruß zu, riss mit von meiner Mutter los«
– Abschiedsgruß … mich

»so, als erwartete er, dass man interessiert mit den Ohren an seinen Lippen hing, wenn er sprach.«
– würde hier schreiben »mit Augen und Ohren an seinen Lippen hing« ;)

»Der Preis für ein Einzelzimmer war fair, und obwohl wir
zu zweit waren, verrechnete er den normalen Preis.«
– falscher Zeilenumbruch

»Es sind immer Jobs übrig, egal wo, und ich spiele damit nicht auf die lukrativen Halbtagsjobs Schuhe wienern oder Porträts beschränkter europäischer Touristen anzufertigen an.«
– würde nach »Halbtagsjobs« und »anzufertigen« je einen Beistrich setzen, bzw. würde ich auch das »an« gleich zu den Halbtagsjobs geben und ein »wie« einfügen: »auf die lukrativen Halbtagsjobs an, wie Schuhe wienern …«

»ich erbrach saure Flüssigkeit in meinen Rachen, musste diese aber wieder runterschlucken.«
– »hinunterschlucken« fände ich schöner, insbesondere deswegen, weil jeder zweite nur mehr dieses Schrumpfdeutsch verwendet

»Verantwortlich hierfür war ein Typ, der sich in seiner Intimsphäre gestört gefühlt hatten.«
– hatte

»"Auf die Idee würde ich niemals kommen.", gab Thorpe amüsiert zurück«
– kommen“, gab

»2ugeben würde dies keiner, aber in den meisten Fällen ist es so.«
– sieht echt täuschend ähnlich aus, das falsche Z :D

»Nie zuvor war mir ähnliches widerfahren- Nona, ich meine Miss Crystal,«
Ähnliches widerfahren (Leertaste) - Nona

»"Und wie ging das von sich?", wollte Thorpe wissen.«
– vor sich

»Sie war damals etwa Anfang zwanzig, also in etwa meinem Alter. Bereits mit siebzehn hatte man ihren ersten Roman veröffentlicht.«
– zweimal »etwa«
– »Bereits mit siebzehn hatte man« klingt mir irgendwie falsch in den Ohren, würde entweder »…hatte sie ihren ersten…« schreiben, oder »Bereits als sie siebzehn war, hatte man …«

»Grat war die Sache peinlich und er stelle mir mit dem letzten Rest Würde, den ich mir gelassen hatte,«
– stellte

»Bitte verzeihen Sie Dave, so etwas ist noch nie vorgekommen,«
– verzeihen Sie, Dave, …

»Ich mache ihm keinen Vorwurf, denn Frank musste aus finanziellen Gründen ein Interesse«
– machte (würd ich meinen)

»ich sei der Einzige ihr bekannte Mensch, der 'Seelenlandschaft1 gelesen und verstanden hätte.«
– der einzige ihr bekannte Mensch, der 'Seelenlandschaft'

»Das einzig zusammenhängende, das er schreiben konnte, war sein Autogramm,«
– Das einzig Zusammenhängende

»Peanuts-Comics«
– bist Du Dir sicher mit den beiden s hinten?

»Ich nahm mir besagtes Zitat aus 'Insanity II1 zu meinem Vorbild.«
– 'Insanity II'

»Nie war ich bereit gewesen einzugestehen, dass ich Abscheu den meisten Menschen gegenüber empfand.«
– bereit gewesen, mir einzugestehen

»Ich wusste, dass mich jene, die mich dämlich grinsend auf bescheuerte Filmpartys einluden, mich auf der Straße keines Blickes für würdig empfinden würden, wenn meine Kreativität, meine Phantasie vollends erschöpft sein sollte.«
– das »mich« zwischen »dass« und »jene« ist zuviel:
Ich wusste, dass jene, die mich dämlich grinsend auf bescheuerte Filmpartys einluden, mich auf der Straße keines Blickes für würdig empfinden würden, wenn meine Kreativität, meine Phantasie vollends erschöpft sein sollte.

»Ich dachte mir: 'He, was kann schon passieren. Denen zeigst du´s!.«
– du´s!'

»Es wurde ein Beitrag eingespielt, in welchem ein Zusammenhang zwischen Brutalität in Medien und real verübter Verbrechen hergestellt wurde.«
– real verübten Verbrechen

»Ich musste schwer schlucken, um nicht weinend aus dem Studio zu eilen.«
– hier ist einmal »eilen« und etwas später kommt noch »Ich verließ eilends den Empfang,« – vielleicht findest Du ja einmal ein Synonym


Liebe Grüße,
Susi :)

 

Dank euch fürs Lesen und Kommentieren. Es ist schön, wenn man einen eigenen Lektor hat. :D
Zur Intention der Story: Ich glaube, jeder der schreibt - ob nun professionell wie Stephen King oder hobbymäßig wie meiner einer - stellt sich zwangsläufig die Frage, wie tief der Autor in seine fiktiven Charaktere eindringt. Ja, und wer hätte sich noch nicht gewünscht, Charaktere zu schaffen, die den Leser auch nach dem Zuklappen des Buches nicht loslassen?
Was das Ende betrifft, bin/war ich auch unsicher. Nicht jede Geschichte muss eine Schlusspointe haben, und diesesmal habe ich mich für ein stilles, unspektakuläres Ende entschieden, wie auch die gesamte Story sicher nicht "fesselnd" ist.
Falls sie keine völlige Zeitverschwendung war, bin ich schon recht zufrieden. :)

 

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